Dabigatran


Orale Antikoagulation mit direktem Thrombin-Inhibitor

Markus Quante, Neustadt in Holstein, Markus D. Schofer, Marburg, und Annemarie Musch, Stuttgart

Der orale direkte Thrombin-Inhibitor Dabigatranetexilat (Pradaxa®) wurde in Europa am 27. März 2008 zur Prävention venöser thromboembolischer Ereignisse bei Erwachsenen nach einer elektiven Hüft- oder Kniegelenkersatz-Operation zugelassen. Das neue Antikoagulans ist in Deutschland seit Mitte April 2008 im Handel verfügbar. In zwei Phase-III-Studien konnte die Nichtunterlegenheit von Dabigatranetexilat gegenüber der Standardtherapie mit dem niedermolekularen Heparin Enoxaparin in der Primärprävention venöser Thromboembolien bei Patienten nach elektiver Hüft- oder Kniegelenkersatz-Operation gezeigt werden. Hinsichtlich der Arzneimittelsicherheit und der Nebenwirkungsraten zeigen sich zwischen Dabigatranetexilat und Enoxaparin keine Unterschiede. Merkmale der neuen Substanz, die eine Abgrenzung zu bisherigen Standards ermöglichen, sind insbesondere die orale Gabe, die fehlende Notwendigkeit eines Monitorings sowie die sichere Vermeidung einer Heparin-induzierten Thrombozytopenie (HIT) Typ II. Inwieweit diese Abgrenzungsmerkmale Grund für den Einsatz der neuen Substanz sind, soll in diesem Artikel diskutiert werden.
Arzneimitteltherapie 2009;27:71–8.

Patienten, die sich einer Hüft- oder Kniegelenkersatz-Operation unterziehen, haben per se ein hohes Risiko für thromboembolische Komplikationen [1, 2]. Darüber hinaus gibt es natürlich eine Vielzahl elektiver und notfallmäßiger Eingriffe, die mit einem zumindest mittleren oder auch hohen Thromboembolierisiko einhergehen. Dabei ist unbedingt zu berücksichtigen, dass der Patient neben dem expositionellen (also Therapie-bedingten) Risiko auch dispositionelle Risiken aufweist, die durch seine individuellen Komorbiditäten bedingt sind. Beide zusammen bestimmen letztlich das individuelle Thromboembolierisiko eines jeden Patienten. Nach den Empfehlungen der 2003 veröffentlichten interdisziplinären „Leitlinie zur stationären und ambulanten Thromboembolieprophylaxe in der Chirurgie und der perioperativen Medizin“ der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) sollten Patienten mit mittlerem oder hohem Risiko zusätzlich zu physikalischen Maßnahmen (z. B. graduierte Kompressionsstrümpfe) und Frühmobilisation auch eine medikamentöse Thromboembolieprophylaxe erhalten [1]. Ergänzend stellt die AWMF ausdrücklich fest, dass eine indikationsgerechte Thromboembolieprophylaxe erfolgen soll, solange der behandelte Patient einem erhöhten Thromboembolierisiko ausgesetzt ist. Diese Feststellung findet sich nicht nur in den deutschen, sondern auch in den ganz aktuellen nordamerikanischen Leitlinien und in der internationalen Literatur [2].

Die medikamentöse Prophylaxe wird in Europa üblicherweise präoperativ (elektive Operationen) oder möglichst bald nach einem Trauma begonnen. Etabliert hat sich in Europa die Gabe niedermolekularer Heparine (NMH) in prophylaktischer Dosierung. Die historische Entwicklung, dass die NMH gegenüber den unfraktionierten Heparinen deutlich bevorzugt werden, ist insbesondere durch die niedrigere Inzidenz der HIT Typ II [3, 4] und die etwas bessere prophylaktische Wirksamkeit zu erklären [2]. Auch unter NMH gibt es jedoch noch signifikant häufig klinisch manifeste Thromboembolien in einer Größenordnung von bis zu 3% [2]. Zur Dauer der Thromboembolieprophylaxe in der Orthopädie und Unfallchirurgie zeigt die wissenschaftliche Evidenz, dass Patienten nach elektiver Hüftgelenkersatz-Operation signifikant von einer 5-wöchigen Prophylaxe profitieren [2, 5]. Die Übernahme einer entsprechenden Empfehlung in die neue AWMF-Leitlinie, die in Kürze erwartet werden darf, ist sehr wahrscheinlich. Hingegen gibt es für die prolongierte Prophylaxe über 5 Wochen nach elektiver Kniegelenkersatz-Operation keine harte Evidenz, so dass die Empfehlung diesbezüglich entsprechend zurückhaltend ausgesprochen wird [2]. Letztlich muss sich der Therapeut bei der Entscheidung zur Dauer der Prophylaxe natürlich wesentlich an dem individuellen Risiko und dessen Persistenz orientieren [1].

In dem somit kurz geschilderten Umfeld der Thromboembolieprophylaxe in Orthopädie und Unfallchirurgie ist erkennbar, dass es durchaus Potenzial für Verbesserungen gibt. Diese können in erster Linie die Sicherheit, das Nebenwirkungsrisiko und die Effektivität der derzeit verbreiteten Substanzen betreffen. Auch sind Verbesserungen in der praktischen Anwendung möglicherweise relevant. Der erste orale Thrombin-Inhibitor mit entsprechender Zulassung scheiterte nach kurzer Zeit aufgrund hepatotoxischer Nebenwirkungen und wurde vom Markt genommen.

Am 27. März 2008 wurde der orale direkte Thrombin-Inhibitor Dabigatranetexilat (Pradaxa®) zur Thromboembolieprophylaxe bei erwachsenen Patienten nach einer elektiven Hüft- oder Kniegelenkersatz-Operation zugelassen. Der neue Arzneistoff ist seit Mitte April 2008 in Deutschland im Handel verfügbar. Aus fachlicher Sicht sollte die klinische Einführung einer neuen Substanz sehr kontrolliert unter Berücksichtigung der Arzneimittelsicherheit, der Wirksamkeit sowie des Zulassungsstatus erfolgen. In dieser Übersicht werden die entsprechenden Daten zusammenfassend dargestellt und auf dem Hintergrund bisheriger Standards bewertet.

