Thomas Müller, Rostock

Abb. 1. Verfügbare Fertigarzneimittelnamen in Deutschland, 1990 versus 2001, in ausgewählten Indikationen (ohne pflanzliche und homöopathische Arzneimittel, unterschiedliche Packungsgrößen nicht gezählt) [36, 37]
Die Vielfalt der therapeutisch verfügbaren Arzneimittel hat in den letzten Jahrzehnten erheblich zugenommen. In einigen Indikationen ist die Pharmakotherapie durch neue Wirkstoffe überhaupt erst möglich geworden. Das konkurrierende Angebot der Arzneimittelhersteller mit zahlreichen gleichen oder ähnlichen Präparaten hat die Pharmakotherapie allerdings auch unübersichtlicher werden lassen (Abb. 1). Ärzte, Apotheker und Pflegekräfte müssen aus einer verwirrenden Fülle von Arzneimitteln, Indikationen und Therapieempfehlungen das Richtige auswählen. Die Medikation gliedert sich in eine komplexe Folge aus Informationsgewinnung und -weitergabe, Entscheidungen und Handlungen mit zahlreichen beteiligten Personen und häufigen Medienbrüchen. Fehler in diesem Prozess sind keine Seltenheit, wenn auch exakte Inzidenzen aufgrund methodischer Probleme schwer zu beziffern sind [46]. Öffentliches und politisches Interesse erlangen Fehler in der Arzneimitteltherapie meist dann, wenn Patienten unerwartet und schwerwiegend geschädigt werden, zum Beispiel im Fall von Vincristin-Fehlinjektionen. In jüngster Zeit hat die Cerivastatin-Marktrücknahme die Aufmerksamkeit auf die (teilweise) Nichtberücksichtigung von Kontraindikationen und Dosierungsrichtlinien gelenkt. In den USA, in Großbritannien und in Kanada wurde das Problem des Medikationsfehlers nach einigen aufsehenerregenden Berichten stärker beachtet [2, 5, 15, 22, 25, 26, 32]. Nationale Projekte wurden initiiert (2000 in den USA [12], 2001 in Großbritannien [47, 48] und Kanada [23]), die eine Reduktion der Fehlerraten um mindestens 40 % anstreben, typische Wiederholungsfehler wie intrathekale Fehlinjektionen sollen vollständig eliminiert werden.
Definitionen
Der Kunstfehler in der Arzneimitteltherapie oder Medikationsfehler ist ein nach dem Stand der Medizin vermeidbares, unbeabsichtigtes und unerwünschtes Ereignis in Zusammenhang mit einer Arzneimitteltherapie, das dem Patienten tatsächlich oder potentiell Schaden zufügt. Abzugrenzen sind das nicht-vermeidbare unerwünschte Arzneimittel-Ereignis, der Unterlassungsfehler und der Compliance-Fehler. Einige Definitionen sind in Tabelle 1 zusammengestellt.
Umgang mit Fehlern im Gesundheitswesen
Die in anderen qualitäts- und sicherheitssensiblen Bereichen wie der zivilen Luftfahrt oder der Nukleartechnik etablierten Strategien zur Fehlervermeidung haben sich im Gesundheitswesen noch nicht durchgesetzt [40, 43]. Fehler und Beinahe-Fehler werden selten dokumentiert. Intern verliert das Gesundheitswesen damit allerdings den wertvollsten Motor im Qualitätsprozess, nämlich das Lernen aus Fehlern [34, 38]. Medikationsfehler ohne schwerwiegende Folgen für den Patienten bleiben meist undokumentiert und werden ignoriert, gravierende Fehler dagegen oft mit individuellem Versagen erklärt, ohne das Qualitätsmanagement der gesamten Einrichtung zu kritisieren und zu optimieren. Erfahrungen aus der Qualitätssteuerung industrieller Prozesse zeigen, dass der systematische Faktor bei der Fehlervermeidung eine unvergleichlich wichtigere Rolle spielt als der individuelle [43]. Anders ausgedrückt (wie das Institute of Medicine der USA seinen vielbeachteten Bericht nannte): Irren ist menschlich („To err is human)“ [22], die Sicherheit muss in das System eingebaut werden und den menschlichen Fehler einkalkulieren.
Im vorliegenden Beitrag werden, nach kurzer Darstellung der Studienlage, typische Fehler im Medikationsprozess an Fallbeispielen analysiert und erfolgreiche Präventionsstrategien beschrieben.
