Multiple Sklerose

Orale Therapie mit Cladribin


Birgit Hecht, Stuttgart

In der kürzlich veröffentlichten CLARITY-Studie wurden Wirksamkeit und Sicherheit des oralen Purin-Antimetaboliten Cladribin bei Patienten mit schubförmiger multipler Sklerose untersucht. Cladribin war Plazebo in der Reduktion der Schubrate und der entzündlichen Läsionen in der Magnetresonanztomographie überlegen. Die aufgetretenen Nebenwirkungen waren moderat; wie es der Wirkungsmechanismus erwarten lässt, traten Lymphozytopenien und Infektionen auf.

In der Therapie der multiplen Sklerose kamen bisher überwiegend immunmodulatorische Substanzen zur Anwendung. Daneben werden seit vielen Jahren auch Zytostatika eingesetzt, vor allem wenn andere Therapien nicht ausreichend wirksam sind. Da praktisch alle bisherigen Wirkstoffe parenteral appliziert werden müssen, wird die Entwicklung von oral verfügbaren Wirkstoffen von Patienten und Therapeuten seit Langem erwartet. Cladribin, ein Purin-Antimetabolit, ist bisher als Zytostatikum zur Behandlung der Haarzellleukämie zugelassen und befindet sich zur Zeit in klinischer Prüfung für ein neues Indikationsgebiet, die schubförmige multiple Sklerose (MS). Im Unterschied zur bisherigen Applikationsform (Infusion) soll es dabei oral verabreicht werden.

Wirkungsmechanismus

Cladribin ist ein Prodrug, dessen aktiver Metabolit Cladribin-Triphosphat sich intrazellulär anreichert. Dies findet hauptsächlich in Lymphozyten statt, weil hier das für die Aktivierung notwendige Enzym Desoxycytidinkinase im relativen Überschuss gegenüber der 5’-Nukleotidase vorliegt, welche die gegenläufige Reaktion, die Abspaltung von Phosphatgruppen, katalysiert. Cladribin-Triphosphat wirkt als Antimetabolit zum natürlichen Desoxyadenosin-Triphosphat und wird stattdessen in die DNS eingebaut. Die Folge davon ist eine gestörte Synthese und Reparatur der DNS. Die Wirkung wird durch eine Hemmung der Ribonucleotidreductase durch Cladribin-Triphosphat verstärkt. Infolgedessen kommt es in den Zellen zu einem Ungleichgewicht an triphosphorylierten Desoxynukleotiden. Dies verstärkt einerseits den Einbau des Antimetaboliten Cladribin-Triphosphat in die DNS. Andererseits kommt es durch Hemmung der Ribonucleotidreductase zu einem Mangel an Adenosintriphosphat (ATP) und damit zu einer mangelnden Energieversorgung der Zelle. Dies ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass Cladribin nicht nur auf aktive, sich teilende Zellen, sondern auch auf ruhende Zellen wirkt. Die Toxizität richtet sich insgesamt hauptsächlich gegen T-Helferzellen (CD4+), außerdem gegen zytotoxische T-Zellen (CD8+) sowie gegen B-Zellen (CD19+).

Weitere Wirkungen sind eine Verminderung proinflammatorischer Zytokine und eine Veränderung der Monozytenmigration.

CLARITY-Studie

In der CLARITY-Studie (Cladribin tablets treating multiple sclerosis orally), einer doppelblinden, Plazebo-kontrollierten Phase-III-Multicenter-Studie über 96 Wochen wurden Wirksamkeit und Sicherheit von Cladribin bei Patienten mit schubförmiger MS untersucht.

Ein Schub war definiert als eine Erhöhung um mindestens einen Punkt in zwei Bereichen des EDSS(Expanded Disability Status Scale)-Scores (siehe Kasten auf Seite 135) oder um mindestens zwei Punkte in einem Bereich über einen Zeitraum von mindestens 24 Stunden, die nicht von einem Anstieg der Körpertemperatur begleitet ist und der mindestens 30 Tage klinischer Stabilität oder Besserung vorausgegangen sind.

