Dr. Annemarie Musch, Stuttgart
Das multiple Myelom ist eine lymphoproliferative Erkrankung des B-Zellsystems, die vor allem ältere Patienten im Alter zwischen 60 und 70 Jahren betrifft. Die gesteigerte Proliferation der entarteten Plasmazellen führt zu einer Verdrängung blutbildenden Gewebes aus dem Knochenmark und als Folge können bei den Patienten Anämie, Infektanfälligkeit und verstärkte Blutungsneigung auftreten. Weiterhin kann es zur Zerstörung des umliegenden Knochens durch die Aktivierung von Osteoklasten und zu Durchblutungsstörungen und/oder Nierenschäden unter anderem durch die pathologische Freisetzung von Immunglobulinen kommen. Symptome können zum Beispiel Knochenschmerzen sein.
Eine dauerhafte Heilung der Patienten ist nach derzeitigem Wissensstand nicht möglich, besonders gute Therapieerfolge scheinen aber insbesondere bei jüngeren Patienten mit der Stammzelltransplantation nach konventioneller oder Hochdosis-Chemotherapie erreicht zu werden.
Der Proteasom-Inhibitor Bortezomib (Velcade®), ein Dipeptidylborsäure-Derivat, steht seit dem Frühjahr 2004 für die Therapie des multiplen Myeloms zur Verfügung (Abb. 1): Bei Patienten, die bereits mindestens zwei Therapien erhalten haben und bei denen während der letzten Behandlung ein Fortschreiten der Erkrankung beobachtet wurde. Mit Bortezomib konnte auch bei diesen bereits intensiv vorbehandelten Patienten noch ein Behandlungserfolg erzielt werden.
Der Wirkungsmechanismus von Bortezomib beruht auf einer reversiblen Hemmung der Proteasomen. Proteasomen sind in der Zelle ubiquitär vorhandene Multienzymkomplexe aus mehr als 30 verschiedenen Proteasen. Proteasomen sind entscheidend an der Regulation des Zellstoffwechsels beteiligt: Sie bauen zum einen Ubiquitin-markierte Proteine ab, aber es können auch regulatorische und veränderte Proteine durch die Proteasomen aktiviert werden. Bei Tumorzellen wurden diese Multienzymkomplexe vermehrt nachgewiesen, so dass vermutlich eine Überaktivierung dieses wichtigen regulatorischen Prinzips im Zellstoffwechsel zu einem Verlust der Zellzyklus-Kontrolle und somit zu einer gesteigerten Proliferation der Zellen beiträgt und so eine maligne Entartung begünstigt.
Die reversible Hemmung der Proteasomen führt zu einer Stabilisierung des Zellstoffwechsels und unter anderem zu Zellzyklus-Arrest und Apoptose, insbesondere in Tumorzellen (Abb. 2).
Die Zulassungserweiterung für Bortezomib erfolgte, nachdem in einer Subgruppenanalyse der APEX-Studie (Assessment of proteasom-inhibition for extending remissions, Phase-III-Studie) bei Patienten, die erst eine Vortherapie erhalten hatten, ein besseres Behandlungsergebnis erzielt werden konnte, als bei Patienten mit ein bis drei vorangegangenen Therapien.
In dieser Phase-III-Studie wurden 669 Patienten mit rezidiviertem multiplem Myelom, die zwischen ein und drei Vortherapien erhalten hatten, randomisiert zwei Behandlungsgruppen zugeordnet:
- Bortezomib-Gruppe (333 Patienten): 8 Zyklen eines 3-wöchigen Zyklus mit Bortezomib in einer Dosierung von 1,3 mg/m2 Körperoberfläche i. v. als Bolus-Injektion an Tag 1, 4, 8 und 11, gefolgt von 3 Zyklen eines 5-wöchigen Zyklus mit gleicher Dosis an Tag 1, 8, 15 und 22
- Dexamethason-Gruppe (336 Patienten): 4 Zyklen eines 5-wöchigen Zyklus mit Dexamethason in einer Dosierung von 40 mg oral an den Tagen 1–4, 9–12 und 17–20, gefolgt von 5 Zyklen eines 4-wöchigen Zyklus mit gleicher Dosis an den Tagen 1–4
In dieser Studie wurden Patienten ausgeschlossen, die bei vorangegangener Therapie auf Dexamethason nicht angesprochen haben. Weiterhin konnten die Patienten nach einer Zwischenanalyse, in der ein Vorteil der Behandlung mit Bortezomib gegenüber Dexamethason festgestellt wurde, die Behandlungsgruppe wechseln. Die mediane Nachbeobachtungszeit betrug 8,3 Monate. Primärer Studienendpunkt war die Zeit bis zum Fortschreiten der Erkrankung. Sekundäre Studienendpunkte waren unter anderem das Ansprechen auf die Therapie und das Überleben der Patienten.
