Orale Antikoagulation in der Prävention nicht wirksamer als Acetylsalicylsäure
Prof. Dr. Hans Christoph Diener, Essen
Hintergrund
Es ist unbestritten, dass orale Antikoagulanzien in der Sekundärprävention des Schlaganfalls bei Patienten mit Vorhofflimmern und absoluter Arrhythmie wirksam sind. Eine erste Studie (SPIRIT = The stroke prevention in reversible ischemia trial) zum Einsatz von oraler Antikoagulation bei Patienten mit zerebraler Ischämie oder kardiale Emboliequelle mit INR-Werten zwischen 2 und 3,5 zeigte inakzeptable Raten von Blutungskomplikationen in der Patientengruppe, die antikoaguliert wurde. Die WarfarinAspirin-Schlaganfallpräventions-Studie (WARSS) ergab keine Überlegenheit der oralen Antikoagulation gegenüber der Gabe von Acetylsalicylsäure, aber eine erhöhte Rate an Blutungskomplikationen bei der oralen Antikoagulation. Die internationale Studie ESPRIT (European/Australasian stroke prevention in reversible ischaemia trial) sollte abschließend die Frage beantworten, ob es zwischen der oralen Antikoagulation und der Gabe von Acetylsalicylsäure in der Sekundärprävention des Schlaganfalls Unterschiede gibt.
Studiendesign
Bei ESPRIT handelt es sich um eine internationale multizentrische Studie, in der Patienten, die in den letzten sechs Monaten eine TIA oder einen leichten Schlaganfall erlitten hatten, entweder eine orale Antikoagulation erhielten mit einem INR zwischen 2 und 3 oder mit Acetylsalicylsäure in Dosierungen zwischen 30 und 325 mg behandelt wurden. Das primäre Zielkriterium war die Kombination von vaskulärem Tod, nichttödlichem Schlaganfall, nichttödlichem Myokardinfarkt und schwerwiegenden Blutungskomplikationen. Die Zuordnung zur Studienmedikation war offen, die Endpunkte wurden verblindet evaluiert.
Nach Abschluss der Studie wurden die Ergebnisse der Antikoagulations-Gruppe mit einer weiteren Patientengruppe verglichen, nämlich den Patienten, die die Kombination von Acetylsalicylsäure und Dipyridamol erhalten hatten.
Ergebnis
536 Patienten erhielten eine orale Antikoagulation und 532 wurden mit Acetylsalicylsäure behandelt. Die mittlere Beobachtungszeit betrug 4,6 Jahre, der mittlere INR betrug 2,57. Der primäre Endpunkt trat bei 99 Patienten in der Antikoagulations-Gruppe auf, dies entspricht 19 %, und bei 98 Patienten in der Acetylsalicylsäure-Gruppe, dies entspricht 18 %. Dieser Unterschied war nicht signifikant.
Bei 62 Patienten in der Antikoagulations- und 84 in der Acetylsalicylsäure-Gruppe traten ischämische Ereignisse auf.
Umgekehrt kam es in der Antikoagulations-Gruppe zu 45 schwerwiegenden Blutungskomplikationen, zu 18 bei Gabe von Acetylsalicylsäure.
Der Vergleich zwischen oraler Antikoagulation und der Kombination von Acetylsalicylsäure und Dipyridamol ergab eine 31%ige relative Risikoreduktion zugunsten der Kombination der beiden Thrombozytenfunktionshemmer.
Die Blutungskomplikationen in der Antikoagulations-Gruppe traten fast ausschließlich bei Patienten auf, bei denen ein INR von > 3,5 bestand.
Kommentar
Es gibt jetzt insgesamt vier Studien, in denen die orale Antikoagulation mit Thrombozytenfunktionshemmern in der Sekundärprävention des Schlaganfalls untersucht wurde. Die Studie SPIRIT wurde vorzeitig abgebrochen, da es in dieser Studie, die INR-Werte der oralen Antikoagulation zwischen 3 und 4,5 verwendete, zu einer inakzeptablen Zahl schwerwiegender Blutungskomplikationen gekommen war. In der WASID-Studie (Warfarin-Aspirin symptomatic intracranial disease) wurden Patienten mit hochgradigen intrakraniellen Stenosen und Verschlüssen untersucht, und es fand sich bei identischer Wirksamkeit von oraler Antikoagulation und der Gabe hoch dosierter Acetylsalicylsäure eine signifikant erhöhte Blutungsrate der oralen Antikoagulation. In WARSS ergab sich ebenfalls kein Vorteil der oralen Antikoagulation gegenüber Acetylsalicylsäure bei vermehrten Blutungskomplikationen. In dieser Studie betrugen die Ziel-INR-Werte zwischen 1,4 und 2,8.