Epidemiologie
Die exakte Erfassung und Bewertung vermeidbarer, unerwünschter Arzneimittelereignisse ist schwierig. Dies liegt einerseits im subjektiven Begriff „Vermeidbarkeit“, die offensichtlich ist bei der Verwechslung zweier Spritzen, aber bereits bei der Bewertung von relativen Kontraindikationen kaum zu objektivieren [19]. Andererseits sind Fehler im Gesundheitswesen als Thema noch weitgehend tabu und werden nur selten veröffentlicht. Einzelfallberichte geben Aufschluss über typische Fehlermechanismen, können aber keine Aussage zur Inzidenz und damit zur Relevanz machen.
Die bisher durchgeführten Studien nutzten verschiedene Strategien, um diese Problematik zu meistern:
- Retrospektive Beurteilung der Kausalität von unerwünschten Ereignissen durch unabhängige Gutachter
- Begleitende unabhängige Beobachtung des gesamten Medikationsprozesses
- Auswertung bestimmter Signalereignisse, zum Beispiel schwerwiegende Ereignisse wie intrathekale Fehlinjektionen
Tabelle 2 fasst die Ergebnisse jüngst publizierter Studien mit Aussagen zu Medikationsfehlern zusammen. Aufgrund unterschiedlicher Bezugsgrößen sind die Studienergebnisse nur begrenzt miteinander vergleichbar, dennoch erscheinen die gefundenen Werte eindeutig zu hoch: Übereinstimmend eine Rate um 5 % für Medikationsfehler insgesamt sowie 0,014 bis 0,049 % für schwerwiegende Medikationsfehler. Damit sind Medikationsfehler insgesamt ein „häufiges“, schwerwiegende Medikationsfehler immerhin ein „seltenes Ereignis“ bei der Arzneimitteltherapie nach der Nomenklatur des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte.
Die Studien belegen, dass Medikationsfehler ein Qualitätsproblem der Medizin sind. Die Ergebnisse lassen sich vermutlich tendenziell auf deutsche Verhältnisse übertragen, für Deutschland liegen aussagefähige epidemiologische Studien zu Medikationsfehlern jedoch noch nicht vor. Obwohl der Arzneimittelverbrauch in Deutschland quantitativ über die gesetzlichen Krankenkassen und Apothekenverrechnungsstellen gut dokumentiert ist, fehlt noch eine diagnose- und patientenbezogene Verknüpfung dieser Verbrauchsdaten. Daten der Haftpflichtversicherer sowie der Schlichtungs- und Gutachterstellen der Ärztekammern konnten bisher noch nicht zu Studienzwecken ausgewertet werden.
Fehlerursachen und Fallbeispiele
Fehler sind prinzipiell auf jeder Stufe der Arzneimitteltherapie möglich und beeinflussen, sofern sie nicht bemerkt und korrigiert werden, schließlich die Applikation des Arzneimittels am Patienten.
Informationsgewinnung: Patient, Diagnose und Arzneimittel
Grundlage für die Auswahl einer rationalen Pharmakotherapie sind Kenntnisse über den Patienten (Begleiterkrankungen, Komedikation, Unverträglichkeiten, in Zukunft auch Pharmakogenetik [29]), die Diagnose (geeignete Wirkstoffe, aktuelle Evidenz-basierte Therapieempfehlungen) sowie die in Frage kommenden Arzneimittel (Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten, Kontraindikationen). Der Arzt ist hier auf eine möglichst vollständige, aktuelle und fehlerfreie Informationsvermittlung angewiesen.
Fallbeispiel 1: Nichtbeachtung der bestehenden Medikation
Ein Patient erhielt zur Thromboseprophylaxe ein niedermolekulares Heparin. Er wurde mit Anzeichen eines Myokardinfarkts in eine Notfalleinheit aufgenommen und erhielt zusätzlich Acetylsalicylsäure, Heparin intravenös und ein Fibrinolytikum. Er verstarb kurz darauf an einer intrakraniellen Blutung [39]. Niedermolekulare Heparine, häufig von ambulanten Pflegediensten, von Angehörigen oder vom Patienten selbst appliziert und teilweise als Dauermedikation verordnet, werden bei der Arzneimittelanamnese, besonders bei einer notfallmäßigen Aufnahme, leicht übersehen.