Methoden

Eingeschlossen waren Patienten im Alter von 18 bis 65 Jahren mit schubförmiger MS (Diagnosekriterien nach McDonald) und typischen Läsionen im MRT (Magnetresonanztomogramm). Sie hatten mindestens einen Schub innerhalb eines Jahres vor Studienbeginn und einen EDSS-Score von maximal 5,5. Im Mittel hatten die Patienten einen EDSS-Score von 2,9 und waren seit 8 bis 9 Jahren erkrankt. Sie waren durchschnittlich etwa 38 Jahre alt.

Alle Arten verlaufsmodifizierender Medikamente mussten mindestens 3 Monate vor Studienbeginn abgesetzt worden sein.

1326 Patienten wurden in 3 Gruppen randomisiert und erhielten über den Studienzeitraum von 96 Wochen insgesamt 3,5 mg/kg Körpergewicht (KG) Cladribin oder 5,25 mg/kg KG Cladribin oder Plazebo.

Um eine zwischenzeitliche Hämatopoese zu ermöglichen, wurde die Dosis nicht kontinuierlich verabreicht, sondern verteilt auf 2 Blöcke zu je 48 Wochen. Die Patienten erhielten die Studienmedikation jeweils zu Beginn eines 28-tägigen Zyklus (Tag 1 bis Tag 4 oder 5, einmal täglich 10 oder 20 mg) nach einem festgelegten Schema (Tab. 1). Pro Zyklus wurden somit ungefähr 0,875 mg/kg KG Cladribin oder Plazebo verabreicht. Probanden in der 3,5 mg/kg-Gruppe erhielten 4 dieser Zyklen, Probanden aus der 5,25 mg/kg-Gruppe erhielten 6 Zyklen.

Tab. 1. Einnahmeschema von Cladribin (C) oder Plazebo (P); jeder Einnahmezeitpunkt entspricht der Einnahme von je nach Gewicht 10 oder 20 mg Cladribin (bzw. Plazebo) an 4 oder 5 aufeinanderfolgenden Tagen

Woche 1–47

Woche 48–96

Woche 1

Woche 5

Woche 9

Woche 13

Woche 48

Woche 52

Plazebo

P

P

P

P

P

P

Gesamtdosis 3,5 mg/kg KG

C

C

P

P

C

C

Gesamtdosis 5,25 mg/kg KG

C

C

C

C

C

C

Nach Woche 24 bestand die Möglichkeit einer Rescue-Therapie mit Interferon beta-1a (44 µg dreimal wöchentlich) für Patienten, die mehr als einen Schub oder eine wesentliche Verschlechterung des EDSS-Scores hatten.

Während des Studienverlaufs wurden neurologische Untersuchungen, MRT-Aufnahmen, Blut- und Urinanalysen durchgeführt.

Primärer Endpunkt war die Schubrate nach 96 Wochen. Sekundäre Endpunkte waren der Anteil der Patienten ohne Schub, ein Fortschreiten der Behinderung (anhaltende Verschlechterung im EDSS-Score), die Zeitdauer bis zum ersten Schub, der Anteil an Patienten, die eine Rescue-Therapie benötigten, und Veränderungen im MRT.

Ergebnisse

Von den 1326 randomisierten Studienteilnehmern beendeten 89,3% die Studie nach 96 Wochen, 87,9% nahmen die Studienmedikation bis zum Ende ein.