Die Ergebnisse von ESPRIT zeigen, dass eine orale Antikoagulation mit Warfarin zwar ischämische Ereignisse etwas besser verhindert als Acetylsalicylsäure, sie zeigen aber auch, dass dieser leichte Vorteil völlig durch schwerwiegende Blutungskomplikationen aufgehoben wird. In ESPRIT wird auch eine weitere Frage beantwortet, nämlich was zu tun ist, wenn ein Patient unter einer Behandlung mit Acetylsalicylsäure ein ischämisches Ereignis erleidet. Hier ist die Umstellung auf eine orale Antikoagulation keine Option, sondern die zusätzliche Gabe von Dipyridamol erforderlich. Die Studie zeigt auch eindrucksvoll, dass das Blutungsrisiko bei oraler Antikoagulation dramatisch ansteigt, wenn der INR über Werten von 4,5 liegt. ESPRIT hatte aus gutem Grund Patienten mit ausgeprägter Mikroangiopathie ausgeschlossen. Dies erklärt, warum die Rate von zerebralen Blutungen in der Studie ESPRIT signifikant niedriger war als in der älteren Studie SPIRIT.
Quelle
The ESPRIT Study Group. Medium intensity oral anticoagulants versus aspirin after cerebral ischaemia of arterial origin (ESPRIT): a randomised controlled trial. Lancet Neurol 2007;6:115–24.
Hintergrund
Die einzige bisher zugelassene Behandlung des ischämischen Insults im 3-Stundenfenster ist die systemische Thrombolyse mit rekombinantem Gewebeplasminogenaktivator (Alteplase = Actilyse®). Voraussetzung für die Zulassung in Europa war allerdings, dass eine prospektive Beobachtungsstudie durchgeführt wird, die die Sicherheit der Behandlung im klinischen Einsatz belegt.
Studiendesign
SITS-MOST (Safe implementation of thrombolysis in stroke-monitoring study) ist ein prospektives Register, das in Schweden angesiedelt wurde und in das Internet-basiert Patientendaten eingegeben werden konnten von Patienten, die wegen eines ischämischen Insults mit Alteplase behandelt worden waren. Insgesamt wurden 6 483 Patienten aus 285 Zentren in 14 Ländern zwischen 2002 und 2006 beobachtet. Primäre Zielparameter waren die Häufigkeit symptomatischer intrazerebraler Blutungen innerhalb von 24 Stunden gemessen mit einer Verschlechterung des National-of-Health-Schlaganfallwerts von 4 oder mehr und die Sterblichkeit nach drei Monaten. Die Ergebnisse von SITS-MOST wurden mit den Ergebnissen der NINDS-Studie (NINDS = National Institute of Neurological Disorders and Stroke), der ECASS-Studien I und II (European cooperative acute stroke study) und der ATLANTIS-Studie (The alteplase thrombolysis for acute noninterventional therapy in ischemic stroke) verglichen. Die Patientencharakteristika Begleiterkrankungen und Risikofaktoren waren im SITS-MOST-Register und bei den randomisierten Studien identisch.
Ergebnis
Die Häufigkeit symptomatischer intrazerebraler Blutungen innerhalb der ersten 24 Stunden betrug 1,7 %. Innerhalb der ersten sieben Tage erlitten 7,3 % der Patienten eine intrazerebrale Blutung verglichen mit 8,6 % in den randomisierten Studien. Die Sterblichkeit nach drei Monaten in SITS-MOST betrug 11,3 % verglichen mit 17,3 % in den randomisierten Studien. Ein gutes Outcome, das heißt einen Ranking-Wert zwischen 0 und 2 nach drei Monaten, hatten 54,8 % der Patienten in der SITS-MOST-Studie verglichen mit 49 % in den randomisierten Studien. Zentren, die neu mit der Lyse begannen, hatten nur eine unwesentlich höhere Komplikationsrate als Zentren, die bereits Erfahrung hatten.
Kommentar
Es gibt nur wenige Beispiele, wo die praktische Umsetzung einer neuen Therapie in den klinischen Alltag sorgfältig überwacht wurde. Ein gutes Beispiel ist hier das SITS-MOST-Register. Diese Register sind allerdings nur möglich, seitdem es gelungen ist, Datenerhebungen im Internet durchzuführen. Die Studie zeigt sehr eindrucksvoll, dass die Anwendung von Alteplase in der klinischen Praxis genauso sicher ist wie im Rahmen randomisierter Studien. Der Outcome der Patienten ist tendenziell sogar besser als in den Studien, was unter anderem daran liegen kann, dass sich in der Zwischenzeit die Behandlung von Begleiterkrankungen und Risikofaktoren verbessert hat. Wichtig ist auch die Erkenntnis, dass unerfahrene Zentren relativ schnell den Umgang mit der systemischen Thrombolyse lernen und nur eine unwesentlich höhere Komplikationsrate haben als erfahrene Zentren.
Quelle
Wahlgren N, Ahmed N, Dávalos A, Ford GA, et al. for the SITS-MOST Investigators. Thrombolysis with alteplase for acute ischaemic stroke in the Safe Implementation of Thrombolysis in Stroke-Monitoring Study (SITS-MOST): an observational study. Lancet 2007;369:275–82.
Arzneimitteltherapie 2007; 25(07)