Auswahl und Rezeptieren des Arzneimittels
Die Entscheidung für eine Pharmakotherapie sollte nach rationalen Kriterien erfolgen. Dazu ist die Kenntnis aktueller Studien und Richtlinien notwendig, andererseits spielen auch individuelle Therapieerfahrungen des verordnenden Arztes eine Rolle. Beachtet werden müssen darüber hinaus Verfügbarkeit und Kosten des Arzneimittels. Ist die Entscheidung für ein bestimmtes Arzneimittel gefallen, muss dieses in eindeutiger Weise rezeptiert und an das Pflegepersonal oder das Apothekenpersonal übermittelt werden. Hierbei sind zahlreiche Übertragungsfehler möglich, die teilweise zu folgenreichen Verwechslungen führen. Mitursache ist dabei auch die immer phantasievollere und verwechslungsträchtige Namensgebung der pharmazeutischen Hersteller. Auch missverständliche Dosierungsangaben sind häufig Ursache von Medikationsfehlern, speziell bei ungewöhnlichen Dosierungen (bei Säuglingen, Niereninsuffizienz).
Fallbeispiel 2: Schreibfehler bei der Dosierung
Ein Frühgeborenes erhielt 1 mg/kg Pancuronium anstelle von 0,1 mg/kg und musste daraufhin zwei Tage künstlich beatmet werden [11].
Fallbeispiel 3: Falsche Interpretation einer Dosierungsanweisung
Eine Patientin erhielt aufgrund des Therapieschemas „Cyclophosphamid d 1–4 1 g/m2 Körperoberfläche“ täglich 4 g/m2 über vier Tage und nicht 1 g/m2 pro Tag, sie verstarb an den Nebenwirkungen der Überdosierung [1].
Fallbeispiel 4: Nichtbeachtung von Kontraindikationen und Wechselwirkungen
Der Vergleich von Arzneimittelverbrauchsdaten und Operationsstatistiken legt den Verdacht nahe, dass Estrogene als Hormonersatz-Monotherapie auch bei nicht-hysterektomierten Frauen eingesetzt werden. Diese Therapie ist aufgrund des deutlich erhöhten Karzinomrisikos kontraindiziert und damit praktisch ein ärztlicher Kunstfehler [21].
Der jetzt vom Markt genommene Lipidsenker Cerivastatin wurde relativ häufig gemeinsam mit dem Fibrat Gemfibrozil eingesetzt, trotz eindeutiger Warnungen in der Fachinformation und in der Packungsbeilage [24].
Lagerung und Zubereitung des Arzneimittels
Arzneimittel sind anspruchsvolle Waren, die eine hohe Sachkenntnis für den richtigen Umgang erfordern. Lagerungs- und Zubereitungshinweise müssen gerade für teure, gentechnisch produzierte Arzneimittel exakt eingehalten werden, um die volle Wirksamkeit über die gesamte Laufzeit zu garantieren. Spezielle Kenntnisse sind erforderlich zur Beurteilung der physikalisch-chemischen Kompatibilität der Arzneimittel untereinander. Bei Unkenntnis der Kompatibilität können zum Beispiel aufwendig implantierte Portsysteme verstopfen und müssen gewechselt werden. Hygienische und arbeitsmedizinische Vorschriften müssen bekannt sein und bei der Zubereitung beachtet werden.
Fallbeispiel 5: Hygienefehler
Eine radiologische Krankenhausambulanz setzte Röntgenkontrastmittel zur Wirbelsäulendiagnostik über mehrere (bis zu acht) Tage als Anbruch ein. Das Röntgenkontrastmittel war nicht zur Mehrfachentnahme bestimmt und daher nicht konserviert. Aseptische Arbeitsbedingungen wurden nicht eingehalten. Zwei Patienten verstarben an einer bakteriellen Meningitis, die aufgrund der Kontamination des Röntgenkontrastmittels mit Pseudomonas aeruginosa verursacht wurde. Zahlreiche weitere behandelte Patienten mussten zur vorsorglichen Diagnostik telefonisch informiert und ins Krankenhaus einbestellt werden [49].
Fallbeispiel 6: Verwechslung bei der Zubereitung
Bei der Zubereitung von Mischlösungen zur totalen parenteralen Ernährung wurden die Flaschen mit den Konzentraten Glucose und Calciumchlorid verwechselt. Erwachsene Patienten überlebten die Verwechslung, zwei Säuglinge verstarben an schweren hypoglykämischen Hirnschäden [10, 17].
Bereitstellung des Arzneimittels für den Patienten
Die Arzneimittel werden im Krankenhaus in der Regel vom Pflegepersonal tagesbezogen bereitgestellt, teilweise werden Infusionen und Ernährungslösungen auch bereits patientenindividuell zubereitet von der Krankenhausapotheke geliefert. Sowohl bei der Auswahl des Arzneimittels als auch bei der Beschriftung von Pillentabletts oder Infusionen sind folgenschwere Irrtümer möglich. Die meisten Tabletten oder Kapseln sind nur mit Spezialkenntnissen zu identifizieren und können nach Auseinzelung aus der Originalpackung nicht mehr erkannt werden.
