Venöse Thromboembolien

Orale Primärprophylaxe mit Dabigatran


Veröffentlicht am: 28.11.2019

Dr. Annemarie Musch, Stuttgart

Der orale direkte Thrombin-Inhibitor Dabigatran (Pradaxa®) wurde in Europa am 27. März 2008 zur Primärprävention venöser thromboembolischer Ereignisse bei Erwachsenen nach einer elektiven Hüft- oder Kniegelenkersatz-Operation zugelassen. Aktuelle Daten wurden im Rahmen eines von Boehringer Ingelheim veranstalteten internationalen Journalistentreffens in Ingelheim am 5. März 2008 präsentiert.

Patienten, die sich einer Hüft- oder Kniegelenkersatz-Operation unterziehen müssen, haben ein hohes Risiko für thromboembolische Komplikationen. Nach den Empfehlungen der 2003 veröffentlichten interdisziplinären „Leitlinie zur stationären und ambulanten Thromboembolie-Prophylaxe in der Chirurgie und der perioperativen Medizin“ der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) sollten Patienten mit hohem Risiko zusätzlich zu physikalischen Maßnahmen eine medikamentöse Thromboembolie-Prophylaxe erhalten. Diese Prophylaxe wird in Europa normalerweise präoperativ – etabliert ist die Gabe eines niedermolekularen Heparins – oder möglichst bald nach dem Trauma begonnen.

Seit Mitte April 2008 ist mit Dabigatran eine neue Option zur medikamentösen Thromboembolie-Prophylaxe bei erwachsenen Patienten nach einer elektiven Hüft- oder Kniegelenkersatz-Operation in Deutschland im Handel verfügbar.

Dabigatran (Abb. 1) ist ein direkter Thrombin-Inhibitor. Durch die Interaktion mit diesem Schlüsselenzym der Gerinnungskaskade werden drei für die Thrombusbildung zentrale Schritte gehemmt: die Thrombin-vermittelte Fibrin-Bildung, die Quervernetzung zum Fibrin-Polymer und die über Thrombin stimulierte Thrombozytenaktivierung und -aggregation. Dabigatran hemmt sowohl freies als auch fibringebundenes Thrombin. Die gerinnungshemmende Wirkung korreliert mit der Plasmakonzentration des Thrombin-Inhibitors.

Phase-III-Ergebnisse

In zwei doppelblinden, randomisierten Phase-III-Studien wurde die Wirksamkeit von Dabigatran in der Primärprävention venöser Thromboembolien bei Patienten, die sich einer elektiven Hüft- oder Kniegelenkersatz-Operation unterziehen mussten, untersucht. In der Studie RE-NOVATE&TRADE wurden Patienten, die eine Hüftgelenktotalendoprothese erhielten, behandelt, in der Studie RE-MODEL&TRADE Patienten, die eine Kniegelenktotalendoprothese erhielten. Als aktive Kontrolle diente in beiden Studien die derzeitige Standardprophylaxe in Europa, die subkutane Gabe von Enoxaparin.

In den Studien sollte die Nicht-Unterlegenheit der oralen Prophylaxe mit Dabigatran gegenüber der Standardprophylaxe gezeigt werden.

In beiden Studien wurde Dabigatran in zwei verschiedenen Dosierungen (150 und 220 mg einmal täglich) eingesetzt: Die Patienten nahmen am Operationstag in den ersten 1 bis 4 Stunden nach der Operation zunächst die halbe Dabigatran-Dosis entsprechend 75 oder 110 mg ein; an den folgenden Tagen, über die die Thromboembolie-Prophylaxe fortgesetzt wurde, nahmen die Patienten die volle Dabigatran-Dosis ein, das heißt entweder 150 oder 220 mg Dabigatran.

Die Patienten der Enoxaparin-Gruppen erhielten in beiden Studien am Tag vor der Operation sowie im Anschluss täglich 40 mg Enoxaparin subkutan.

Bei den Patienten, die eine Kniegelenktotalendoprothese erhielten, wurde die Prophylaxe über einen Zeitraum von 6 bis 10 Tagen durchgeführt (RE-MODEL-Studie). In der RE-NOVATE-Studie mit Patienten, die eine Hüftgelenktotalendoprothese erhielten, erfolgte die Prophylaxe über 28 bis 35 Tage.

Der primäre kombinierte Endpunkt umfasste in beiden Studien

  • die Gesamtzahl venöser thromboembolischer Ereignisse – einschließlich Lungenembolien, proximaler und distaler tiefer Venenthrombosen –, sowohl symptomatische als auch asymptomatische, die bei routinemäßig durchgeführter Phlebographie festgestellt wurden, und
  • die Sterblichkeit aufgrund aller Ursachen.

Die Nicht-Unterlegenheit der Prophylaxe mit Dabigatran gegenüber der Standardprophylaxe mit Enoxaparin konnte in beiden Studien gezeigt werden (Tab. 1 und 2).

