Martin Kropff, Münster, Wolfgang Knauf, Frankfurt, Hartmut Goldschmidt, Heidelberg, und Ralf Angermund, Neuss
Der Proteasom-Inhibitor Bortezomib (Velcade®) hat sich bei Patienten mit rezidiviertem und refraktärem multiplem Myelom als Medikament mit einem vorhersehbaren und beherrschbaren Nebenwirkungsprofil erwiesen [5]. Die häufigste hämatologische Nebenwirkung ist eine Thrombozytopenie, die sich in vielerlei Hinsicht vom Plättchenmangel infolge einer konventionellen zytotoxischen Chemotherapie unterscheidet.
Thrombozytopenien bei Tumorpatienten sind häufig durch eine Chemotherapie bedingt, können aber auch Folgen von Erkrankungen sein, welche die Thrombozytopoese beeinträchtigen (z. B. Knochenmarksinfiltration, Folsäure- oder Vitamin-B12-Mangel, Infektionen mit Zytomegalie-Viren [CMV], Epstein-Barr-Viren [EBV] oder humanem Immundefizienz-Virus [HIV]). Weitere potenzielle Ursachen von Thrombozytopenien sind Krankheiten, die mit einem erhöhten Verbrauch an Thrombozyten einhergehen, beispielsweise eine disseminierte intravasale Gerinnung oder eine idiopathische thrombozytopenische Purpura.
Thrombozytopenien bei der Behandlung mit klassischen Zytostatika beginnen in der Regel langsam und dauern lange an. Dabei sind Schweregrad und Dauer der Thrombozytopenie miteinander korreliert und hängen gemeinsam von der geschädigten Entwicklungsstufe der Thrombozytopoese ab. Melphalan, das wichtigste Alkylanz in der Therapie des multiplen Myeloms, weist eine erhebliche und kumulative Stammzelltoxizität auf und führt folglich zu einer schweren, drei bis vier Wochen anhaltenden Thrombozytopenie. Dagegen beeinträchtigt Cyclophosphamid Stammzellen nicht. Die auf eine Cyclophosphamid-Therapie folgende Myelosuppression ist kurz und führt selten zu einer Thrombozytopenie [7]. Anthracycline (z. B. Doxorubicin, Idarubicin) nehmen hier eine Zwischenstellung ein [2].
Thrombozytopenien erhöhen das Blutungsrisiko und werden dann problematisch, wenn kritische Thrombozytenwerte unterschritten werden. Insbesondere Thrombozytopenien CTC-Grad 4 (Thrombozyten < 25 000/µl) gelten als Risikofaktoren für Spontanblutungen. Betroffene Patienten können, sofern eine Behandlungsindikation besteht, derzeit nur symptomatisch mit Thrombozytenkonzentraten behandelt werden. Schwere Thrombozytopenien können eine Reduktion der Zytostatika-Dosis erfordern oder die Behandlung vorzeitig terminieren, so dass die optimale Wirkung der Behandlung nicht gewährleistet werden kann.
Thrombozytopenierisiko bei der Behandlung mit Bortezomib
Auch der Proteasom-Inhibitor Bortezomib, der seit April 2005 zur Rezidivtherapie des progredienten multiplen Myeloms zugelassen ist, kann schwere Thrombozytopenien verursachen. In den beiden Phase-II-Studien SUMMIT [5] und CREST [3] wurde bei 28 % und 24 % der Patienten mit rezidiviertem oder refraktärem multiplem Myelom eine Thrombozytopenie CTC-Grad 3 festgestellt (Thrombozyten < 50 000/µl). 3 % bzw. 4 % der Patienten erlitten eine Grad-4-Thrombozytopenie (Thrombozyten < 25 000/µl) [3, 5]. Vergleichbare Thrombozytopenieraten wurden in der Phase-III-Studie APEX [6] dokumentiert.
Risikofaktoren
Nach den Ergebnissen der gemeinsamen Analyse von 228 Patienten, die in SUMMIT und CREST Bortezomib in der zugelassenen Dosierung von 1,3 mg/m² (d1, d4, d8, d11, alle drei Wochen) erhielten, fielen die Plättchenzahlen infolge der reversiblen Proteasom-Inhibition um durchschnittlich etwa 60 %, und zwar unabhängig vom Thrombozytenwert bei Behandlungsbeginn, der Konzentration an M-Protein und dem Ausmaß der Knochenmarksinfiltration [4].