Fallbeispiel 7: Falsche Interpretation einer Arzneimittelbeschriftung
Eine Krankenschwester sollte von einer Nachbarstation Tabletten für eine neu aufgenommene Patientin besorgen und brachte eine kleine Dose mit vier Tabletten zu je 100 mg, beschriftet mit „Arzneimittel X, 100 mg“ mit. Später interpretierte eine andere Pflegekraft die Aufschrift auf der Dose so, dass die vier Tabletten gemeinsam 100 mg ergeben und verabreichte vier Tabletten auf einmal, mit schwerwiegenden Nebenwirkungen [11].
Fallbeispiel 8: Verwechslung von Tabletten
Ein Patient erhielt aufgrund einer Verwechslung der Nachtschwester bei der Füllung der Medikamententabletts Furosemid-Tabletten anstelle seiner eigenen Medikation. Die Verwechslung fiel auf, als der Patient bei der Visite über ungewöhnlichen Harndrang berichtete. Typischer Fall eines häufigen Fehlers bei der Arzneimitteltherapie, der in den meisten Fällen harmlos oder nur unangenehm für den Patienten ist, manchmal aber auch schwerwiegende Folgen haben kann.
Applikation des Arzneimittels
Die Applikation des Arzneimittels ist der letzte und unumkehrbare Schritt der Arzneimitteltherapie. Die Verwechslung von Körperöffnungen bei der Applikation von nichtparenteralen Arzneimitteln liefert Stoff für skurrile Medizinanekdoten und ist ansonsten meist harmlos. Fehler bei der parenteralen Applikation haben dagegen immer ein hohes Gefährdungspotential.
Fallbeispiel 9: Intrathekale Fehlinjektion
Die versehentliche intrathekale Applikation von Vincristin oder anderen Zytostatika ist leider ein Klassiker unter den schwerwiegenden Medikationsfehlern. Obwohl seit Jahrzehnten bekannt, ereignen sich intrathekale Fehlinjektionen mit großer Regelmäßigkeit, der letzte (bekannt gewordene) Fall in Deutschland im April 2000 [41], in Großbritannien Anfang 2001 [4, 16]. Für Großbritannien wurde für den Zeitraum 1985 bis 2000 eine praktisch konstante Inzidenz von 3 pro 100 000 intrathekalen Chemotherapien errechnet (etwa ein gestorbener Patient pro Jahr). Intrathekal appliziertes Vincristin ist trotz sofortiger Gegenmaßnahmen fast stets letal (in 85 % der dokumentierten Fälle), überlebende Patienten haben schwere neurologische Defizite [8]. In einem anderen Fall wurde rotgefärbtes Daunorubicin anstelle von farblosem Cytarabin intrathekal injiziert, der Patient verstarb [12].
Fallbeispiel 10: Bolusgabe eines Depotarzneimittels
Eine Krankenschwester bereitete eine Spritze mit einem Opiat zur Nachfüllung eines Schmerzmitteldepots vor und beschriftete diese mit Arzneistoffname, -menge und Patientenname. Der applizierende Arzt spritzte die Gesamtdosis in Unkenntnis des Depots intravenös, der Patient musste mit Opiat-Antagonisten behandelt und künstlich beatmet werden [11].
Dokumentation der Applikation und der aufgetretenen unerwünschten Wirkungen
Die exakte Dokumentation aller Arzneimitteltherapie-relevanten Informationen ist die Voraussetzung, um spätere unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu vermeiden. In der Praxis sind häufig unpräzise Angaben über eventuelle Arzneimittelallergien sowie eine unvollständige Dokumentation der Arzneimittelanamnese Ursache für spätere Medikationsfehler.
Strategien zur Prävention von Medikationsfehlern
Entscheidend für den Erfolg jeder Fehlerprävention im Gesundheitswesen ist ein offenes Arbeitsklima, das auftretende Fehler nicht nur ausschließlich mit Schuldzuweisung und Disziplinierung ahndet, sondern Lernprozesse zulässt und fördert [43, 45]. Die Diskussion und Dokumentation von Fehlern und Beinahe-Fehlern muss von der Leitungsebene im Krankenhaus gefördert werden, damit alle Teammitglieder von Fehlererfahrungen profitieren und die eigene Arbeitspraxis kritisch überdenken können.