Symptomatische venöse Thromboembolien traten in der RE-MODEL-Studie bei 14 Patienten während der Behandlung auf (tiefe Venenthrombosen: n = 4 in den Dabigatran-Gruppen bzw. n = 8 in der Enoxaparin-Gruppe; Lungenembolien: jeweils n = 1); in der RE-NOVATE-Studie wurden diese Ereignisse bei 25 Patienten beobachtet (tiefe Venenthrombosen: n = 15 in den Dabigatran-Gruppen bzw. n = 1 in der Enoxaparin-Gruppe; Lungenembolien: n = 6 in den Dabigatran-Gruppen bzw. n = 3 in der Enoxaparin-Gruppe).

In beiden Studien wurde kein signifikanter Unterschied im Blutungsrisiko zwischen den Behandlungsgruppen festgestellt. Gleiches gilt für Veränderungen der Leberwerte unter der Therapie und für akute Koronarereignisse.



Quellen

Prof. Dr. Dr. P. M. Rommens, Mainz, Dr. Dr. A. Barner, Ingelheim, Dr. H. R. Büller, Amsterdam, Prof. Dr. S. Frostick, Liverpool. Internationales Journalistentreffen venöse Thromboembolie, Ingelheim, 5. März 2008, veranstaltet von Boehringer Ingelheim.

http://www.uni-duesseldorf.de/awmf/ll/003-001.htm

http://www.emea.europa.eu/humandocs/PDFs/EPAR/pradaxa/H-829-en6.pdf

Eriksson BI, et al. Dabigatran etexilate versus enoxaparin for prevention of venous thromboembolism after total hip replacement: a randomised, double, blind, non-inferiority trial. Lancet 2007;370:949–56.

Eriksson BI, et al. Oral dabigatran etexilate vs. subcutaneous enoxaparin for the prevention of venous thromboembolism after knee replacement: the RE-MODEL randomized trial. J Thromb Haemost 2007;5:2178–85.


Abb. 1. Der orale direkte Thrombin-Inhibitor Dabigatran

Tab. 1. Ergebnis im primären Endpunkt: Thromboembolie-Prophylaxe mit Dabigatran bei Patienten, die sich einer Kniegelenkersatz-Operation unterziehen mussten, im Vergleich zur Standardprophylaxe mit subkutan verabreichtem Enoxaparin (Phase-III-Studie RE-MODEL) [nach Erikkson BI, et al. J Thromb Haemost 2007]

Dabigatran 150 mg
(n = 526)

Dabigatran 220 mg
(n = 503)

Enoxaparin 40 mg
(n = 512)

VTE-Ereignisse und Sterblichkeit aufgrund aller Ursachen [n] (%)
(95%-KI)

213 (40,5)
(36,3–44,7)

183 (36,4)
(32,2–40,6)

193 (37,7)
(33,5–41,9)

Absoluter Unterschied vs. Enoxaparin [%-Punkte] (95%-KI)

2,8 (–3,1–8,7)

–1,3 (–7,3–4,6)

p-Wert für Nicht-Unterlegenheit gegenüber Enoxaparin

0,017

0,0003

VTE: venöse Thromboembolien (einschließlich Lungenembolie, proximaler und distaler tiefer Venenthrombose, symptomatische und asymptomatische, bei routinemäßiger Phlebographie festgestellt); 95%-KI: 95%-Konfidenzintervall

Tab. 2. Ergebnis im primären Endpunkt: Thromboembolie-Prophylaxe mit Dabigatran bei Patienten, die sich einer Hüftgelenkersatz-Operation unterziehen mussten, im Vergleich zur Standardprophylaxe mit subkutan verabreichtem Enoxaparin (Phase-III-Studie RE-NOVATE) [nach Erikkson BI, et al. Lancet 2007]

Dabigatran 150 mg
(n = 874)

Dabigatran 220 mg
(n = 880)

Enoxaparin 40 mg
(n = 897)

VTE-Ereignisse und Sterblichkeit aufgrund aller Ursachen [n] (%)
(95%-KI)

75 (8,6)
(6,7–10,4)

53 (6,0)
(4,5–7,6)

60 (6,7)
(5,1–8,3)

Absoluter Unterschied vs. Enoxaparin [%-Punkte] (95%-KI)

1,9 (–0,6–4,4)

–0,7 (–2,9–1,6)

p-Wert für Nicht-Unterlegenheit gegenüber Enoxaparin

< 0,0001

< 0,0001

VTE: venöse Thromboembolien (einschließlich Lungenembolie, proximaler und distaler tiefer Venenthrombose, symptomatische und asymptomatische, bei routinemäßiger Phlebographie festgestellt); 95%-KI: 95%-Konfidenzintervall


Arzneimitteltherapie 2008; 26(07)