In der Bortezomib-Gruppe wurde eine im Vergleich zur Dexamethason-Gruppe signifikante Verlängerung der Zeit bis zum Fortschreiten der Erkrankung festgestellt (Median 6,2 Monate versus 3,5 Monate, p<0,0001). Weiterhin fielen auch die Ergebnisse für die beiden sekundären Studienendpunkte Ansprechen auf die Therapie (komplette oder partielle Remission: bei 38 % der Patienten in der Bortezomib- versus 18 % der Patienten in der Dexamethason-Gruppe, p < 0,0001) und Überleben (nach einem Jahr 88 % versus 66 %, p = 0,0005) in der Bortezomib-Gruppe signifikant besser aus als in der Dexamethason-Gruppe.
In einer Subgruppenanalyse wurden noch bessere Ergebnisse der Behandlung mit Bortezomib festgestellt. Bei Patienten mit nur einer Vortherapie (40 % aus der Bortezomib- und 35 % aus der Dexamethason-Gruppe) betrug die mediane Zeit bis zum Fortschreiten der Erkrankung 7 Monate in der Bortezomib- und 5,6 Monate in der Dexamethason-Gruppe (p = 0,0021). Auf die Therapie sprachen in der Bortezomib-Gruppe 45 % und in der Dexamethason-Gruppe 26 % (p = 0,0035) an. Nach einem Jahr überlebten 89 % der Patienten in der Bortezomib- und 72 % in der Dexamethason-Gruppe (p = 0,0098).
Das Nebenwirkungsprofil beider Substanzen wurde in dieser Studie als vorhersehbar und deswegen beherrschbar beschrieben. Als Nebenwirkungen von Bortezomib sind bekannt: gastrointestinale Symptome, Erschöpfung/Müdigkeit, Thrombozytopenie und periphere Neuropathie. Von diesen Nebenwirkungen sind die Thrombozytopenie und die periphere Neuropathie am schwerwiegendsten. Beide Nebenwirkungen scheinen allerdings reversibel zu sein, sofern sie allein medikamenteninduziert sind. Patienten, die bereits vor der Therapie an einer Neuropathie leiden, sollten eher nicht mit der Substanz behandelt werden.
Ansonsten erwies sich die Therapie mit Bortezomib bislang als verträglich und gut ambulant durchführbar.
Somit steht insbesondere für intensiv vorbehandelte Patienten, aber auch für Patienten mit Begleiterkrankungen wie Diabetes mellitus oder Herzerkrankungen – überwiegend sind ja ältere Patienten betroffen – eine wirksame und im Vergleich zu anderen Therapien sichere Behandlungsoption zur Verfügung, sofern bekannte Nebenwirkungen berücksichtigt werden. Weiterhin scheint aber auch ein möglichst früher Einsatz der Substanz sinnvoll zu sein.
Die Zulassungserweiterung im April 2005 – Behandlung von Patienten, die bereits eine vorangegangene Therapie durchlaufen haben und sich einer Stammzelltransplantation unterzogen haben – ermöglicht nun auch einen früheren Einsatz der Substanz, wodurch noch bessere Behandlungsergebnisse bei entsprechend geeigneten Patienten erzielt werden können.
Weitere Einsatzmöglichkeiten der Substanz scheinen ebenfalls viel versprechend und werden derzeit in klinischen Studien geprüft, vor allem Kombinationstherapien mit verschiedenen Substanzen, die in der Behandlung des multiplen Myeloms eingesetzt werden sowohl in der Erst- als auch in der Rezidivtherapie von Patienten mit multiplem Myelom. Aber auch bei anderen Tumorentitäten könnte Bortezomib möglicherweise eingesetzt werden, die Zulassung für die Therapie des Mantelzell-Lymphoms wurde in den USA beantragt.
Quellen
Prof. Dr. med. Hartmut Goldschmidt, Heidelberg, Prof. Dr. med. Wolfgang Ulrich Knauf, Frankfurt/M, Prof. Dr. med. Hermann Einsele, Würzburg, Dr. med. Franziska Rubin und Chris Vosch, Neuss. Pressekonferenz „Innovative Therapie des multiplen Myeloms mit Velcade® (Bortezomib): Zulassung für die Rezidivtherapie ist da!“, veranstaltet von Ortho Biotech, Division of Janssen-Cilag, Frankfurt/M, 24. Mai 2005.
Richardson PG, et al. Bortezomib (PS-341): A novel, first-in-class proteasome inhibitor for the treatment of multiple myeloma and other cancers. Cancer Control 2003;10:361–9.

Abb. 1. Bortezomib (Velcade®)

Abb. 2. Verschiedene Wirkungen von Bortezomib beim multiplen Myelom [nach Richardson PG, et al.]:
a) Hemmung des Zellwachstums von Tumorzellen; b + c) Hemmung der Interaktion von Tumorzellen mit Stromazellen im Knochenmark (Interaktion über Adhäsionsmoleküle und Zytokine, insbesondere Interleukin-6, und als Folge Aktivierung dieser Zellen, die dann wiederum das Wachstum der Tumorzellen fördern und die Apoptose der Tumorzellen hemmen, und Aktivierung von Osteoklasten); d) Einschränkung der Tumor-bedingten Angiogenese im Knochenmark
Arzneimitteltherapie 2005; 23(11)