Pharmakologie

Pharmakodynamik

Dabigatran (Abb. 1) ist ein direkter kompetitiver Thrombin-Inhibitor.

Abb. 1. Dabigatran

Thrombin ist ein Schlüsselenzym der Gerinnungskaskade (Abb. 2). Thrombin spielt eine zentrale Rolle für die Blutgerinnung, indem es die Bildung von Fibrin herbeiführt und zur Ausbildung des quervernetzten Fibrin-Polymers beiträgt. Weiterhin stimuliert Thrombin über Interaktion mit spezifischen Rezeptoren auf Thrombozyten die Thrombozytenaktivierung und -aggregation [6].

Abb. 2. Stark vereinfachte Gerinnungskaskade Thrombin, eine Serinprotease, ist das Schlüsselenzym der Gerinnungskaskade: In der Initiationsphase kommt es bei Gewebsverletzung über den extrinsischen Weg durch die Aktivierung verschiedener Gerinnungsfaktoren zur Bildung von Thrombin aus Prothrombin – initial in geringer Menge. Über positive Verstärkung wird durch die vermehrte Bildung der Cofaktoren VIII und V der intrinsische Weg der Blutgerinnung aktiviert und vermehrt Thrombin gebildet. Dies ermöglicht nun die Spaltung von Fibrinogen zu Fibrinmonomeren, die aggregieren und schließlich in Anwesenheit des Gerinnungsfaktors XIIIa – einer Transglutaminase, die wiederum durch Thrombin aktiviert wird – kovalent verknüpft werden. Über die Bindung von freiem Thrombin an spezifische Rezeptoren auf Endothelzellen ist u. a. eine endogene Kontrolle der Blutgerinnung möglich. Es kommt beispielsweise zur Aktivierung von Protein C, das die Cofaktoren Va und VIIIa inaktiviert und damit die Bildung von Thrombin hemmt.

Thrombin spielt aber nicht nur in der Aktivierung der Blutgerinnung eine zentrale Rolle, sondern vermittelt darüber hinaus auch eine endogene Kontrolle der Blutgerinnung und wirkt so einer über die erforderliche Abdichtung der Gefäßverletzungsstelle hinausgehenden Thrombusbildung entgegen. Thrombin als Zielenzym einer effektiven Antikoagulation wird gegenüber der Alternative der Faktor-Xa-Hemmung durchaus kontrovers diskutiert [7, 8].

Der Thrombin-Inhibitor Dabigatran hemmt drei für die Thrombusbildung zentrale Schritte: die Thrombin-vermittelte Fibrin-Bildung, die Quervernetzung zum Fibrin-Polymer und die über Thrombin stimulierte Thrombozytenaggregation. Dabigatran hemmt hierbei sowohl freies als auch fibringebundenes Thrombin.

Die Plasmakonzentration von Dabigatran korreliert mit der antikoagulierenden Wirkung [9–13].

Pharmakokinetik

Wichtige pharmakokinetische Daten von Dabigatranetexilat sind in Tabelle 1 zusammengefasst.

Tab. 1. Pharmakokinetik von Dabigatranetexilat [16]

Absolute Bioverfügbarkeit

6,5%

Maximale Plasmakonzentration (Cmax)

0,5 bis 2 h (bei Gesunden nach der Einnahme)
6 h (bei Patienten nach der Anwendung im postoperativen Intervall, 1 bis 3 h nach einer Operation)*

Verteilungsvolumen

60 bis 70 l

Plasmaproteinbindung

34 bis 35%

Plasmahalbwertszeit (t1/2), mittlere terminale

12 bis 14 h (bei Gesunden)
14 bis 17 h (bei Patienten nach einem größeren orthopädischen Eingriff)

*Die im Vergleich zu Gesunden relativ langsame Resorption ist auf Faktoren zurückzuführen, die im Zusammenhang mit der Operation stehen (z. B. Anästhesie, gastrointestinale Parese, verzögerte Resorption)

Untersuchungen an gesunden Probanden haben gezeigt, dass Dabigatranetexilat bei einer insgesamt geringen Bioverfügbarkeit (<10%) nach Resorption rasch und vollständig überwiegend durch Esterase-katalysierte Hydrolyse in der Leber und im Plasma in die aktive Form Dabigatran umgewandelt wird. Dabigatran wird nicht über Cytochrom-P450-Enzyme metabolisiert. Die höchsten Konzentrationen von Dabigatran im Plasma gesunder Probanden werden dabei etwa 1,5 Stunden nach Gabe gemessen, wobei sich dieser Zeitpunkt bei Nahrungsaufnahme zeitlich um etwa 2 Stunden verschieben kann [11, 13]. Eine Altersabhängigkeit der maximalen Plasmakonzentration ist ebenfalls gegeben, so zeigen Probanden, die älter als 65 Jahre sind, eine Verschiebung der maximalen Plasmakonzentration auf 3 Stunden nach Einnahme [12]. In einer Studie nach primärem Hüftgelenkersatz zeigte sich die maximale Plasmakonzentration nach 6 Stunden [14, 15]. Die Bioverfügbarkeit von Dabigatran wird durch Mahlzeiten nicht beeinflusst. Die Gesamtplasmakonzentration (Fläche unter der Konzentrations-Zeit-Kurve, area under the curve, AUC) und die maximale Plasmakonzentration von Dabigatran sind dosisproportional, es gibt keine Hinweise für eine Interaktion mit der Nahrungsaufnahme oder auch mit dem postoperativen Zustand in den ersten Stunden nach OP-Ende. [13, 14].

Die Ausscheidung von Dabigatran nach oraler Gabe erfolgt in unveränderter Form weitgehend über die Nieren, in den Fäzes finden sich weniger als 5% der primären Dosis [11, 13, 16].

Ein kleiner Teil der Gesamtdosis (0,4%) wird glucuronidiert, es entstehen pharmakologisch wirksame Glucuronide, die ebenfalls im Urin nachweisbar sind [9, 13].

Bei Patienten mit mäßiger Nierenfunktionsstörung (Creatinin-Clearance 30–50 ml/min) war die Gesamtplasmakonzentration verglichen mit der von Probanden ohne Nierenfunktionsstörungen etwa 2,7fach, bei Patienten mit schweren Nierenfunktionsstörungen (Creatinin-Clearance 10–30 ml/min) 6fach erhöht. Die Halbwertszeit war bei Patienten mit schweren Nierenfunktionsstörungen etwa verdoppelt gegenüber der von Patienten ohne Nierenfunktionsstörungen [9, 12].