Der wichtigste Risikofaktor für eine schwere, durch Bortezomib-induzierte Thrombozytopenie (≥ Grad 3) ist ein niedriger Thrombozytenwert bei Behandlungsbeginn, wie die Ergebnisse der SUMMIT/CREST-Analyse zeigen: Die Inzidenz an Grad-4-Thrombozytopenien betrug in der Gruppe der Patienten mit einem Ausgangswert unter 70 000/µl 24 %, bei initial höheren Plättchenzahlen dagegen nur 1 %. Patienten, die nicht auf Bortezomib ansprachen, waren tendenziell häufiger von einer Grad-3/4-Thrombozytopenie betroffen als Patienten, die auf Bortezomib mit einer vollständigen oder partiellen Remission ansprachen (56 % vs. 41 %) [4].
Klinische Konsequenzen
Obwohl die Behandlung mit Bortezomib bei knapp 30 % der Patienten eine Thrombozytopenie mit Thrombozytenwerten unter 50 000/µl auslöste, führte diese Nebenwirkung nur selten zu schweren Komplikationen: In den SUMMIT- und CREST-Studien traten bei nur zwei der 228 Patienten Thrombozytopenie-assoziierte Blutungen auf; eine stationäre Behandlung aufgrund einer solchen Blutung war in keinem Fall erforderlich. Thrombozytenkonzentrate erhielten im ersten Zyklus 14,2 % der Patienten, im zweiten Zyklus 16,5 %. In den folgenden Zyklen ging der Anteil der Patienten mit Thrombozytentransfusionen ständig zurück, während zugleich die Thrombozytenzahlen stiegen (Abb. 1).
Dass Bortezomib-induzierte Thrombozytopenien nur selten einen Therapieabbruch erforderten, zeigen die Ergebnisse der Phase-III-Studie (APEX): Von den 315 Patienten im Bortezomib-Arm wurde bei nur 2 % der Patienten die Therapie vorzeitig beendet, weil bei ihnen eine schwere Thrombozytopenie aufgetreten war [6].
Kinetik der Bortezomib-induzierten Thrombozytopenie
Charakteristisch für die Bortezomib-induzierte Thrombozytopenie ist die schnelle Abnahme der Plättchenzahlen während der Behandlung bis zum Tag 11 auf etwa 40 % des Ausgangswerts und die schnelle, nahezu vollständige Erholung der Thrombozytenzahl bis zum nächsten Zyklus an Tag 21. Betrachtet man jeweils die Thrombozytenzahl zu Zyklusbeginn (Ausgangsthrombozytenzahl), so ist bei Patienten mit Therapieansprechen sogar ein Anstieg der Thrombozytenzahl zum jeweils folgenden Zyklusbeginn möglich (Abb. 2). Insgesamt kann man den Verlauf der Thrombozytenzahl mit einer ansteigenden „Sägezahnkurve“ vergleichen.
Verglichen mit den Thrombozytenzahlen am Tag 1 des ersten Zyklus waren die am selben Tag im achten Zyklus gemessenen Thrombozytenzahlen statistisch signifikant höher (178 800/µl vs. 200 100/µl; p < 0,001, gemeinsame Auswertung von SUMMIT und CREST).
Thrombopoetinspiegel
Als Zytokin steuert Thrombopoetin nicht nur die frühe Megakaryozytopoese, sondern beeinflusst auch die anschließenden Wachstums- und Differenzierungsvorgänge bis hin zur Freisetzung der Thrombozyten aus den reifen Megakaryozyten. Eine Bortezomib-Therapie beeinflusst den Thrombopoetinregelkreis nicht.
Bei Patienten der SUMMIT/CREST-Studien wurde eine inverse Korrelation zwischen Plättchenzahlen und Thrombopoetinspiegeln als Zeichen des intakten Thrombopoetinregelkreises festgestellt (Abb. 3) [4].
Hypothetischer Mechanismus der Bortezomib-induzierten Thrombozytopenie
Während sich die Thrombozytenzahl bei einer Chemotherapie-induzierten Thrombozytopenie erst nach zwei bis vier Wochen erholt, wird bei einer Behandlung mit Bortezomib (1,3 mg/m², zweimal wöchentlich, alle drei Wochen) das Thrombozytenausgangsniveau bereits nach etwa 11 Tagen erreicht. Auch bei einer Langzeittherapie über median 14 Zyklen wurde bei Respondern keine kumulative Thrombozytopenie beobachtet [1].