In beiden Cladribin-Gruppen war die Schubrate signifikant niedriger als unter Plazebo und der Anteil an Patienten, die keinen Schub hatten, signifikant höher (Tab. 2). Entsprechend war der Anteil der Patienten, die eine Interferon-Gabe benötigten, in beiden Cladribin-Gruppen geringer als in der Plazebo-Gruppe. Der erste Schub trat in der Plazebo-Gruppe nach durchschnittlich 4,6 Monaten auf, in den Cladribin-Gruppen erst nach 13,4 beziehungsweise 13,3 Monaten (jeweils p<0,001). Das Fortschreiten der Behinderung war unter Therapie mit Cladribin geringer als unter Plazebo. Eine 3 Monate anhaltende Verschlechterung des EDSS-Scores wurde in der Plazebo-Gruppe nach durchschnittlich 10,8 Monaten beobachtet, in beiden Cladribin-Grupen nach 13,6 Monaten.Ebenso waren die Läsionen im MRT unter Cladribin weniger stark ausgeprägt als unter Plazebo.

Tab. 2. Wirksamkeit von Cladribin gegenüber Plazebo nach 96 Wochen [Giovannoni et al.]

Plazebo

(n=437)

Cladribin 3,5 mg/kg

(n=433)

Cladribin 5,25 mg/kg

(n=456)

p-Wert Cladribin
3,5 mg/kg bzw. 5,25 mg/kg vs. Plazebo

Schubrate pro Jahr [n (95%-KI)]

0,33 (0,29–0,38)

0,14 (0,12–0,17)

0,15 (0,12–0,17)

<0,001 / <0,001

Patienten ohne Schub [n (%)]

266 (60,9)

345 (79,7)

360 (78,9)

<0,001 / <0,001

Patienten mit 1 Schub [n (%)]

109 (24,9)

69 (15,9)

77 (16,9)

<0,001 / <0,001

Patienten mit 2 Schüben [n (%)]

44 (10,1)

13 (3,0)

13 (2,9)

<0,001 / <0,001

Patienten mit 3 Schüben [n (%)]

15 (3,4)

5 (1,2)

5 (1,1)

<0,001 / <0,001

Patienten mit 4 oder mehr Schüben [n (%)]

3 (0,7)

1 (0,2)

1 (0,2)

<0,001 / <0,001

Patienten mit Rescue-Therapie [n (%)]

27 (6,2)

11 (2,5)

9 (2,0)

0,01 / 0,003

Patienten ohne Veränderung des EDSS-Scores über 3 Monate [n (%)]*

347 (79,4)

371 (85,7)

387 (84,9)

0,02 / 0,03

Mittlere Anzahl aktiver Herde im T2-gewichteten MRT*

1,43

0,38

0,33

<0,001 / <0,001

Mittlere Anzahl Gadolinium-anreichernder Herde im T1-gewichteten MRT*

0,91

0,12

0,11

<0,001 / <0,001

* Erläuterung siehe Kasten im Beitrag zu Fingolimod

Die Reduktion der Lymphozytenzahlen (Tab. 3) ist Ausdruck der therapeutischen Wirkung von Cladribin. Im Median sank die Lymphozytenzahl in der 3,5 mg/kg-Gruppe um bis zu 45,8% (Nadir nach 9 Wochen), lag vor Beginn der Woche-48-Behandlung noch um 35,6% unter dem Ausgangswert und erreichte in Woche 60 einen neuen Nadir von 55,9% unter dem Ausgangswert. In der 5,25 mg/kg-Gruppe wurde eine Lymphozytenreduktion um 64,0% (Woche 16) und 64,6% (Woche 55) erreicht, am Ende der ersten und zweiten Behandlungsperiode lagen die Werte um 49,6% (48 Wochen) beziehungsweise 48,3% (96 Wochen) unter dem Ausgangswert. Neutropenie und Thrombozytopenie waren dagegen seltener. Infektionen waren unter Cladribin etwas häufiger (47,7% und 48,9%) als unter Plazebo (42,5%) und waren meist von leichter bis mittelgradiger Ausprägung. In 20 Fällen handelte es sich in den Cladribin-Gruppen um einen lokalen Herpes zoster, drei dieser Fälle wurden als schwerwiegende Nebenwirkung eingestuft. Schwerwiegende Nebenwirkungen traten unter Cladribin verglichen mit Plazebo insgesamt häufiger auf. Neoplasien wurden unter Cladribin diagnostiziert, nicht aber in der Plazebo-Gruppe.