Zum Einsatz von Dabigatranetexilat bei Patienten mit einem Körpergewicht <50 kg oder >110 kg und älteren Patienten liegen nur begrenzt Daten vor. Eine Dosisanpassung scheint nicht erforderlich zu sein. Es wird jedoch empfohlen, diese Patienten engmaschig zu überwachen.

Bei Frauen war die Gesamtplasmakonzentration von Dabigatran um 40 bis 50% höher als bei Männern. Eine Dosisanpassung wird nicht empfohlen [16].

Wirksamkeit

In zwei doppelblinden, randomisierten, double-dummy-kontrollierten dreiarmigen Phase-III-Studien wurde die Wirksamkeit von Dabigatranetexilat in der Primärprävention venöser Thromboembolien bei Patienten geprüft, die sich einer elektiven Hüft- oder Kniegelenkersatz-Operation unterzogen[17, 18]. In den Studien sollte die Nichtunterlegenheit der oralen Prophylaxe venöser Thromboembolien mit Dabigatranetexilat gegenüber der Standardprophylaxe gezeigt werden. In der Studie RE-NOVATE wurden Patienten, die eine Hüftgelenktotalendoprothese erhielten, behandelt. In der Studie RE-MODEL wurden Patienten mit Kniegelenktotalendoprothese eingeschlossen. Als aktive Kontrolle diente in beiden Studien die derzeitige Standardprophylaxe in Europa, die subkutane Gabe von Enoxaparin 40 mg einmal täglich, die präoperativ begonnen wird.

Als zweiter beziehungsweise dritter Studienarm wurde Dabigatranetexilat in den Dosierungen 150 mg beziehungsweise 220 mg einmal täglich eingesetzt. Die Patienten nahmen erstmals am Operationstag in dem Zeitfenster 1 bis 4 Stunden nach der Operation zunächst die halbe Dabigatranetexilat-Dosis (75 beziehungsweise 110 mg) ein. An den folgenden Tagen nahmen die Patienten dann die jeweils volle Dabigatranetexilat-Dosis ein, das heißt entweder 150 oder 220 mg Dabigatranetexilat. Die Studienmedikation erfolgte bei Patienten nach elektiver Kniegelenkersatz-Operation über einen Zeitraum von 6 bis 10 Tagen und nach elektiver Hüftgelenkersatz-Operation für 28 bis 35 Tage, danach erfolgte die primäre Endpunktbestimmung.

Der primäre kombinierte Endpunkt hinsichtlich der Wirksamkeit umfasste in beiden Studien

  • die Gesamtzahl symptomatischer als auch asymptomatischer venöser thromboembolischer Ereignisse – einschließlich Lungenembolien, proximaler und distaler tiefer Venenthrombosen, die bei routinemäßig durchgeführter Phlebographie festgestellt wurden – und
  • die Sterblichkeit aufgrund aller Ursachen.
  • Erwähnenswerte sekundäre Endpunkte sind vor klinischem Hintergrund insbesondere:
  • die sogenannten schweren venösen thromboembolischen Ereignisse (proximale tiefe Venenthrombose [TVT] und Lungenembolien) inklusive der Sterblichkeit aufgrund dieser Ereignisse
  • die proximalen TVT
  • die symptomatischen Thromboembolien

Sowohl im primären Endpunkt als auch in den genannten wichtigen klinischen sekundären Endpunkten konnte die Nichtunterlegenheit der Prophylaxe mit Dabigatranetexilat in beiden getesteten Dosierungen sowohl nach Hüft- als auch nach Kniegelenkersatz-Operation gegenüber der Standardprophylaxe mit Enoxaparin statistisch gezeigt werden (Tab. 2 und 3).

Tab. 2. Ergebnisse der Prophylaxe venöser Thromboembolien mit dem oralen Thrombin-Inhibitor Dabigatranetexilat bei Patienten mit Kniegelenkersatz-Operation im Vergleich zur Standardprophylaxe mit subkutan verabreichtem Enoxaparin (Ergebnisse der Phase-III-Studie RE-MODEL [18]

Dabigatranetexilat 150 mg

Dabigatranetexilat 220 mg

Enoxaparin 40 mg

Primärer Endpunkt

VTE-Ereignisse und Sterblichkeit aufgrund aller Ursachen [n/N*] (%)
95%-Konfidenzintervall

213/526 (40,5)
36,3–44,7

183/503 (36,4)
32,2–40,6

193/512 (37,7)
33,5–41,9

Sekundäre Endpunkte

Schwere VTE-Ereignisse und Sterblichkeit aufgrund von VTE-Ereignissen [n/N] (%)
95%-Konfidenzintervall

20/527 (3,8)
2,2–5,4

13/506 (2,6)
1,2–3,9

18/511 (3,5)
1,9–5,1

Symptomatische TVT [n/N] (%)

3/696 (0,4)

1/675 (0,1)

8/685 (1,2)

Symptomatische Lungenembolie [n/N] (%)

1/696 (0,1)

0/675 (0)

1/685 (0,1)

*In die Auswertung gingen Patienten ein, für die ein auswertbares Phlebogramm vorlag. VTE: venöse Thromboembolien (einschließlich Lungenembolie, proximaler und distaler tiefer Venenthrombose, symptomatische und asymptomatische, bei routinemäßiger Phlebographie festgestellt); TVT: tiefe Venenthrombosen

Tab. 3. Ergebnisse der Prophylaxe venöser Thromboembolien mit dem oralen Thrombin-Inhibitor Dabigatranetexilat bei Patienten mit Hüftgelenkersatz-Operation im Vergleich zur Standardprophylaxe mit subkutan verabreichtem Enoxaparin (Ergebnisse der Phase-III-Studie RE-NOVATE; Auswahl, [17])

Dabigatranetexilat 150 mg

Dabigatranetexilat 220 mg

Enoxaparin 40 mg

Primärer Endpunkt

VTE-Ereignisse und Sterblichkeit aufgrund aller Ursachen [n/N*] (%)
95%-Konfidenzintervall

