Dr. med. Peter Stiefelhagen, Hachenburg
Jeder vierte Teenager in Deutschland leidet an einer Allergie, vor allem an Heuschnupfen, so Prof. Dr. Ulrich Wahn von der Charité in Berlin, Präsident der Europäischen Akademie für Allergologie und Klinische Immunologie, die den diesjährigen Weltkongress in München (26. bis 30. Juni 2005) ausrichtete. Der Heuschnupfen geht häufig mit einer starken Beeinträchtigung der Lebensqualität einher. Der wichtigste Gesichtspunkt ist allerdings der mögliche Etagenwechsel, da jedes dritte Kind mit Heuschnupfen ein allergisches Asthma bronchiale entwickelt. Zurzeit leiden etwa 8 % der deutschen Schulkinder an einem meist allergischen Asthma bronchiale, und diese Kinder hatten vorher fast ausnahmslos Heuschnupfen.
Der „atopische Marsch“ beginnt in der Mehrzahl der Fälle bereits in frühester Kindheit, und zwar mit Hauterscheinungen im Sinne einer Neurodermitis. Diese ist einer der drei wichtigsten Risikofaktoren für die spätere Entwicklung eines Asthma bronchiale, neben allergischen Erkrankungen der Eltern und einem positiven Allergietest. Kommen alle drei Risikofaktoren zusammen, so liegt die Wahrscheinlichkeit für die Manifestation eines Asthma bronchiale bei 80 bis 100 %.
Angesichts dieser epidemiologischen Daten wird die Allergie- und Asthmaprävention zu einem zentralen Anliegen der Medizin. Zu den allgemein akzeptierten Grundregeln gehört die Allergenkarenz. Ob die zunehmende Umweltbelastung bei der Pathogenese allergischer Erkrankungen eine Rolle spielt, wird kontrovers beurteilt. Die Vorstellung, dass das Abwehrsystem des menschlichen Körpers überfordert sei und deshalb überschießend reagiere, entspricht zwar dem aktuellen allergologischen Zeitgeist, wissenschaftliche Belege für diese Hypothese gibt es bisher aber nicht. Im Gegenteil, epidemiologische Erhebungen in Deutschland haben überraschenderweise ergeben, dass in Gebieten der neuen Bundesländer mit besonders starker Umweltverschmutzung eine relativ niedrige Inzidenz allergischer Erkrankungen bestand. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass die Allergieneigung in Industrieländern mit den Infektionsraten korreliert, das heißt, je häufiger Kinder an Infektionen leiden, umso geringer ist das Allergierisiko. Deshalb entwickeln Kinder, die früh den Kindergarten besuchen oder mehrere Geschwister haben, seltener allergische Erkrankungen, da sie häufiger Infekte haben.
Diese Beobachtungen könnten zu einem Paradigmenwechsel bezüglich der pathogenetischen Erklärung allergischer Erkrankungen führen. Die Hygiene-Hypothese geht nämlich davon aus, dass es für den menschlichen Körper keinesfalls segensreich ist, wenn die heutigen Lebensbedingungen und die moderne Medizin alle Umwelteinflüsse, die unser Abwehrsystem aktivieren können, also auch Infektionen, ausschalten. Laienhaft könnte man sagen, dass durch eine übertriebene Reinlichkeit das Immunsystem verkümmert, ja sogar zu einem Immunkrüppel verkommt, mit der Folge einer erhöhten allergischen Krankheitsanfälligkeit. Für diese These spricht die Beobachtung, dass Kinder, die auf einem Bauernhof aufwachsen, seltener Heuschnupfen und andere allergische Erkrankungen entwickeln im Vergleich zu Kindern in städtischen Gebieten.
Plakativ könnte man also sagen: Schmutz ist gesund und Schmutzimpfungen sind wichtiger als Schutzimpfungen! Für die Medizin gilt es, jene Erreger oder deren Bestandteile zu identifizieren, die eine präventive antiallergische Wirkung entfalten könnten. Ein heißer Kandidat ist das Endotoxin aus der Zellwand gramnegativer Bakterien, zumal diese Bakterien vermehrt in Betten bayerischer Bauernhöfe gefunden wurden. Aber auch das Tuberkuloseantigen BCG wird als potenzieller Schutzfaktor diskutiert. Ein weiterer interessanter Mikroorganismus im Zusammenhang mit der Asthmaprävention ist der Spulwurm Ascaris. IgE-Antikörper gegen diesen Wurm konnten bei Kindern in den neuen Bundesländern sehr viel häufiger nachgewiesen werden als in den alten Bundesländern. Mit Endotoxin wurde bereits eine klinische Studie initiiert. Insgesamt 500 Kinder mit einem hohen Risiko für eine allergische Erkrankung erhalten in den ersten Monaten nach der Geburt Endotoxin-haltige Tropfen zur Allergieprophylaxe. Mit ersten Ergebnissen wird in einigen Jahren gerechnet. Aber schon jetzt sollte man allen Eltern empfehlen, bei ihren Kindern ein gewisses Maß an Schmutzkontakt zuzulassen; denn vieles spricht dafür, dass der weit verbreitete Sauberkeitswahn das Allergierisiko eher erhöht als erniedrigt.
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