Tab. 3. Unerwünschte Wirkungen [Anzahl der Patienten (%)]

Plazebo
(n=435)

Cladribin 3,5 mg/kg (n=430)

Cladribin 5,25 mg/kg (n=454)

Alle Nebenwirkungen

319 (73,3)

347 (80,7)

381 (83,9)

Lymphozytopenie

8 (1,8)

93 (21,6)

143 (31,5)

Schwerwiegende Nebenwirkungen

28 (6,4)

36 (8,4)

41 (9,0)

Infektionen

7 (1,6)

10 (2,3)

13 (2,9)

Neoplasien*

0

6 (1,4)

4 (0,9)

*5 uterine Leiomyome und je 1 Carcinoma in situ der Zervix, Melanom, Ovarialkarzinom, Pankreaskarzinom und myelodysplastisches Syndrom

In der Studie konnte gezeigt werden, dass die Einnahme von Cladribin über wenige Tage pro Jahr nachhaltige Wirkungen auf den Verlauf der schubförmigen multiplen Sklerose hat: Schübe traten im Vergleich zu Plazebo seltener auf, das Risiko einer zunehmenden Behinderung war verringert und im MRT waren weniger entzündliche Herde festzustellen. Dabei waren beide Dosierungen nahezu gleich wirksam. Die häufigste Nebenwirkung war eine Lymphozytopenie, die sich auch in der Anzahl der Infektionen widerspiegelt.

Weitere Studien

Die Patienten der CLARITY-Studie wurden neu randomisiert und erhalten nun im Anschluss entweder Plazebo oder Cladribin für insgesamt weitere zwei Jahre. Ziel dieser Studie ist es, Cladribin bei einer Einnahmedauer von bis zu 4 Jahren zu untersuchen.

In der ORACLE MS-Studie (Oral cladribine in early MS) wird Cladribin in der Monotherapie bei Patienten in der Frühphase der multiplen Sklerose untersucht, das heißt bei Patienten, bei denen ein erstes klinisches Symptom auf eine multiple Sklerose hinweist. Die Probanden der ONWARD-Studie (Oral cladribine added on to Rebif new formulation in patients with active relapsing disease) sind Patienten, die auf eine Therapie mit Interferon beta-1a unzureichend angesprochen haben. Bei ihnen wird Cladribin als Ergänzungstherapie zusätzlich zu Interferon untersucht.

Ausblick

Man darf gespannt sein, wie sich die Zulassungsbehörden im Fall Cladribin weiter entscheiden. Die Zulassungsanträge für die EU und für die USA wurden im Juli bzw. September 2009 eingereicht. Die amerikanische FDA hat den Antrag kurz darauf zurückgewiesen. Der Anlass könnte aber auch eine formale Angelegenheit sein. Die Neueinreichung ist in Vorbereitung.

Literatur

Carroll WM. Oral therapy for multiple sclerosis – Sea change or incremental step? NEJM 2010;362:456–8.

Giovannoni G, et al. A placebo-controlled trial of oral cladribine for relapsing multiple sclerosis. NEJM 2010;362:416–26.

Barth J, Rummel MJ. Haarzellleukämie: Therapie mit Cladribin. Med Monatsschr Pharm 2009;32:252–60.

Vollmer T, Stewart T, Baxter N. Mitoxantrone and cytotoxic drugs’ mechanisms of action. Neurology 2010;74(Suppl1):S41–6.

Rammohan KW, Shoemaker J. Emerging multiple sclerosis oral therapies. Neurology 2010;74(Suppl1):S47–53.

Presse-Informationen der Firma Merck Serono, vorgestellt am 8.2.2010 in Frankfurt/Main.

Geschäftsbericht 2009 der Firma Merck Serono unter www.merck.de/geschaeftsbericht2009, Stand 02/2010.

Arzneimitteltherapie 2010; 28(04)