75/874 (8,6)
6,7–10,4

53/880 (6,0)
4,5–7,6

60/897 (6,7)
5,1–8,3

Sekundäre Endpunkte

Schwere VTE-Ereignisse und Sterblichkeit aufgrund von VTE-Ereignissen [n/N] (%)
95%-Konfidenzintervall

38/888 (4,3)
2,9–5,6

28/909 (3,1)
2,0–4,2

36/917 (3,9)
2,7–5,2

Symptomatische TVT [n/N] (%)

9/1156 (0,8)

6/1137 (0,5)

1/1142 (0,1)

Symptomatische Lungenembolien [n/N] (%)

1/1156 (0,1)

5/1137 (0,4)

3/1142 (0,3)

*In die Auswertung gingen Patienten ein, für die ein auswertbares Phlebogramm vorlag. VTE: venöse Thromboembolien (einschließlich Lungenembolie, proximaler und distaler tiefer Venenthrombose, symptomatische und asymptomatische, bei routinemäßiger Phlebographie festgestellt); TVT: tiefe Venenthrombosen

Faktisch ist damit eine Gleichwertigkeit zwischen den Substanzen Dabigatranetexilat und Enoxaparin in den getesteten Indikationen zu sehen. Zu beachten ist, dass sich konsistent in beiden Studien bei der niedrigeren Dosierung von Dabigatranetexilat eine Tendenz zu einer schlechteren Effektivität zeigt, wenn auch kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den beiden Dabigatranetexilat-Dosierungen gezeigt wurde.

Sicherheit und Verträglichkeit

In beiden genannten Phase-III-Studien zum Einsatz von Dabigatranetexilat nach Hüft- und Kniegelenkersatz-Operation sowie in mehreren Phase-II-Studien wurden Indikatoren zur Arzneimittelverträglichkeit und -sicherheit untersucht. Über 10000 Patienten erhielten in vier aktiv kontrollierten Studien zur Prophylaxe venöser Thromboembolien mindestens eine Dosis des Thrombin-Inhibitors Dabigatranetexilat [16].

Wesentlich bei der Bewertung der Sicherheit eines Antikoagulans ist die Rate an Blutungsereignissen. Zu deren Beurteilung wurde in den Phase-III-Studien RE-MODEL und RE-NOVATE eine Definition der Sicherheitsendpunkte vorgenommen. Primärer Sicherheitsendpunkt war die Gesamtrate an Blutungsereignissen, die sich aus sogenannten schweren Blutungen, klinisch relevanten nicht schweren Blutungen und nicht schweren Blutungen zusammensetzte [19]. Weitere Sicherheitsendpunkte waren unter anderen die Leberenzymwerte sowie kardiovaskuläre Ereignisse. Zusammenfassend ist festzustellen, dass es bezüglich der primären Sicherheitsendpunkte zwischen den beiden Dabigatranetexilat-Dosierungen sowie auch zwischen Dabigatranetexilat und Enoxaparin keinerlei statistisch signifikante Unterschiede gab. In Tabelle 4 sind die Blutungsereignisse, die in den beiden Phase-III-Studien berichtet wurden, zusammengefasst.

Tab. 4. Blutungen waren in den beiden Phase-III-Studien zur Prophylaxe venöser Thromboembolien mit Dabigatranetexilat bei Patienten nach einer Hüft- oder Kniegelenkersatz-Operation die häufigste unerwünschte Wirkung (zusammengefasste Ergebnisse; Enoxaparin war die aktive Kontrolle in den beiden Studien) [nach 16]

Dabigatranetexilat
150 mg [n] (%)

Dabigatranetexilat
220 mg [n] (%)

Enoxaparin [n] (%)

Patienten

1866 (100)

1825 (100)

1848 (100)

Schwere Blutungen

24 (1,3)

33 (1,8)

27 (1,5)

Blutungen

258 (13,8)

251 (13,8)

247 (13,4)

Erhöhungen der Leberenzymwerte (ALT) über das Dreifache des Normwerts wurden gelegentlich berichtet (Tab. 5), ohne dass es zu einer signifikanten Häufung in einer der Behandlungsgruppen kam. In den beiden Phase-III-Studien betrug die Gesamthäufigkeit für ALT-Werte, die 3fach gegenüber der oberen Normgrenze erhöht waren, 2,5% bei Gabe von 150 mg Dabigatranetexilat, 2,2% bei Gabe von 220 mg Dabigatranetexilat und 3,5% bei Gabe von Enoxaparin [16].

Tab. 5. Veränderungen der Leberwerte und der Leberfunktion wurden in vier aktiv kontrollierten Studien zur Prophylaxe venöser Thromboembolien bei Patienten nach einer Hüft- oder Kniegelenkersatz-Operation gelegentlich berichtet (zusammengefasste Ergebnisse; Enoxaparin war die aktive Kontrolle in den Studien) [nach 16]

Dabigatranetexilat
150 mg [n] (%)

Dabigatranetexilat
220 mg [n] (%)

Enoxaparin [n] (%)

Patienten

2737 (100)

2682 (100)

3108 (100)

ALT erhöht

18 (0,7)

7 (0,3)

28 (0,9)

AST erhöht

9 (0,3)

5 (0,2)

15 (0,5)

Abnorme Leberfunktion, abnormer Leberfunktionstest

6 (0,2)

10 (0,4)

7 (0,2)

Leberenzyme erhöht

4 (0,2)

5 (0,2)

11 (0,4)

Hyperbilirubin

4 (0,1)

3 (0,1)

4 (0,1)

Transaminasen erhöht

0

2 (0,1)

1 (0)

ALT: Alanin-Aminotransferase ; AST: Aspartat-Aminotransferase

Auch für kardiovaskuläre Ereignisse konnte in den Studien kein signifikanter Unterschied zwischen den Vergleichsgruppen gesehen werden [17, 18].

Wechselwirkungen

Die gleichzeitige Anwendung von Dabigatranetexilat mit den in Tabelle 6 zusammengefassten Arzneistoffen, die wie Dabigatran die Blutgerinnung beeinflussen, wird nicht empfohlen [16].