Meldesysteme
Meldesysteme für Medikationsfehler können in Kombination mit einer geeigneten Informationsweitergabe den Blick für bestimmte, für Medikationsfehler anfällige Arzneimittel und Prozeduren schärfen. Die gewonnenen Daten bilden die Grundlage für zielgerichtete Maßnahmen. Vorbildlich scheint das von der Redaktion des Arzneibuchs der USA (United States Pharmacopeia, USP) betreute Meldesystem mit ständiger Erreichbarkeit per Telefon, Fax und Internet, wahlweise auch anonym [38].
Information, Ausbildung und Schulung
Schwerwiegende Medikationsfehler sind durchaus Wirkstoff- und Prozeduren-spezifische Risiken der Arzneimitteltherapie. Entsprechende Warnungen und Hinweise sollten daher in Lehrbücher, Vorlesungsstoff und Fachinformationen aufgenommen werden. Die Fachinformationen der Hersteller enthalten Hinweise auf mögliche Irrtümer nur in Ausnahmefällen.
Fokussierung auf risikoreiche Wirkstoffgruppen und Prozeduren
Prinzipiell dieselben Fehler im Medikationsprozess können je nach Arzneimittelwirkstoff unterschiedlich schwerwiegende Folgen für den Patienten haben. Das Verwechseln von zwei Spritzen ist im günstigen Fall für den Patienten nicht zu bemerken oder nur lästig (zum Beispiel bei Furosemid), im ungünstigsten Fall aber letal (zum Beispiel bei Vincristin). Das gleiche gilt für therapeutische Prozeduren in Zusammenhang mit der Arzneimitteltherapie. Es ist daher wichtig, die risikoreichen Wirkstoffe und Prozeduren zu kennen, um zielgerichtet geeignete Strategien zur Fehlervermeidung einsetzen zu können (Tab. 3).
Design von Arzneimitteln, Namensgebung
Zur Vermeidung von Verwechslungen wird seit längerem eine einheitliche, visuell und maschinell lesbare Kodierung von Arzneimittelverpackungen gefordert. Verwechslungsträchtige Fertigarzneimittel-Namen sollten bereits durch die Zulassungsbehörde verhindert werden, allerdings bei monatlich rund 200 Anträgen auf Zulassung in Deutschland eine schwierige Aufgabe.
Standardisierung in der Arzneimitteltherapie
Die Standardisierung im Sinne einer Good-Clinical-Practice, mit detaillierter Angabe von Arbeitsschritten, eingesetzten Materialien und verantwortlichen Personen (standardized operating procedures, SOP) kann kritische Prozeduren wie die Applikation riskanter Arzneimittel erheblich entschärfen. Von großer Bedeutung ist, dass SOPs gleichermaßen von allen Beteiligten (unabhängig von der Hierarchie) akzeptiert und befolgt werden und Abweichungen für jeden transparent dokumentiert werden.
EDV-Unterstützung
Die Informationsmengen, die bei der Planung und Durchführung einer Arzneimitteltherapie anfallen, können ohne Unterstützung automatischer Systeme nicht mehr verarbeitet werden [6]. Bereits heute nutzen Ärzte und Apotheker routinemäßig Datenbanken zur Informationsgewinnung über Arzneimittel. Was dagegen wenigstens in Deutschland fast vollständig fehlt, ist die Verknüpfung dieser Arzneimittel-bezogenen Daten mit Patienten-individuellen Daten, also eine automatisierte Interaktions- und Kontraindikationsprüfung während der Therapie. Voraussetzung ist die elektronische Patientenakte mit Therapie- und Labordaten [18]. Erfahrungen mit diesen pharmakologischen Expertensystemen, die auch während der Visite mitgeführt werden können, sind sehr positiv [3, 31, 33]. Von Qualitätsexperten aus der Industrie empfohlen, aber von der Realität im Gesundheitswesen (zurzeit) noch weit entfernt, ist die medienbruchlose Verfolgung und Dokumentation des gesamten Applikationswegs eines Arzneimittels mit einem Barcode. Inwieweit hier Aufwand und Nutzen im Verhältnis stehen, und ob sich die Bedingungen der Automobil-Fertigung auf ein Krankenhaus übertragen lassen, ist allerdings noch ungeklärt.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit
Bei komplexen Arzneimitteltherapien sollten spezialisierte Berufsgruppen wie klinische Pharmazeuten und Pharmakologen eng in den Therapieprozess integriert werden [30]. Ein Beispiel für den Erfolg dieses interdisziplinären Ansatzes in der Pharmakotherapie ist die bereits etablierte Zubereitung und Überwachung der Chemotherapie durch Krankenhausapotheker [1, 14]. Modellprojekte zeigen die hohe, auch ökonomische Effektivität des Einsatzes von Apothekern auf Intensivstationen [27, 28].
