HIV

Komplexe Aufgabe der Langzeittherapie zusehends besser zu lösen?


Dr. Annemarie Musch, Stuttgart

Die nucleosidischen Reverse-Transcriptase-Hemmer Tenofovir und Emtricitabin sind in der Therapie von HIV-Infektionen bei nicht vorbehandelten Patienten langfristig wirksam. Die Verträglichkeit der antiretroviralen Therapie scheint durch diese Wirkstoffe verbessert zu werden. Neue Daten und Trends der HIV-Therapie von der Welt-AIDS-Konferenz 2006 in Toronto wurden auf einer von Gilead veranstalteten Pressekonferenz in Hamburg im August 2006 referiert.

Ziel der Therapie von Infektionen mit dem humanen Immundefizienz-Virus (HIV) ist es, die Virusvermehrung langfristig so weit wie möglich zu unterdrücken und damit dem Vollbild der Erkrankung (Aids = acquired immune deficiency syndrome) vorzubeugen. Die Wirksamkeit der hierzu erforderlichen Langzeittherapie hängt unter anderem entscheidend mit der Compliance der Patienten zusammen. Wichtig für die Compliance sind die Verträglichkeit und die möglichst einfache Durchführbarkeit der Therapie. Diese Aspekte finden vermehrt Berücksichtigung in der Weiterentwicklung der antiretroviralen Therapie. Insbesondere, da Therapiepausen nicht durchgeführt werden sollten, weil sich das Risiko für ein Fortschreiten der Erkrankung vergrößert. Dies ist zumindest teilweise auf ein Absinken der CD4-Zellzahl und einen Anstieg der Virusmenge zurückzuführen. Der vermutete Zugewinn der Patienten an Lebensqualität durch die Therapiepause konnte zudem nicht bestätigt werden.

In der HIV-Therapie hat sich der Einsatz von zwei nucleosidischen Reverse-Transcriptase-Hemmern (NRTI) als „Rückgrat“ (Backbone) der Therapieregime etabliert, wobei Patienten insbesondere von dem Einsatz von Nicht-Thymidinanaloga zu profitieren scheinen. Wahlweise erfolgt eine Kombination des NRTI-Backbone-Regimes mit einem nicht-nucleosidischen Reverse-Transcriptase-Hemmer (NNRTI) oder einem Proteasehemmer.

Tenofovir/Emtricitabin versus Zidovudin/Lamivudin

Für die Kombination der NRTI Tenofovir (Viread®) und Emtricitabin (Emtriva®) mit dem NNRTI Efavirenz (Sustiva®) konnte bei nicht vorbehandelten HIV-Patienten nach 48 Wochen Therapie bereits eine Nichtunterlegenheit gegenüber dem bisherigen Standard-NRTI-Backbone-Regime, bestehend aus den beiden Thymidinanaloga Zidovudin (Retrovir®) und Lamivudin (Epivir®), gezeigt werden. Die Nichtunterlegenheit der Therapie – vielmehr ein deutlich größeres Ansprechen auf die Therapie – nach 48 Wochen zeigte sich sowohl in der Reduktion der Virusmenge < 400 Kopien/ml bzw. < 50 Kopien/ml als auch im Anstieg der CD4-Zellzahl. Die Studie soll insgesamt bis Woche 144 fortgesetzt werden.

509 nicht vorbehandelte Patienten mit zum Teil relativ weit fortgeschrittener Erkrankung (Virusmenge > 10 000 Kopien/ml bei etwa 50 % der Patienten und CD4-Zellzahl < 200 Zellen/mm3 bei etwa 40 % der Patienten) erhielten in dieser offenen Studie (GS-934) randomisiert eines der beiden folgen Regime:

  • Tenofovir plus Emtricitabin (300 mg bzw. 200 mg einmal täglich; das Kombinationspräparat Truvada® war zu Studienbeginn nicht zugelassen, nach der Zulassung erfolgte in Woche 96 eine Umstellung) plus Efavirenz (600 mg einmal täglich; n = 255)
  • Zidovudin (300 mg) plus Lamivudin (150 mg) als fixe Kombination (zweimal täglich) plus Efavirenz (600 mg einmal täglich; n = 254)

Erste Ergebnisse nach 96-wöchiger Behandlung liegen vor: Die Kombination von Tenofovir mit Emtricitabin führte auch nach 96 Wochen Therapie zu einem besseren Therapieansprechen als die Kombination von Zidovudin und Lamivudin:

  • Anteil Patienten mit Virusmenge < 400 Kopien/ml: 75 % der Patienten (n = 232 insgesamt) versus 62 % der Patienten (n = 231 insgesamt) (p = 0,004)
  • Anteil Patienten mit Virusmenge < 50 Kopien/ml: 67 % versus 61 % der Patienten (p = 0,16)
  • Anstieg der CD4-Zellzahl: um 270 versus 237 Zellen/mm3 seit Therapiebeginn (p = 0,036)

In der Tenofovir-Emtricitabin-Gruppe brachen signifikant weniger Patienten die Studie ab als in der Zidovudin-Lamivudin-Gruppe (25 % vs. 38 %, p = 0,004): Signifikante Unterschiede bestanden bei Studienabbrüchen aufgrund eines erneuten Anstiegs der Virusmenge (< 1 % vs. 5 %, p = 0,007) und aufgrund unerwünschter Ereignisse (0 vs. 6 %, p < 0,001; Tab. 1).