Tab. 6. Arzneistoffe und Arzneistoffklassen, die wie Dabigatran die Blutgerinnung beeinflussen und die nicht gleichzeitig mit Dabigatran angewendet werden sollten [nach 16]

Unfraktionierte Heparine*, Heparinderivate

Niedermolekulare Heparine

Fondaparinux

Desirudin

Thrombolytische Arzneistoffe

Glykoprotein-IIb/IIIa-Rezeptorantagonisten

Clopidogrel

Ticlopidin

Dextran

Sulfinpyrazon

Vitamin-K-Antagonisten

*Ausgenommen Dosen unfraktionierten Heparins, die erforderlich sind, um die Durchgängigkeit zentralvenöser oder arterieller Katheter zu erhalten

Aufgrund des Blutungsrisikos wird bei der gleichzeitigen Anwendung von Dabigatranetexilat mit nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR), insbesondere solchen mit einer Halbwertszeit >12 Stunden, eine engmaschige Kontrolle der Patienten auf Anzeichen für eine Blutung empfohlen [16, 20].

Die parallele Einnahme von Protonenpumpenhemmern führt zu einer verminderten AUC von Dabigatran, eine Dosisanpassung erscheint allerdings nicht erforderlich [12].

Bei der gleichzeitigen Anwendung von Dabigatranetexilat und Amiodaron wurden eine um etwa 60% erhöhte Dabigatran-Exposition (AUC) und eine um etwa 50% erhöhte maximale Plasmakonzentration von Dabigatran nachgewiesen. Ausmaß und Rate der Resorption von Amiodaron waren dagegen unverändert. Der Mechanismus dieser Wechselwirkung ist noch unklar. Allerdings handelt es sich bei Amiodaron um einen Inhibitor von P-Glykoprotein und Dabigatran ist ein P-Glykoprotein-Substrat. Bei der gleichzeitigen Gabe von Dabigatranetexilat und Amiodaron sollte die Tagesdosis von Dabigatranetexilat auf 150 mg reduziert werden.

Bei starken P-Glykoprotein-Inhibitoren wie Verapamil und Clarithromycin ist aufgrund des erhöhten Blutungsrisikos durch erhöhte Dabigatran-Plasmakonzentration Vorsicht geboten. Die gleichzeitige Gabe von Dabigatranetexilat und Chinidin (P-Glykoprotein-Inhibitor) ist kontraindiziert.

Die gleichzeitige Anwendung von Dabigatranetexilat mit starken P-Glykoprotein-Induktoren (z. B. Johanniskraut, Rifampicin) kann zu erniedrigten Dabigatran-Plasmakonzentrationen führen.

In einer Untersuchung zur gleichzeitigen Gabe von Dabigatranetexilat und Digoxin (P-Glykoprotein-Inhibitor) wurde keine Wechselwirkung beobachtet [9, 21].

Indikation, Dosierung, Einsatz und Handhabung

Dabigatranetexilat ist zugelassen zur Primärprävention venöser thromboembolischer Ereignisse bei erwachsenen Patienten nach elektivem chirurgischem Hüft- oder Kniegelenkersatz [20]. Die empfohlene Standarddosierung beträgt einmal täglich 220 mg Dabigatranetexilat. Eine Dosisreduktion auf 150 mg einmal täglich ist gemäß Fachinformation angezeigt bei Patienten, die älter als 75 Jahre sind oder die eine Creatinin-Clearance von 30 bis 50 ml/min haben [20]. Diese wichtige Differenzierung der Dosierung hat eine große praktische Relevanz, da ein maßgeblicher Teil von Patienten, die sich einer elektiven Knie- oder Hüftgelenkersatz-Operation unterziehen, eines der beiden Merkmale zeigt.

Dabigatranetexilat sollte mit Wasser zu oder unabhängig von einer Mahlzeit eingenommen werden.

Eine regelrechte Hämostase vorausgesetzt wird die Prophylaxe mit Dabigatranetexilat am Tag der Operation (1 bis 4 Stunden nach OP-Ende) mit der Hälfte der dann ab Tag 2 weitergeführten Dosierung (also 220 oder 150 mg) begonnen. Bei Patienten, die eine Kniegelenktotalendoprothese erhalten haben, wird die Prophylaxe mit Dabigatranetexilat an den folgenden 10 Tagen mit der Standarddosierung fortgesetzt, das heißt, die Patienten nehmen einmal täglich 2 Kapseln entsprechend 220 mg Dabigatranetexilat ein. Bei Patienten nach chirurgischem Hüftgelenkersatz beträgt der empfohlene Zeitraum der Prophylaxe mit Dabigatranetexilat in der Standarddosierung 28 bis 35 Tage.

Sofern postoperativ eine Blutung aus der Operationswunde vorliegt, wird empfohlen, den Beginn der Prophylaxe zu verzögern und die Prophylaxe am Tag nach der Operation mit der vollen Standarddosierung einzuleiten [20].

Die gerinnungshemmende Wirkung von Dabigatranetexilat wird als vorhersehbar beschrieben, eine routinemäßige Gerinnungskontrolle ist nicht erforderlich.

In den beiden Phase-III-Studien wurden Patienten mit Spinalanästhesie eingeschlossen, wenn die Punktion atraumatisch war und wenn weniger als drei Einstichversuche erforderlich waren. In RE-NOVATE erhielten rund 75% und in RE-MODEL rund 77% aller Patienten unter Dabigatranetexilat eine Regionalanästhesie oder eine kombinierte Regional- und Allgemeinanästhesie. Ein erhöhtes Risiko für Epidural- oder Spinalhämatome bestand im Vergleich zur Vergleichssubstanz Enoxaparin unter diesen Bedingungen nicht [17, 18]. Hingegen wurden keinerlei Daten in den Studien erfasst, die eine Aussage über die Situation bei liegendem Schmerzkatheter erlauben, eine entsprechende Bedingung war in der Studie nicht zugelassen [17, 18].

Daher sind rückenmarksnahe Anästhesien grundsätzlich möglich. Dabigatranetexilat wird allerdings bei Patienten mit postoperativ liegendem Peri- oder Epiduralkatheter nicht empfohlen. Nach Entfernen des Katheters sollte die erste Dabigatranetexilat-Gabe in einem Mindestabstand von 2 Stunden erfolgen [16].

