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Eine häufige Quelle für Medikationsfehler stellt der Schnittstellenübergang, also der Übergang zwischen verschiedenen Versorgungsebenen im Gesundheitswesen, dar. Ein vermeidbarer Fehler ist in diesem Zusammenhang das Absetzen einer Dauermedikation der Patienten im Krankenhaus, die bei oder nach der Entlassung nicht wieder aufgenommen und fortgesetzt wird. Dies kann insbesondere bei älteren Patienten, die häufig einer oder mehrerer Dauermedikation(en) bedürfen und zudem häufig von verschiedenen Institutionen im Gesundheitswesen versorgt werden oder Hilfe in Anspruch nehmen, zu einem nicht unerheblichen gesundheitlichen Risiko führen.
In einer kanadischen bevölkerungsbasierten Kohortenstudie wurde daher die Gefährdung älterer Patienten durch Medikationsfehler bei einem solchen Schnittstellenübergang untersucht. Gewählt wurde hierzu das möglicherweise unbeabsichtigte Absetzen einer Langzeitmedikation nach geplanten chirurgischen Eingriffen.
Methode
Mit den Daten verschiedener Datenbanken des Gesundheitssystems, in denen beispielsweise alle Verschreibungen an Patienten im Alter von über 65 Jahren oder alle Krankenhausaufenthalte und Interventionen erfasst werden, wurden im Zeitraum April 1997 bis September 2002 Personen ermittelt, die älter als 66 Jahre sind und über bereits mindestens ein Jahr mit Warfarin, CSE-Hemmern oder Betablockern zur topischen Applikation am Auge behandelt wurden.
Diese Arzneistoffe und Arzneistoffklassen wurden gezielt gewählt, um folgende Aspekte unterschiedlicher Behandlungsregime in die Untersuchung einzuschließen:
- Warfarin muss meist aufgrund des erhöhten Blutungsrisikos vor chirurgischen Eingriffen abgesetzt werden und die Therapie so anschließend wieder neu angesetzt werden, was eine Fehlerquelle darstellt
- CSE-Hemmer müssen dagegen vor einer Operation nicht abgesetzt werden; hier besteht die Fehlerquelle darin, dass die Therapie fortgesetzt werden muss
- Ophthalmika wie hier die topischen Betablocker repräsentieren beispielhaft Arzneimittel, die von bestimmten Fachärzten verordnet werden, die normalerweise nicht in die Versorgung von Patienten einbezogen werden, sofern diese aus disziplinfremden Gründen im Krankenhaus behandelt werden müssen.
Die Patienten wurden in drei verschiedene Gruppen eingeteilt (Tab. 1):
- Patienten, die aufgrund eine chirurgischen Eingriffs stationär ins Krankenhaus aufgenommen wurden
- Patienten, die ambulant operiert wurden
- Patienten ohne chirurgische Intervention
Untersucht wurde, wie häufig bei den stationär aufgenommenen Patienten innerhalb von 6 Monaten nach der Entlassung die Dauermedikation nicht fortgesetzt wurde im Vergleich zur Häufigkeit im gleichen Zeitraum bei Patienten, die ambulant operiert wurden oder keine Intervention erhielten.
Ergebnisse
Es zeigte sich, dass Patienten, die eine Langzeitantikoagulation mit Warfarin erhielten und sich einem chirurgischen Eingriff unterziehen mussten, ein erhöhtes Risiko für einen Therapieabbruch innerhalb der ersten 6 Monate nach dem Eingriff hatten; dies galt sowohl für Patienten, die stationär aufgenommen werden mussten, als auch für Patienten, die ambulant operiert wurden (Tab. 2).
Bei Patienten, die CSE-Hemmer einnahmen oder Betablocker topisch applizierten und operiert werden mussten, konnte im Vergleich zu Patienten, die keiner Operation bedurften, kein erhöhtes Risiko festgestellt werden.
Dementsprechend war das Risiko für einen Therapieabbruch nur bei Patienten, die Warfarin als Langzeitmedikation einnahmen, durch einen chirurgischen Eingriff mit stationärer Aufnahme erhöht. Es war mehr als doppelt so hoch wie bei Patienten, die nicht operiert wurden; bei ambulanten Operationen war ihr Risiko mehr als anderthalbfach erhöht.
Für die Therapie mit CSE-Hemmern oder topischen Betablockern konnte demgegenüber kein erhöhtes Risiko festgestellt werden. Dies könnte daran liegen, dass die orale Antikoagulation vor chirurgischen Eingriffen abgesetzt wird, um das Blutungsrisiko zu reduzieren, und es daher nach erfolgter Operation einer aktiven Wiederaufnahme der Therapie bedarf, wobei Arzt und Patient gleichermaßen gefordert sind. So könnte das Risiko auch für andere Arzneistoffklassen wie Thrombozytenfunktionshemmer, die ebenfalls abzusetzen wären, in gleicher Weise erhöht sein.