So konnte auch die im Vergleich zum Standard-NRTI-Backbone-Regime die bessere Verträglichkeit der Kombination von Tenofovir mit Emtricitabin bestätigt werden. Renale Nebenwirkungen traten in der Tenofovir-Emtricitabin-Gruppe nicht häufiger auf.

Das Körpergewicht der Patienten stieg durch die antiretrovirale Therapie, wobei die Patienten der Tenofovir-Emtricitabin-Gruppe insgesamt im Mittel 2,7 kg zunahmen, die der Zidovudin-Lamivudin-Gruppe hingegen nur 0,5 kg (p < 0,001).

Bemerkenswert ist, dass Patienten die mit der Kombination Tenofovir plus Emtricitabin behandelt wurden, signifikant mehr Extremitätenfett aufwiesen als Patienten, die die beiden Thymidinanaloga erhielten (im Median 7,7 kg versus 5,5 kg; p < 0,001) (Abb. 1).
Eine abschließende Beurteilung dieser Beobachtung sollte aber erst nach 144 Wochen erfolgen.

Eine Genotypisierung bei 14 Patienten in der Tenofovir-Emtricitabin- und 29 Patienten in der Zidovudin-Lamivudin-Gruppe deckte bei 30 Patienten eine Resistenz auf. Die bei der Therapie mit Tenofovir mögliche Selektion der Resistenzmutation K65R wurde nicht nachgewiesen, die Mutation M148V trat signifikant seltener bei mit Tenofovir und Emtricitabin behandelten Patienten auf (p = 0,037).

Umstellung des NRTI-Backbone-Regimes auf Tenofovir/Emtricitabin

Die gute Wirksamkeit und Verträglichkeit von Tenofovir konnte in einer weiteren Studie mit nicht vorbehandelten HIV-Patienten gezeigt werden (GS-903). 602 Patienten erhielten in dieser randomisierten doppelblinden Studie entweder

  • Tenofovir (300 mg einmal täglich) plus Lamivudin (150 mg zweimal täglich) plus Efavirenz (600 mg einmal täglich; n = 299) oder
  • Stavudin (Zerit® XR in der Regel 40 mg zweimal täglich) plus ebenfalls Lamivudin und Efavirenz (n = 303).

Es zeigte sich eine vergleichbare Wirksamkeit beider Therapieregime. Veränderungen von Lipidwerten und Lipodystrophie bei den Patienten scheinen aber bei der Therapie mit Tenofovir eine geringere Rolle zu spielen: In der Stavudin-Lamivudin-Gruppe wiesen die Patienten signifikant weniger Gesamtextremitätenfett auf als die Patienten der Tenofovir-Lamivudin-Gruppe und die Inzidenz einer Lipodystrophie war größer.

Diese positiven Behandlungsergebnisse konnten nun auch in einer offenen Extensionsphase (GS-903E) dieser Studie bestätigt werden. 171 Patienten, bei denen in der vorangegangenen doppelblind durchgeführten Studienphase nach 144 Wochen die Virusmenge < 50 Kopien/ml betrug, wurden weiterhin mit dem Tenofovir-haltigen Regime behandelt (n = 86) oder auf dieses Therapieregime umgestellt (n = 85).

Nach insgesamt 192 Wochen Therapie betrug bei 87 % der Patienten in der Tenofovir-Lamivudin- bzw. 92 % der Patienten in der Stavudin-Lamivudin-Gruppe die Virusmenge weiterhin < 50 Kopien/ml.

Das Extremitätenfett bei Patienten, die mit dem Tenofovir-haltigen Regime behandelt wurden, lag zwischen Woche 96 und 192 im Normbereich (7 bis 9 kg), bei den Patienten, die nach 144 Wochen Therapie mit der Kombination von Stavudin und Lamivudin behandelt wurden, wurde eine signifikante Zunahme des Extremitätenfetts beobachtet.

Die Lipidwerte der Patienten in der Tenofovir-Lamivudin-Gruppe veränderten sich nicht deutlich, erhöhte Werte bei Patienten, die zuvor mit Stavudin plus Lamivudin behandelt wurden, sanken bei der Umstellung auf Tenofovir.

Fazit

Die neuen Daten zeigen eine dauerhafte Wirkung der antiretroviralen Therapie mit Tenofovir und sprechen für einen initialen Einsatz bei Patienten mit HIV-Infektion. Positiv zu bewerten ist, dass die Therapie im beobachteten Zeitraum von bis zu 4 Jahren gut vertragen wurde, so gab es beispielsweise keine Anzeichen für deutliche Veränderungen von Lipidwerten und ein Auftreten stigmatisierender Lipodystropie. Auch scheint eine Umstellung auf ein Tenofovir-haltiges Therapieregime bei Patienten, die bereits diese unerwünschten Wirkungen bei der Therapie mit anderen antiretroviralen Wirkstoffen zeigten, positive Auswirkungen zu haben.

