Der menschliche Wille: Frei oder determiniert?


Dr. med. Peter Stiefelhagen

Menschen sind, wenn sie handeln, nicht frei! Diese Kernthese einer Gruppe von Neuro-Wissenschaftlern hat eine sehr lebhafte Diskussion entfacht. Und diese wird mit der Wucht eines weltanschaulich aufgeladenen Glaubenskampfes geführt, zumal unser humanistisches Menschenbild zur Debatte steht. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist die unbestreitbare Tatsache, dass alle in den Entscheidungsprozess einmündenden Einflüsse raumzeitlich strukturierte neuronale Erregungsmuster darstellen, unabhängig davon, ob diese Einflüsse bewusst oder unbewusst wirken. Man müsse deshalb davon ausgehen, dass jemand das, was er tat, deshalb tat, weil just in dem Augenblick sein Gehirn zu keiner anderen Entscheidung kommen konnte, und zwar unabhängig davon, wie viel bewusste oder unbewusste Faktoren tatsächlich dazu beigetragen haben.

Diese Sicht steht im Widerspruch zu unserer Intuition, nämlich zu jedem Zeitpunkt frei darüber entscheiden zu können, was wir als nächstes tun oder lassen wollen. Da allgemein angenommen wird, dass die Zuschreibung von Schuld und damit einer der Grundpfeiler unseres Rechtsystems mit der Existenz dieser Freiheit verbunden ist, werden diese Thesen der modernen Hirnforschung insbesondere von der forensischen Psychiatrie mit großer Besorgnis rezipiert, wie die Diskussionen beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (23. bis 26. November 2005 in Berlin) gezeigt haben.

Nach Meinung der Psychiater spielen sich psychische Erkrankungen vor allem in der inneren Perspektive der Patienten ab, so dass die dabei involvierten erlebten Qualitäten wie Hoffnungen, Gefühle, Vorstellungen, Selbsteinschätzung und Einschätzung von anderen sich mit den objektivierenden Verfahren der neuro-wissenschaftlichen Forschung nicht direkt abbilden ließen. Das Erlebnis der Willensfreiheit lasse sich deshalb nicht auf die Ebene der Hirnfunktionen beschränken.

Krankheitsbedingte Veränderungen dieser Qualitäten korrelierten zwar mit Hirnprozessen, könnten aber mit solchen nicht hinreichend beschrieben werden. Ein Entscheidungsprozess sei nur dann unfrei, wenn eindeutige Hinweise auf das Vorliegen besonderer äußerer oder innerer Zwänge bestünden, der Ausgang der Entscheidungen also beeinflusst würde durch Bedrohungen oder soziale Abhängigkeiten, durch neurotische Zwänge oder durch pathologische Triebstrukturen oder affektive Erregungen, die vom Betroffenen nicht gewollt werden und zu denen er sich nicht entschieden hat.

Somit gilt für die forensische Psychiatrie: Einschränkungen von Willensfreiheit: Ja! Ausschluss von Willensfreiheit: Nein! Denn zur menschlichen Identität und Entwicklung eines sozialen Selbst gehört das Gefühl der Verantwortlichkeit. Würde dieses Postulat aufgegeben, so wäre eine wesentliche Basis des menschlichen Zusammenlebens gefährdet. Im Rahmen der Schuldfähigkeitsuntersuchung müsse geklärt werden, ob Einschränkungen der Freiheitsgrade in Einsichts- und Steuerungsvermögen als Folge von krankhaften Einflüssen auf psychische Funktionen vorliegen.

Doch das Thema „freier Wille“ beschäftigt die Psychiatrie noch in einem anderen Zusammenhang, nämlich inwieweit unter dem Einfluss degenerativer Erkrankungen des Gehirns die Willensfreiheit im Alter begrenzt oder bedroht ist; denn schon der biologische Alterungsprozess, insbesondere aber Hirnveränderungen bei neurodegenerativen Erkrankungen schränken bei vielen älteren Menschen die biologischen Voraussetzungen von selbstbestimmten Willensentwicklungen, von Willensentscheidungen und von Handlungen ein. Somit werden die Betroffenen zunehmend von ihren eigenen inneren Zuständen und äußeren Gegebenheiten determiniert und fühlen sich in ihrem Wollen und Handeln nicht mehr frei. Das Fehlen eines freien Willens wird meist als extrem bedrückend erlebt, zumal das emotionale Vermögen häufig länger erhalten bleibt als die kognitiven Kompetenzen. Erst im Erleben dieses Verlusts an Selbstständigkeit im Alltagsleben wird die existenzielle Bedeutung der Freiheit des Willens auch in der Umsetzung in Handlungen für das menschliche Leben erkennbar.

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