Schlussfolgerung
Das Bewusstsein für Fehler in der Arzneimitteltherapie, insbesondere bei bestimmten Arzneistoffklassen, durch einen Wechsel in den verschiedenen Versorgungsebenen des Gesundheitswesens muss gestärkt werden. Beispielsweise sollte so ein Aufenthalt im Krankenhaus nicht dazu führen, dass die Therapie der Patienten verschlechtert wird, sondern vielmehr dazu dienen, sie gegebenenfalls zu optimieren oder aber die Compliance zu fördern. Das Risiko der in dieser Studie untersuchten unbeabsichtigten Therapieabbrüche kann durch eine bessere schnittstellenübergreifende Kommunikation zwischen Klinikärzten, Pflege, Niedergelassenen, Apothekern und Patienten reduziert werden.
Einschränkend ist zu diesen Studienergebnissen zu sagen, dass beispielsweise durch die retrospektive Analyse von Patientendaten aus Datenbanken klinische Angaben zu möglichen Gründen für einen Therapieabbruch nicht berücksichtig wurden. Auch könnte unter anderem die unterschiedliche Art der chirurgischen Eingriffe das Therapieergebnis beeinflusst haben, so wurden bei den Operationen, die einen stationären Aufenthalt erforderten, transurethrale Prostataresektionen, Hysterektomie sowie künstlicher Knie- und Hüftgelenkersatz berücksichtigt, bei den ambulanten Operationen waren dies zum Beispiel Cholezystektomie, intraokulare Linsenextraktion und Leistenbruch-Operation.
Quelle
Bell CM, et al. Potentially unintended discontinuation of long-term medication use after elective surgical procedures. Arch Intern Med 2006;166:2525–31.
Tab. 1. Patientendaten (Auswahl) und Häufigkeit von unbeabsichtigt nicht fortgesetzter Dauermedikation bei älteren Patienten, die seit mindestens einem Jahr Warfarin oder CSE-Hemmer einnehmen oder topisch Betablocker am Auge applizieren und sich einer chirurgischen Intervention (ambulant oder mit stationärer Aufnahme) unterziehen mussten, im Vergleich zu Patienten, die keine Operation benötigten (Kontrollgruppe)
Warfarin |
CSE-Hemmer |
Topische Betablocker |
|||||||
Stationäre Patienten (n = 527) |
Ambulante Patienten (n = 17 052) |
Kontrollgruppe (n = 27 641) |
Stationäre Patienten (n = 3 392) |
Ambulante Patienten (n = 57 008) |
Kontrollgruppe (n = 95 772) |
Stationäre Patienten (n = 466) |
Ambulante Patienten (n = 11 716) |
Kontrollgruppe (n = 20 204) |
|
Alter am Indextag*, Median [Jahre] (Interquartilenrange) |
75 (71–79) |
77 (73–81) |
77 (73–82) |
73 (70–76) |
73 (70–77) |
74 (71–78) |
76 (72–80) |
77 (73–82) |
78 (73–83) |
Frauen [n] |
241 |
7 343 |
14 027 |
2 050 |
29 035 |
54 101 |
297 |
6 674 |
12 647 |
Therapieabbrüche [n] |
60 |
1 275 |
1 326 |
136 |
2 198 |
3 713 |
39 |
1 038 |
1 558 |
*Patienten mit stationärer Aufnahme = Tag der Entlassung; Ambulante Patienten = Tag des Eingriffs; Patienten ohne chirurgische Intervention = randomisiert ermittelter Tag innerhalb des Studienzeitraums
Tab. 2. Studienergebnis: Risiko für einen Therapieabbruch in den ersten 6 Monaten nach einem chirurgischen Eingriff (ambulant oder stationär) bei Patienten, die seit mindestens einem Jahr Warfarin oder CSE-Hemmer einnahmen oder Betablocker topisch am Auge anwendeten, im Vergleich zu Patienten, die ebenfalls einer solchen Medikation aber, keiner Operation bedurften
Risiko für einen Therapieabbruch |
|||
Gruppe* |
Warfarin |
CSE-Hemmer |
Topische Betablocker |
Stationäre Aufnahme für geplanten chirurgischen Eingriff |
2,6 (2,0–3,4) |
1,0 (0,9–1,2) |
1,0 (0,8–1,5) |
Ambulanter chirurgischer Eingriff |
1,6 (1,4–1,7) |
1,0 (1,0–1,1) |
1,1 (1,0–1,2) |
*Vergleichsgruppe war jeweils die Gruppe der Patienten, die keiner chirurgischen Intervention bedurften
+ Adjustiert nach Alter, Geschlecht, Einkommen, Anzahl verschriebener Arzneimittel, Aufsuchen eines Hausarztes, Internisten oder anderer Fachärzte
Arzneimitteltherapie 2007; 25(05)