Kontraindikationen und besondere Patientengruppen

Für Dabigatran gelten folgende Kontraindikationen [20]:

  • Akute, klinisch relevante Blutungen
  • Organschäden, die das Blutungsrisiko erhöhen, spontane oder pharmakologisch bedingte Einschränkung der Hämostase
  • Beeinträchtigung der Leberfunktion oder Lebererkrankungen, wenn Auswirkungen auf das Überleben zu erwarten sind
  • Gleichzeitige Behandlung mit Chinidin

Nicht empfohlen wird die Prophylaxe mit Dabigatranetexilat bei Patienten mit Leberenzymwerten, die um mehr als das 2fache gegenüber dem oberen Normwert erhöht sind, da diese Patienten von der Teilnahme am klinischen Prüfprogramm ausgeschlossen wurden. Der ALT-Wert sollte bei präoperativen Untersuchungen routinemäßig gemessen werden.

Bei bestimmten Patientengruppen ist Vorsicht geboten, wenn Dabigatranetexilat zur Prophylaxe venöser Thromboembolien eingesetzt wird. Hierzu gehören

  • Patienten mit erhöhtem Blutungsrisiko; aufgrund
  • von Zustand nach Biopsie vor weniger als einem Monat
  • von Zustand nach schweren Verletzungen
  • der Einnahme entzündungshemmender Arzneimittel
  • infektiöser Herzentzündung (bakterielle Endokarditis)
  • mäßiger Einschränkung der Nierenfunktion

Dabigatranetexilat sollte nicht bei Kindern angewendet werden.

Bei Patienten mit einem Alter von mehr als >75 Jahren oder einer mäßig eingeschränkten Nierenfunktion (Creatinin-Clearance 30–50 ml/min) wird eine Standarddosis von 150 mg Dabigatranetexilat pro Tag empfohlen. Die Patienten sollten engmaschig klinisch überwacht werden (Kontrolle auf Anzeichen für eine Blutung oder Anämie).

Für den Einsatz von Dabigatranetexilat bei Patienten mit hohem operativem Mortalitäsrisiko oder spezifischen Risikofaktoren für thromboembolische Ereignisse liegen bislang nur begrenzt Daten vor. Diese Patienten sollten mit Vorsicht behandelt werden.

Umstellungen

Bei der Umstellung auf ein parenterales Antikoagulans sollte die erste Dosis erst 24 Stunden nach der letzten Einnahme von Dabigatranetexilat verabreicht werden. Umgekehrt, wenn also von einem parenteralen Antikoagulans auf Dabigatranetexilat umgestellt wird, sollte Dabigatranetexilat nicht vor der nächsten ursprünglich geplanten Gabe des parenteralen Antikoagulans gegeben werden.

Kosten der Therapie

Die Bewertung der Kosten einer Therapie ist mehrdimensional und komplex, sie kann hier nur kurz angerissen werden. Die Kosten setzen sich im Bereich des Krankenhauses neben den reinen Einkaufkosten des Medikaments auch durch den Personalaufwand bei der Applikation, eventuelle Zusatzkosten durch Monitoring (z.B. Thrombozytenzählung bei Heparingabe) und Entsorgungskosten zusammen. Im ambulanten Bereich spielt das Monitoring neben dem Einkaufspreis eventuell eine Rolle, andere Zusatzkosten entstehen kaum. Da sich die Kosten für eine Substanz in der Klinik je nach Abnahmemenge und Rahmenvertrag erheblich unterscheiden, kann ein Kostenvergleich dort nur für individuelle Konstellationen vorgenommen werden. Im ambulanten Bereich stehen die Preise weitgehend fest.

Die Autoren dieses Artikels haben sich entschieden, die Preise für eine Packungsgröße von 10 Einheiten (Fondaparinux: 7 Einheiten) heranzuziehen. Dieser Vergleich hat allerdings erhebliche Einschränkungen. Einerseits werden keine Nebenkosten berücksichtigt. Andererseits ist eine Packungsgröße von 10 Einheiten bei den Fertigspritzen für 10 Tage (Fondaparinux 7 Tage), für Dabigatranetexilat aber nur für 5 Tage ausreichend. Der in Tabelle 7 angeführte Vergleich ist daher nur geeignet, um die Größenordnung der Preisunterschiede darzustellen. Es ist deutlich darauf hinzuweisen, dass erst konkrete Vergleiche zwischen zur Auswahl stehenden Substanzen im individuellen Fall einen exakten Vergleich erlauben.

Tab. 7. Vergleich der Kosten für verschiedene, exemplarisch herangezogene Substanzen für die Thromboembolieprophylaxe im Hochrisikobereich (Stand Januar 2009)

Substanz

Kosten 10 Stck. FS [�]

Kosten pro Tag [�]

Differenz [�] zu Dabigatranetexilat pro Tag

Differenz [�] zu Dabigatranetexilat für 10 Tage

Dalteparin (n = 11)

61,56

6,16

2,28

22,84

Enoxaparin (n = 14)

60,70

6,07

2,37

23,70

Certoparin (n = 1)

50,77

5,08

3,36

33,63

Kosten 7 Stck. FS [�]

Kosten pro Tag [�]

Fondaparinux

48,56

6,94

1,50

15,03

Kosten 10 Hartkapseln [�]

Kosten pro Tag [�]

Kosten 10 Tage [�]

Dabigatranetexilat 75 mg

42,20

8,44

84,40

Dabigatranetexilat 110 mg

42,20

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Bei Substanzen, bei denen mehr als ein Anbieter möglich ist, wurde ein Mittelwert aus den Preisen aller Anbieter gebildet (n = Anzahl der Anbieter). Die Behandlung mit Dabigatranetexilat kann im ambulanten Bereich bis zu 66% teurer sein als die Behandlung mit dem günstigsten niedermolekularen Heparin (Certoparin). FS: Fertigspritze

Zusammenfassung, Bewertung, Fazit

Seit Mitte April 2008 ist Dabigatranetexilat als neue Option für die Primärprävention thromboembolischer Ereignisse bei elektiven Hüft- und Kniegelenkersatz-Operationen in Deutschland im Handel erhältlich.

Die kritische Bewertung einer neuen Substanz in dieser Indikation muss anhand ihrer Sicherheit, ihrer Effektivität sowie eventuell bestehender Differenzierungsmerkmale gegenüber aktuell geltenden Standards oder etablierten Verfahren vorgenommen werden.

