Dr. med. Peter Stiefelhagen, Hachenburg
Die unterschätzte Gefahr
Glaubt man den Angaben der Haftpflichtversicherer, so ist die fehlende oder nicht adäquat durchgeführte Thromboseprophylaxe eine der häufigsten Ursachen haftungsrechtlicher Auseinandersetzungen. Und aus klinischer Sicht zeigen Sektionsstatistiken, dass 75% der fatalen Lungenembolien bei nichtchirurgischen Patienten entdeckt werden. Mit anderen Worten, die Lungenembolie ist die am häufigsten vermeidbare Todesursache bei stationären internistischen Patienten. Schon daraus ergibt sich, dass beim Thema „Thromboseprophylaxe“ eine gewisse Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit besteht, so das Fazit bei der 53. Jahrestagung der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostase-Forschung e.V. (4. bis 7. Februar 2009 in Wien).
Bei mittlerem und hohem Thromboserisiko
Grundsätzlich gilt, dass bei allen chirurgisch-orthopädischen und internistischen Patienten bei einem mittleren oder hohen Thromboserisiko die Indikation für eine medikamentöse Thromboseprophylaxe besteht. Doch bei internistischen Erkrankungen ist die Risikostratifizierung und somit die Indikationsstellung nicht immer so klar definiert wie bei chirurgischen oder orthopädischen Patienten. Der klinische Alltag zeigt aber, dass bei internistischen Patienten das Thromboserisiko und somit auch der Stellenwert einer Thromboembolieprophylaxe häufig unterschätzt wird.
Um das individuelle Risiko für eine thromboembolische Komplikation zu erfassen, muss bei jedem Patienten nach expositionellen und dispositionellen Risikofaktoren gefahndet werden. Dabei wird das expositionelle Risiko durch Art und Umfang des chirurgischen Eingriffs beziehungsweise des Traumas oder bei internistischen Patienten durch die Art und Schwere der Erkrankung und das Ausmaß der Immobilisierung charakterisiert. Das dispositionelle Risiko hingegen wird durch patientenbezogene Faktoren wie Alter, Adipositas oder das Vorliegen einer hereditären Thrombophilie bestimmt. Während expositionelle Risikofaktoren zeitlich begrenzt wirken, besteht das dispositionelle Risiko im Allgemeinen dauerhaft, um nicht zu sagen lebenslang.
Relativ selten, aber absolut häufig!
Das absolute Thromboserisiko für Patienten mit akuten internistischen Erkrankungen ist zwar im Vergleich zu jenem bei Patienten mit Traumata oder chirurgisch-orthopädischen Eingriffen mit 10 bis 15% eher gering. Doch nur ein Viertel der tatsächlich auftretenden Thrombosen ist durch eine Operation oder ein Trauma bedingt. Die überwiegende Mehrzahl der Patienten mit einer thromboembolischen Komplikation leidet an internistischen Erkrankungen.
Nach den derzeit gültigen Leitlinien wird eine Thromboseprophylaxe für alle Patienten über 40 Jahre mit akuten internistischen Erkrankungen empfohlen. Dazu gehören insbesondere Patienten mit einer Herzinsuffizienz im Stadium NYHA III/IV, mit akuten respiratorischen Erkrankungen, insbesondere Pneumonien, mit Sepsis, rheumatischen Erkrankungen, ischämischen Insulten oder einem Tumorleiden. Bei solchen Patientengruppen können mit einer medikamentösen Thromboseprophylaxe bis zu 60% der thromboembolischen Ereignisse verhindert werden.
Besonders gefährdet für eine thromboembolische Komplikation sind Tumorpatienten. Bei ihnen ist das Risiko um das 4- bis 7-fache erhöht. Durch eine chemotherapeutische Behandlung und insbesondere auch durch den Einsatz neuerer antineoplastischer Substanzen wie beispielsweise Angiogenese-Inhibitoren oder immunmodulierender Substanzen wird dieses Risiko zusätzlich erhöht.
Kontrolle der Thrombozytenzahl
Aus Gründen der Praktikabilität haben sich heute bei der medikamentösen Thromboseprophylaxe niedermolekulare Heparine durchgesetzt und auch bewährt. Um die gefürchtetste Komplikation einer Heparin-Gabe, nämlich die Heparin-induzierte Thrombozytopenie (HIT Typ II) möglichst frühzeitig zu erfassen, müssen bei jedem Patienten 2- bis 3-mal wöchentlich die Thrombozytenzahlen kontrolliert werden. Sinken diese um mehr als 50% des Ausgangswerts beziehungsweise auf weniger als 100000/mm3, so muss zumindest der Verdacht auf eine HIT Typ II geäußert und deshalb die Heparin-Gabe sofort beendet werden. Wegen des dramatischen Krankheitsverlaufs besteht keine Zeit, die Resultate spezieller Laboruntersuchungen abzuwarten.
Und welchen Stellenwert haben heute im Zeitalter der Heparin-Gabe noch physikalische Prophylaxemaßnahmen? Diese sind sicherlich keinesfalls out. Doch die Maßnahmen zur Verbesserung des venösen Rückflusses, zum Beispiel das Anlegen von medizinischen Thromboseprophylaxe-Strümpfen, können bei Patienten mit mittlerem oder hohem Thromboserisiko die pharmakologische Prophylaxe keinesfalls ersetzen; allerdings können sie deren Wirkung verstärken. Deshalb sollte auf den Einsatz solcher physikalischen Maßnahmen nicht verzichtet werden.
Neue Substanzen noch nicht für internistische Patienten
Seit Kurzem stehen zwei neue Substanzen für die Thromboseprophylaxe zur Verfügung, nämlich der Thrombininhibitor Dabigatran und der Faktor-Xa-Inhibitor Rivaroxaban. Beide Substanzen werden oral gegeben. Da die Wirkung sehr rasch eintritt, genügt es, die erste Dosis postoperativ zu verabreichen. Ein weiterer wesentlicher Vorteil besteht darin, dass diese Substanzen keine HIT Typ II auslösen können, so dass auch die ansonsten notwendige Kontrolle der Thrombozytenzahl entfällt. Doch bisher sind die Substanzen nur für Patienten mit elektivem Hüft- oder Kniegelenksersatz und nicht für internistische Indikationen zugelassen. Es ist auch noch nicht absehbar, wann sie eine entsprechende Indikationserweiterung erfahren werden.
Arzneimitteltherapie 2009; 27(05)