Spontanremissionen in der Onkologie: Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist!


Dr. med. Peter Stiefelhagen, Hachenburg

Spontane Rückbildungen von Krebsgeschwülsten sind zwar jedem onkologisch tätigen Arzt bekannt, werden jedoch meist nur hinter vorgehaltener Hand besprochen. Auch wurden sie lange Zeit geleugnet oder entsprechende Beobachtungen als Fehldiagnose abgetan nach dem Motto: Die Theorie bestimmt, was wir beobachten!

Die Tatsache, dass sich bösartige Erkrankungen auch ohne die ärztliche Kunst zurückbilden können, ist seit Jahrhunderten als „medizinisches Wunder” in Legenden überliefert. Doch eine systematisch-wissenschaftliche Aufmerksamkeit hat dieses seltene Phänomen bisher in der Medizin kaum gefunden. Keine Frage, das Thema spontane Remissionen oder Spontanheilungen bei malignen Erkrankungen ist schwierig; denn nur wenige Wissenschaftler sind bereit, sich mit diesem Thema zu beschäftigen.

Der Krankheitsverlauf bei Tumorpatienten kann individuell sehr unterschiedlich sein. So werden wir immer wieder mit Patienten konfrontiert, die deutlich länger und besser als der „Durchschnitt” leben. Dazu kommt, dass heute mit modernen Therapiestrategien spektakuläre Erfolge in der Tumorbehandlung erreicht werden können. Schwierig ist das Thema aber auch, weil viele Tumorpatienten mit alternativen Heilverfahren behandelt werden, die von der Schulmedizin als unwirksam oder als Scharlatanerie bewertet, von behandelnden Ärzten aber durchaus als Erklärung für den Krankheitsverlauf angesehen werden.

Doch die Existenz von Spontanremissionen bei Tumorerkrankungen kann heute nicht mehr ernsthaft in Zweifel gezogen werden, obwohl ein solches Phänomen keinesfalls mit Heilung oder Gesundheit gleichgesetzt werden kann; denn trotz einer Spontanremission kann eine Tumorerkrankung sich im weiteren Verlauf sehr ungünstig entwickeln, so dass betroffene Patienten sogar schneller versterben, als es ihrer statistischen Überlebenszeit entspricht.

Der modernen Wissenschaft gelang es in den letzten Jahren, einige Erklärungshypothesen für Spontanremissionen zu entwickeln und sie zumindest auch teilweise zu belegen. Eine entscheidende Rolle dürfte das Immunsystem spielen. Es ist in der Lage, Tumorzellen in die Apoptose oder Nekrose zu treiben oder aber die Umwandlung einer bösartigen Zelle zu einer Normalzelle zu induzieren. Auch hormonelle Einflüsse sind beteiligt. Dafür spricht z. B. die Beobachtung von Spontanremissionen bei Mammakarzinomen, die im zeitlichen Zusammenhang mit einer Schwangerschaft, einer Entbindung oder der Menopause beobachtet wurden. Neuere Untersuchungen sprechen dafür, dass der Körper auch selbst in der Lage ist, Substanzen zu bilden, die die Gefäßneubildung im Bereich von Tumoren hemmen, mit der Folge, dass der Tumor „aushungert”.

Ein sehr interessantes Thema ist die Rolle der Psyche. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt: Beeinflusst der Krebs die Psyche oder die Psyche den Krebs? Bei kritischer Würdigung des derzeitigen Forschungsstands können Spontanremissionen jedoch nicht auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, willentliche Anstrengungen oder andere spezifische psycho-spirituelle Behandlungsverfahren zurückgeführt werden.

Trotz solcher Erklärungsversuche ist die Beobachtung einer Spontanremission bei einem Tumorpatienten immer noch ein aufregendes Erlebnis. Es zeigt, dass das Wissen der Medizin und somit die naturwissenschaftliche Erklärung von Krankheitsverläufen noch sehr begrenzt sind. Dies sollte uns zu einer gewissen Bescheidenheit veranlassen, und außerdem zu der Erkenntnis Anlass geben, dass unser eindimensionaler Verstehenshorizont der Wirklichkeit in der Medizin nicht immer gerecht wird. Somit dürfen, ja sollten wir sogar an Wunder glauben; denn wer nicht an Wunder glaubt ist, kein Realist! Und das, was der französische Philosoph Michel de Montaigne vor über 500 Jahren einmal formulierte, gilt auch heute noch im Zeitalter der modernen Medizin: „Weiß man denn, was einen gesund gemacht hat? Die Heilkunst, das Schicksal, der Zufall oder Omas Gebet?“


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