Aktuell wird mit niedermolekularen Heparinen eine effektive und sichere Primärprävention der Thromboembolie nach elektivem Hüft- und Kniegelenkersatz betrieben [2]. Allerdings werden auch mit dieser Prophylaxe bis zu 3% klinisch symptomatische Thromboembolien gesehen, darüber hinaus treten als maßgebliche Nebenwirkungen Blutungsereignisse und die HIT Typ II auf. Letztere ist eine mit bis zu 0,5% Inzidenz häufige und schwerwiegende Komplikation. Auch wird die subkutane Gabe der NMH insbesondere unter Gesichtspunkten der Compliance und Patientenakzeptanz kritisch gesehen.

Die Sicherheit eines neuen Präparats ist die wichtigste Anforderung vor der Zulassung. Hinsichtlich der Blutungsereignisse, aber auch aller anderen erfassten relevanten Indikatoren der Arzneimittelsicherheit konnte in den Studien gezeigt werden, dass Dabigatranetexilat gegenüber Enoxaparin in der Hochrisikodosierung keine Nachteile bietet, vergleichbare Ergebnisse finden sich auch für die übrigen erfassten Nebenwirkungen und Komplikationen.

Bezüglich der Wirksamkeit wird idealerweise von einer neuen Substanz eine Verbesserung erwartet. Diese ist in der klinischen Anwendung insbesondere für die symptomatischen und die sogenannten schweren Ereignisse von Bedeutung. An dieser Stelle machen viele betriebswirtschaftliche Nutzenanalysen fest, inwieweit ein höherer Preis für eine Substanz bereits aufgrund einer besseren Wirksamkeit gerechtfertigt ist.

Der Sachverhalt, dass Dabigatranetexilat Nicht-Unterlegenheit in Phase III gegenüber Enoxaparin gezeigt hat, bedeutet für die klinische Praxis letztlich eine Gleichwertigkeit bei der Effektivität der Substanzen. Weder die phlebographisch nachweisbaren Ereignisse noch die klinisch symptomatischen oder sogenannten schweren Ereignisse treten bei der Anwendung von Dabigatranetexilat seltener oder häufiger auf als bei der Anwendung von Enoxaparin. Eine bessere Wirksamkeit mit einer Reduktion insbesondere der symptomatischen oder der sogenannten schweren Ereignisse wären ein wesentliches Argument für die Neubewertung bisheriger Standards [22]. Die symptomatischen und die schweren Ereignisse sind im Gegensatz zu den ausschließlich phlebographisch nachgewiesenen Thrombosen von besonderer klinischer Relevanz.

Neben der Wirksamkeit und Sicherheit einer neuen Substanz sind auch andere Faktoren für deren Bewertung bedeutsam. Dies kann eine Abgrenzung bedeuten, wenn sich gegenüber aktuellen Standards allein durch die Wirksamkeit und Sicherheit keine Unterscheidungsmerkmale finden. Spezifische Vorteile und Nachteile, wie sie bei der aktuellen Datenlage und Zulassung zu Dabigatranetexilat zu sehen sind, sind zu erwähnen.

Vorteile sind darin zu sehen, dass Dabigatranetexilat kein Routine-Monitoring benötigt und auch keine HIT Typ II induziert. Mit Letzterer wird eine schwerwiegende Komplikation der NMH sicher vermieden.

Bei der Bewerbung der Substanz wird die orale Gabe als maßgeblicher Vorteil der Substanz angeführt. Es obliegt letztlich den Anwendern und auch den Impulsen seitens der Patienten, inwieweit dieser Faktor allein den Einsatz der neuen Substanz bereits rechtfertigt oder maßgeblich mit unterstützt. Wissenschaftliche Daten hierzu gibt es nicht. Allerdings ist die Erfahrung der Therapeuten übereinstimmend so, dass sehr viele Patienten die subkutane Applikationsform des NMH als zusätzliche Belastung empfinden und daher die orale Applikation einer Thromboembolieprophylaxe bevorzugen würden. Es ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass alle Kliniken und auch niedergelassene Kollegen sowie Rehabilitationskliniken einem zunehmenden Druck der Patienten in Richtung einer oralen Prophylaxe ausgesetzt sein werden.

Diskutiert wird immer nachdrücklicher, dass viele hospitalisierte Patienten keine adäquate Thromboembolieprophlaxe erhalten – im chirurgischen Bereich bis zu 40% [23]. Diese Zahlen sind allerdings sehr kritisch zu bewerten. Gemessen an den aktuellen Leitlinien [2] treffen sie zwar zu. In Zusammenhang mit den Möglichkeiten einer oralen Prophylaxe ist zu fragen, ob Compliance-bedingte Unterlassungen der Prophylaxe bei bestehender Indikation nach Hüft- und Kniegelenkersatz zu verbessern sind.

Eine Studie in Deutschland konnte sehr eindrücklich zeigen, dass hier nach genau diesen Eingriffen bezüglich Art und Dauer der Prophylaxe leitliniengerecht vorgegangen wird [24]. Die Dauer der Prophylaxe liegt sogar vielfach über der empfohlenen Dauer. Da die Zulassung von Dabigatranetexilat auf die Thromboembolieprophylaxe nach elektiven Knie- und Hüftgelenkersatz-Operationen limitiert ist, ist zumindest in Deutschland nicht zu erwarten, dass die bereits leitlieniengerechte Umsetzung der Prophylaxe in irgendeiner Hinsicht durch die Einführung der oralen Substanz durch Compliance-Effekte verbessert wird. Weiterhin gibt es derzeit keine Indizien dafür, dass die Dauer des stationären Aufenthalts durch die Notwendigkeit einer subkutanen Prophylaxe beeinflusst wird. Somit sind Impulse für die Verkürzung des stationären Aufenthalts nur durch die orale Applikationsform nicht zu erwarten.

Erwähnenswert ist das Verhalten bei Überdosierungen und dem damit assoziierten Blutungsrisiko. Die Überdosierung als solche ist in der Regel aufgrund der geringen Halbwertszeit ähnlich der NMH unproblematisch. In solchen Fällen ist letztlich der natürliche Abbau der Substanz unter Beobachtung der Patienten abzuwarten.

Bei Blutungen muss der Abbruch der Behandlung erfolgen, eine Blutungsquelle ist gegebenenfalls chirurgisch zu behandeln. Die ausreichende Diurese ist bei der überwiegend renalen Elimination des aktiven Metaboliten sicherzustellen. Sofern nötig kann Frischplasma transfundiert werden. Ein Antidot gibt es nicht.