Neben der guten Verträglichkeit könnte auch die einfache Durchführung der Therapie durch eine reduzierte Einnahmehäufigkeit für die Compliance der Patienten und damit ein Ansprechen auf die Therapie über lange Zeit förderlich sein.

In den USA ist seit dem 12. Juli 2006 eine Dreifachkombination von Tenofovir, Emtricitabin und Efavirenz (Atripla®) zur Therapie zugelassen: Dies ermöglicht erstmals eine antiretrovirale Therapie mit der einmal täglichen Einnahme einer Kombinationstablette.

Quellen

Dr. med. Thomas Mertenskötter, Martinsried/München, Prof. Dr. med. Schlomo Staszewski, Frankfurt/Main, Dr. med. Knud Schlewe, Hamburg, Prof. Dr. med. Jürgen Rockstroh, Bonn. Pressekonferenz „Wege zur Optimierung der HIV-Therapie“, Hamburg, 31. August 2006, veranstaltet von der Gilead Sciences GmbH.

Cohn D, et al. Severity and types of clinical events by proximal CD4 cell counts in the SMART study. AIDS 2006, XVI International AIDS Conference 2006, Toronto, Canada: Abstract THPE0047.

Lundgren JD, et al. Progression of HIV-related disease or death (POD) in the randomised SMART study: why was the risk of POD greater in the CD4-guided ((re)-initiate ART at CD4 < 250 cells/µL) drug conservation (DC) vs the virological suppression (VS) arm? AIDS 2006, XVI International AIDS Conference 2006, Toronto, Canada: Abstract WEAB0203.

El-Sadr W, et al. Inferior clinical outcomes with episodic CD4-guided antiretroviral therapy Aimed at drug conservation (DC) in SMART study: consistency of finding in all patient subgroups. AIDS 2006, XVI International AIDS Conference 2006, Toronto, Canada: Abstract WEAB0204.

Grund B, et al. Predictors for the initial CD4 decline after antiretroviral treatment interruption in the SMART study. AIDS 2006, XVI International AIDS Conference 2006, Toronto, Canada: Abstract THPE0144.

Gallant JE, et al. Tenofovir DF, emtricitabine, and efavirenz vs. zidovudine, lamivudine, and efavirenz for HIV. New Engl J Med 2006;354:251–60.

Gallant JE, et al. Efficacy and safety of tenofovir DF (TDF), emtricitabine (FTC) and efavirenz (EFV) compared to fixed dose zidovudine/lamivudine (CBV) and EFV through 96 weeks in antiretroviral treatment-naïve patients. AIDS 2006, XVI International AIDS Conference 2006, Toronto, Canada: Abstract TUPE0064.

Gallant JE, et al. Efficacy and safety of tenofovir DF vs stavudine in combination therapy in antiretroviral-naive patients. JAMA 2004;292:191–201.

Enejosa J, et al. Tenofovir DF (TDF) in combination with lamivudine (3TC) and efavirenz (EFV) in antiretroviral naive HIV-infected patients: a 4-year follow-up. 10th European AIDS Conference 2005, Dublin, Ireland: Abstract PE7.3/13.

Tab. 1. Studienabbrüche aufgrund unerwünschter Ereignisse: NRTI-Backbone-Regime im Vergleich bei nicht vorbehandelten HIV-Patienten (vorläufige Analyse der 96-Wochen-Daten) [nach Gallant JE, et al. 2006]

Unerwünschtes Ereignis, das zum Studienabbruch führte

Tenofovir + Emtricitabin (n = 257)

Zidovudin + Lamivudin (n = 254)

Insgesamt [n]*

12 (5 %)

28 (11 %)+

Anämie /Abfall des Hämoglobinwerts [n]

0

14 (6 %)§

Müdigkeit [n]

0

5 (2 %)

Übelkeit [n]

1 (< 1 %)

4 (2 %)

Rash [n]

4 (< 2 %)

1 (< 1 %)

Arzneimittel-Exanthem [n]

2 (< 1 %)

0

Erbrechen [n]

0

2 (< 1 %)

Neutropenie [n]

0

2 (< 1 %)

* Alle Ereignisse bei mehr als einem Patienten in einem der Gruppen; mehr als ein Ereignis kann bei einem Patienten aufgetreten sein
+ p = 0,023
§ p < 0,001

Abb. 1. Einfluss verschiedener NRTI-Backbone-Regime auf das Gesamtextremitätenfett bei nicht vorbehandelten HIV-Patienten (vorläufige Analyse nach 96 Wochen im Vergleich zum Zeitpunkt 48 Wochen; alle Patienten mit DEXA-Scan) [nach Gallant JE, et al. 2006]

Arzneimitteltherapie 2007; 25(02)