Fazit
Studien und Einzelfallberichte belegen, dass Medikationsfehler ein bedeutender qualitätsbeeinträchtigender Faktor im Gesundheitswesen sind, der in Deutschland noch nicht ausreichend Beachtung findet. Allein die regelmäßigen intrathekalen Fehlinjektionen sollten Anlass sein, in Zukunft größere Anstrengungen zur Vermeidung von Medikationsfehlern zu unternehmen. Keine noch so ausgeklügelte Qualitätsstrategie wird dem Handelnden in der Medizin seine Verantwortung nehmen können. Geeignete organisatorische Maßnahmen könnten die Fehlerraten aber erheblich reduzieren.
Literatur
1. Ahlke E, Barth J, Freidank A, Lipp HP, et al. Zytostatika-Wirkstoffe mit geringer therapeutischer Breite. Dtsch Apoth Ztg 2000;140: 3712-6.
2. Alberti KGMM. Medical errors: a common problem. BMJ 2000;322:501-2.
3. Bates DW: Using information technology to reduce rates of medication errors in hospitals. BMJ 2000;320:788-91.
4. Berwick DM. Not again! BMJ 2000;322:
247-8.
5. Brennan TA, Leape LL, et al. Incidence of adverse events and negligence in hospitalized patients. Results of the Harvard medical practice study I. N Engl J Med 1991;324:
370-6.
6. Classen DC. Clinical decision support systems to improve clinical practice and quality of
care. JAMA 1998;280:1360-1.
7. Dean B, Barber N, Schachter M, Vincent C. Prescribing errors in hospital inpatients: why do they occur? Pharm J 2000;265:R17.
8. Dettmeyer R, Driever F, Becker A, Wiestler OD, et al. Fatal myeloencephalopathy due to accidental intrathecal vincristin administration: a report of two cases. Forensic Sci Int 2001;122:60-4.
9. Edwards R, Aronson JK. Adverse drug reactions: definitions, diagnosis, and management. Lancet 2000;356:1255-9.
10. Fataler Fehler in der Apotheke. Berner Zeitung, 29. Dezember 2000.
11. Ferner RE, Aronson JK. Errors in prescribing, preparing, and giving medicines – definitions,
classification, and prevention. In: Aronson JK (ed.). Side effects of drugs, annual 22. A worldwide yearly survey of new data and trends. Amsterdam: Elsevier, 1999: xxii-xxxvi.
12. Ferner RE. Medication errors that have led to manslaughter charges. BMJ 2000;321:
1212-6.
13. Final summary of Food and Drug Administration (FDA) action items – doing what counts for patient safety: federal actions to reduce medical errors and their impact. FDA 2001.
14. Goldspiel BR, Dechristoforo R, Daniels CE. A continuous approach for reducing the number of chemotherapy-related medication errors. Am J Health-Syst Pharm 2000;57:S4-9.
15. Hayward RA, Hofer TP. Estimating hospital deaths due to medical error. JAMA 2001;286:415-20.
16. Inquiry into cancer drug tragedy. BBC News Online, 24. Januar 2001.
17. Inselspital – Stress als Fehlerquelle. Berner Zeitung, 11. Januar 2001.
18. Jha AK, Kuperman GJ, Teich JM, et al. Identifying adverse drug events. J Am Med Inform Ass 1998;5:305-14.
19. Kaufman DW, Shapiro S. Epidemiological assessment of drug-induced disease. Lancet 2000;356:1339-43.
20. Kaushal R, Bates D, et al. Medication errors and adverse drug events in pediatric inpatients. JAMA 2001;285:2114-20.
21. Koch K. Hormonersatz-Therapie – Rechnung mit Unbekannten. Dt Ärztebl 2000;97:
A2145-6.
22. Kohn LT, Corrigan JM, Donaldson MS. To err is human: Building a safer health system. Washington DC: National Academy Press, 2000.
23. Kondro W. Canadian doctors leaders take charge of project to reduce medical error. Lancet 2001;358:1167.
24. Korzilius H. Nutzen nicht ohne Risiko. Dtsch Ärztebl 2001;98:C1861.
25. Leape LL, Berwick DM. Safe health care: are we up to it? BMJ 2000;320:725-6.
26. Leape LL, Brennan TA, et al. The nature of adverse events in hospitalized patients. Results of the Harvard medical practice study II. N Engl J Med 1991;324:377-84.