Zytologische Untersuchungen des Knochenmarks zeigen weder eine Abnahme der Megakaryozytenzahl noch strukturelle Veränderungen der Megakaryozyten. Dies weist auf eine funktionelle Störung der Thrombozytenfreisetzung hin. Hierfür spricht ebenfalls die schnelle Erholung nach Absetzen der Therapie. Dies wird durch tierexperimentelle Studien gestützt [4]. Der genaue Mechanismus der Thrombozytenfreisetzung und die Abhängigkeit von der Proteasomfunktion sind bislang nicht aufgeklärt.
Fazit für die Praxis
Bei Myelom-Patienten kann die Proteasom-Inhibition mit Bortezomib eine reversible Thrombozytopenie induzieren. Das Ausmaß der Thrombozytopenie ist umso größer, je niedriger die Thrombozytenwerte bei Behandlungsbeginn sind. Anders als bei einer Thrombozytopenie, die durch eine konventionelle zytotoxische Chemotherapie bedingt ist, gibt es bei Patienten, die mit Bortezomib behandelt werden, bislang keine Hinweise auf eine kumulative Thrombozytopenie.
Erfahrungsgemäß erholen sich die Plättchen bis zum nächsten Behandlungszyklus innerhalb von ein bis zwei Wochen nahezu vollständig. Aus diesem Grund sollte bei einer Bortezomib-induzierten Thrombozytopenie (bis CTC-Grad 3) im Normalfall weder die Dosis des Proteasom-Inhibitors reduziert noch die Therapie unterbrochen, vorzeitig beendet oder verschoben werden. Sehr schwere Thrombozytopenien (CTC-Grad 4) können eine Indikation für die Gabe von Thrombozytenkonzentraten sein und erfordern eine Therapiepause oder einen Therapieabbruch.
Literatur
1. Berenson JR, Jagannath S, Barlogie B, et al. Safety of prolonged therapy with bortezomib in relapsed or refractory multiple myeloma. Cancer 2005;104:2141–8.
2. Doroshow JH. Anthracyclines and anthracenediones. In: Chabner BA, Longo DL. Cancer chemotherapy and biotherapy. Philadelphia: Lippincott-Raven, 1996.
3. Jagannath S, Barlogie B, Berenson J, et al. A phase 2 study of two doses of bortezomib in relapsed or refractory myeloma. Br J Haematol 2004;127:165–72.
4. Lonial S, Waller EK, Richardson PG, et al. Risk factors and kinetics of thrombocytopenia associated with bortezomib for relapsed, refractory multiple myeloma. Blood 2005;106:3777–84.
5. Richardson PG, Barlogie B, Berenson J, et al. A phase 2 study of bortezomib in relapsed, refractory myeloma. N Engl J Med 2003;348:2609–17.
6. Richardson PG, Sonneveld P, Schuster MW, et al. Bortezomib or high-dose dexamethasone for relapsed multiple myeloma. N Engl J Med 2005;352:2487–98.
7. Tew KD, Calvin M, Chabner BA. Alkylating agents. In: Chabner BA, Longo DL. Cancer chemotherapy and biotherapy. Philadelphia: Lippincott-Raven, 1996.
Prof. Dr. med. Hartmut Goldschmidt, Medizinische Klinik V, Universitätsklinikum Heidelberg, Im Neuenheimer Feld 410, 69120 Heidelberg
Prof. Dr. med. Wolfgang Knauf, Onkologie Bethanien, Onkologische Gemeinschaftspraxis, Im Prüfling 17–19, 60389 Frankfurt
Dr. med. Martin Kropff, Universitätsklinikum Münster, Medizinische Klinik und Poliklinik A, Albert-Schweitzer-Str. 33, 48149 Münster
Dr. med. Ralf Angermund, Director Therapeutic Area Oncology & Haematology, ORTHO BIOTECH, Division of Janssen-Cilag GmbH, Raiffeisenstr. 8, 41470 Neuss

Abb. 1. Durchschnittliche Plättchenzahlen am Tag 1 eines Bortezomib-Zyklus und Anteil der Patienten mit Thrombozytentransfusionen [nach 4]

Abb. 2. Durchschnittliche Plättchenzahlen bei der Behandlung mit Bortezomib 1,3 mg/m², zweimal wöchentlich alle drei Wochen (d1, d4, d8, d11) über 8 Zyklen [nach 4]

Abb. 3. Konzentration der peripheren Thrombozyten und Thrombopoetinspiegel bei der Behandlung mit Bortezomib (1,3 mg/m², d1, d4, d8, d11, alle drei Wochen) [nach 4]
Arzneimitteltherapie 2007; 25(02)