Objektivierbare Nachteile der Substanz Dabigatranetexilat sind einerseits die fehlende Datenlage bei liegenden Schmerzkathetern, was in den Phase-III-Studien ein Ausschlusskriterium war. Aufgrund dessen wird die Anwendung von Dabigatranetexilat bei liegenden Schmerzkathetern nicht empfohlen. Diese Einschränkung führt dazu, dass Dabigatranetexilat bei einem relevanten Anteil von Patienten nach Hüft- oder Kniegelenkersatz-Operation nicht angewendet werden kann.

Andererseits sind die unterschiedlichen Dosierungsschemata, sowohl mit der Dosishalbierung für die erste Gabe als auch mit den zwei Dosierungsschemata für ältere und niereninsuffiziente Patienten, als Einschränkung der Praktikabilität zu sehen.

Zusammenfassend wurden aufwendige Phase-III-Studien in der primären Indikation von Dabigatranetexilat bei elektivem Hüft- und Kniegelenkersatz durchgeführt. Gegenüber Enoxaparin bestehen allein aufgrund der Wirksamkeit und Sicherheit keine Argumente für die Bevorzugung von Dabigatranetexilat nach Hüft- und Knieendoprothesen zur Prophylaxe venöser Thromboembolien. Die orale Gabe und die Vermeidung der HIT Typ II unterstützen indes dessen Einsatz. Weitere, große Indikationen sind in der Therapie der venösen Thromboembolie, der Schlaganfallprophylaxe, der Sekundärprävention der Thrombose sowie des akuten Koronarsyndroms zu sehen. Die Gesamtbewertung der Substanz wird sich schließlich an der Gesamtwertigkeit in den Indikationen festmachen.

Literatur

1. Encke A, Haas S, Krauspe R, Riess H, Stürmer KM, Kopp I, et al. Stationäre und ambulante Thromboembolieprophylaxe in der Chirurgie und der perioperativen Medizin: Interdisziplinäre Leitlinie. Phlebologie 2003;32:164–9.

2. Geerts WH, Bergqvist D, Pineo GF, Heit JA, Samama CM, Lassen MR, et al. Prevention of venous thromboembolism: American College of Chest Physicians Evidence-Based Clinical Practice Guidelines (8th Edition). Chest 2008;133(Suppl):381S–453S.

3. Warkentin TE. Clinical presentation of heparin-induced thrombocytopenia. Semin Hematol 1998;35(Suppl 5):9–16.

4. Greinacher A. Heparin-induced thrombocytopenia--pathogenesis and treatment. Thromb Haemost 1999;82(Suppl 1):148–56.

5. Kakkar AK, Brenner B, Dahl OE, Eriksson BI, Mouret P, Muntz J, et al. Extended duration rivaroxaban versus short-term enoxaparin for the prevention of venous thromboembolism after total hip arthroplasty: a double-blind, randomised controlled trial. Lancet 2008 Jul 5;372:31–9.

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11. Blech S, Ebner T, Ludwig-Schwellinger E, Stangier J, Roth W. The metabolism and disposition of the oral direct thrombin inhibitor, dabigatran, in humans. Drug Metab Dispos 2008;36:386–99.

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18. Eriksson BI, Dahl OE, Rosencher N, Kurth AA, van Dijk CN, Frostick SP, et al. Oral dabigatran etexilate vs. subcutaneous enoxaparin for the prevention of venous thromboembolism after total knee replacement: the RE-MODEL randomized trial. J Thromb Haemost 2007;5:2178–85.

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20. Fachinformation Pradaxa®. Boehringer Ingelheim 2008.

21. Sanford M, Plosker GL. Dabigatran etexilate. Drugs 2008;68:1699–709.

22. Eriksson BI, Dahl OE. Prevention of venous thromboembolism following orthopaedic surgery: clinical potential of direct thrombin inhibitors. Drugs 2004;64:577–95.

23. Cohen AT, Tapson VF, Bergmann JF, Goldhaber SZ, Kakkar AK, Deslandes B, et al. Venous thromboembolism risk and prophylaxis in the acute hospital care setting (ENDORSE study): a multinational cross-sectional study. Lancet 2008;371:387–94.

24. McBride D, Brüggenjürgen B, Roll S, Quante M, Willich S. Management patterns of thrombosis prophylaxis and related costs in hip and knee replacement in Germany. Central European Journal of Medicine 2007;2:47–65.


Priv.-Doz. Dr. med. Markus Quante, Klinik für Wirbelsäulenchirurgie mit Skoliosezentrum, Zentrum für Thoraxwanddeformitäten, Klinikum Neustadt, Am Kiebitzberg 10, 23730 Neustadt in Holstein, E-Mail: MQuante@Schoen-Kliniken.de Dr. med. Markus D. Schofer, Facharzt für Chirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie, Klinik für Orthopädie und Rheumatologie, Universitätsklinikum Marburg, Baldingerstraße, 35043 Marburg, E-Mail: schofer@med.uni-marburg.de Dr. Annemarie Musch, Redaktion Arzneimitteltherapie, Birkenwaldstraße 44, 70191 Stuttgart


Dabigatran – Oral anticoagulation with a direct thrombin inhibitor

In Europe the oral direct thrombin inhibitor dabigatran etexilate (Pradaxa®) was approved for the prevention of venous thomboembolism after elective hip and knee replacement surgery in adults at 27th of March 2008. This new anticoagulant is available on the market in Germany since april 2008.

Dabigatran etexilate was compared against the standard regimen, low molecular weight heparin enoxaparin, in two phase-III-studies for the prevention of venous thromboembolism after elective hip and knee replacement surgery. In these studies dabigatran etexilate proved to be non inferior to enoxaparin. Concerning the drug safety and side effects or adverse events there was no difference between dabigatran etexilate and enoxaparin.

The oral application, the lack of monitoring need and the effective prevention of HIT II are prominent features of the new drug that allow an assignment to current standards.

Until now it is not clear if these features are convincing to prefer dabigatran etexilate in clinical practice. This will be discussed in the following article.

Keywords: Dabigatran etexilate, oral anticoagulation, thrombin inhibitor, thromboembolism, DVT prevention, orthopaedic surgery

Arzneimitteltherapie 2009; 27(03)