27. Leape LL, Cullen D, Dempsey M, et al. Pharmacist participation on physician rounds and adverse drug events in the intensive care unit. JAMA 1999;282:267-70.
28. Lee A, Bateman DN, Edwards C, Smith JM, et al. Reporting of adverse drug reactions by hospital pharmacists: pilot scheme. BMJ 1997;315:519.
29. Meyer UA. Pharmacogenetics and adverse drug reactions. Lancet 2000:356:1667-71.
30. Morgan JD, Wright DJ, Chrystyn H. Comparison of pharmacist-run medication review clinics using different patient criteria. Pharm J 2000;265:R28.
31. Nightingale PG, Adu D, Richards NT, Peters M. Implementation of rules based computerised bedside prescribing and administration: intervention study. BMJ 2000;320:750-3.
32. Phillips DP, Christenfeld N, Glynn LM. In
crease in US medication-error deaths between 1983 and 1993. Lancet 1998;351:643-4.
33. Raschke RA, Gollihare B, Wunderlich TA, et al. A computer alert system to prevent injury from adverse drug events. JAMA 1998;280: 1317-20.
34. Reason J. Human error: models and management. BMJ 2000;320:768-70.
35. Ross LM, Wallace J, Paton JY. Medication errors in a pediatric teaching hospital in the UK: five years operational experience. Arch Dis Child 2000;83:492-7.
36. Rote Liste 1990. Aulendorf: Editio Cantor 1990.
37. Rote Liste 2001. Aulendorf: Editio Cantor 2001.
38. Safety alert: Action needed to avoid fatal errors from concomitant use of heparin products. Institute for safe medication practice 21. Februar 2001 (Homepage ismp.org).
39. Schaefer OP, Herholz H. Qualitätssicherung – eine Herausforderung für Ärzte. Dt Ärztebl 1996;93:A238-40.
40. Sexton JB, Thomas EJ, Helmreich RL. Error, stress, and teamwork in medicine and aviation: cross sectional surveys. BMJ 2000;320:745-9.
41. Spritze mit tödlichen Folgen. Kieler Nachrichten, 7. April 2001.
42. Thomas EJ, Brennan TA. Incidence and types of preventable adverse events in elderly patients: population based review of medical records. BMJ 2000;320:741-4.
43. Thomeczek T. Fehlerquelle Mensch. Berliner Ärztebl 2001;38:12-7.
44. Vincent C, Neale G, Woloshynowych M. Adverse events in British hospitals: preliminary retrospective record review. BMJ 2000;322:517-9.
45. Wakefield BJ, Blegen MA, Uden-Holman T, et al. Organizational culture, continuous quality improvement, and medication administration error reporting. Am J Med Qual 2001;16:128-34.
46. Weingart SN, Wilson R, Gibberd RW, Harrison B. Epidemiology of medical error. BMJ 2000;320:774-7.
47. Woods D. Estimate of 98000 deaths from medical errors is too low. BMJ 2000;320:1362.
48. Woods K. The prevention of intrathecal medication errors. London: Department of Health, 2001.
49. Zweiter Todesfall durch verseuchtes Kontrastmittel. Ärzte Zeitung, 31. Juli 2001.
Thomas Müller, Zentralapotheke des Universitätsklinikums Rostock (Leiter: PhR Dieter Trekel), Ernst-Heydemann-Straße 7, 18057 Rostock, E-Mail: Thomas.Mueller@med.uni-rostock.de
Tab. 2. Neuere Veröffentlichungen zu Medikationsfehlern
Land, Jahr, Methode Patienten Ergebnisse Bemerkungen
Quelle
GB, 2001 [44] Retrospektive Bewertung 1 014 erwachsene Patienten 5 % (50) vermeidbare Keine Differenzierung der uner-
der Patientenakte in Akutkrankenhäusern im unerwünschte Ereignisse wünschten Ereignisse nach Ursachen
Raum London (z. B. Arzneimitteltherapie)
GB, 2000 [35] Retrospektive Bewertung 129 000 Aufnahmen in Vermeidbare Medikations- Auswertung nur auf Medikations-
der Patientenakte nach pädiatrischen Lehrkranken- irrtümer in 0,15 % der irrtümer, nicht auf vermeidbare
Medikationsfehlern häusern in GB Aufnahmen, davon 9,2 % Wechselwirkungen oder Kontra-
schwerwiegend (0,014 %) indikationen
USA, 2001 [20] Prospektive Kohortenstudie 1 120 Aufnahmen in pädiatrischen 5,7 % Medikationsfehler,
mit unabhängiger Lehrkrankenhäusern, USA 0,26 % schwerwiegende UAE,
Begutachtung (10 778 Medikationen) 19 % der UAE als vermeid-
bar eingestuft (0,049 %)
USA, 2000 [42] Retrospektive Bewertung 15 000 erwachsene Patienten 9,5 % als vermeidbar einge- Signifikant höhere Rate bei Patienten
der Patientenakte stufte UAE über 65 Jahre
USA, 1999 [27] Begleitende Begutachtung 75 Patienten auf 10,4 vermeidbare Medika- Einsatz eines Pharmazeuten auf
der Medikation Intensiveinheiten, USA tions-Anforderungsfehler Station ergab Reduktion der Fehler-
pro 1 000 Patiententage rate auf 3,5 Fehler pro 1 000
Patiententage
GB, 2001 [48] Auswertung von Patienten des National Health 13 verstorbene Patienten in Entspricht einer Inzidenz von 3 pro
Sterbeursachen Service, GB 15 Jahren aufgrund intra- 100 000 intrathekalen Chemo-
thekaler Fehlinjektionen therapien (0,003 %)
D, 2000 [1] Prospektive Auswertung 17 050 Chemotherapie- 0,57 % schwerwiegende
Verordnungen, Medikationsfehler
Universitätsklinikum, D (98 absolut)
Tab. 1. Definitionen
Unerwünschte Arzneimittel-Wirkung (UAW) (adverse drug reaction):
Ein den Patienten schädigender oder für ihn unangenehmer Effekt, der auf der Wirkung eines Arzneimittels beruht.
Unerwünschtes Arzneimittel-Ereignis (UAE) (adverse drug event):
Ein den Patienten schädigender oder für ihn unangenehmer Effekt, der während oder in Zusammenhang mit einer Arzneimitteltherapie auftritt.
Medikationsfehler (medication error):
Ein den Patienten schädigender oder für ihn unangenehmer Effekt, der in Zusammenhang mit einer Arzneimitteltherapie auftritt und auf eine fehlerhafte Durchführung der Arzneimitteltherapie zurückzuführen, also prinzipiell vermeidbar ist.
Schwerwiegender unerwünschter Effekt (serious adverse effect):
Jeder unerwünschte Effekt mit den folgenden Kriterien: Tod, stationäre Aufnahme, Verlängerung der stationären Betreuung, bleibende oder signifikante Behinderung oder Einschränkung des Patienten. Als schwerwiegend sollten auch Effekte eingestuft werden, die schwerwiegend wären, wenn sie nicht auf eine akute Behandlung angesprochen hätten.
Unterlassungsfehler (error of omission):
Unterlassung einer nach dem Stand der Medizin indizierten diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme.
Fehlende Compliance (non-compliance):
Nichtakzeptanz und Nichtdurchführung ärztlich empfohlener oder angeordneter therapeutischer Maßnahmen durch den Patienten (zum Beispiel aufgrund ausgeprägter unerwünschter Arzneimittel-Wirkungen).
Tab. 3. Risikoreiche Wirkstoffe und Prozeduren
Wirkstoffe/Wirkstoffgruppen
- Gerinnungshemmer (Heparin, niedermolekulare Heparine, orale Vitamin-K-Antagonisten)
- Hochwirksame Schmerzmittel (Opioide)
- Insulin, orale Antidiabetika
- Kaliumchlorid parenteral
- Arzneimittel mit ungewöhnlichem Dosierungsintervall (Methotrexat oral, Depotpräparate)
- Zytostatika/Chemotherapeutika
Prozeduren
- Dosisberechnungen nach Körpergewicht, Körperoberfläche, Nierenfunktion und anderen patientenindividuellen und variablen Größen
- Intrathekale und epidurale Applikation
- Nutzung von elektronisch gesteuerten Infusionsgeräten
- Personaleinarbeitung, -wechsel, Übergabe
- Telefonische und andere mündliche Therapieanweisungen
- Übermittlung der Medikation von ambulant nach stationär und umgekehrt
- Verwendung missverständlicher Abkürzungen, besonders bei handschriftlichen Anweisungen (zum Beispiel IU missverständlich für IV)
- Zubereitung von parenteralen Arzneimitteln
Arzneimitteltherapie 2003; 21(02)