Prioritäten sind nötig


Veröffentlicht am: 28.11.2019

Prof. Dr. med. Jürgen Schölmerich, Regensburg

Warum das Gesundheitssystem nicht zur Ruhe kommt

Betrachtet man Umfragezahlen zu Sorgen und Wünschen der Bevölkerung, rangiert das Gesundheitssystem neben Arbeitsplätzen und Frieden unabhängig von der betrachteten Personengruppe immer auf den vorderen Rängen. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – gelingt es seit Jahrzehnten nicht, das System so umzustrukturieren, dass für mehr als ein Jahr keine Kassandrarufe in den Medien erscheinen, berufsständische Organisationen oder Industrieverbände den eigenen Untergang prophezeien, Arbeitgeberverbände über Gesundheit als Lohnkostenfaktor jammern oder gar das ganze System als ineffizient und den Patienten gefährdend dargestellt wird. Angesichts des hohen Interesses der Bevölkerung an diesem Thema verwundert es nicht, dass alle diese Befürchtungen nur zu gerne von den Medien transportiert werden, was sicherlich mit dazu beiträgt, dass die Ängste und Klagen sowie die Hilflosigkeit der Politik nicht geringer werden.

Nimmt man einen Jahrgang gesammelter Kommentare, Leitartikel und anderer Mitteilungen zur Gesundheitsreform zur Hand, fällt auf, dass es an jeglicher konsensueller Rangordnung der Ziele der ständig angeforderten Reformen fehlt. Dies erklärt wohl die frustranen Bemühungen und zeigt auch den Weg zu einer Lösung.

Was könnte eine Regierung also tun?

Zunächst einmal müssten die Ziele einer Strukturierung (Reform) des Gesundheitssystems definiert und in eine gewertete Reihenfolge gebracht werden. Dies wäre eine größere Parlamentsdebatte wert. Erst danach kann man sich damit beschäftigen, die zahlreichen Komponenten des Gesundheitssystems geordnet nach diesen Zielen und im Kontext miteinander entsprechend einer solchen Hierarchie umzustrukturieren.

Wie könnte eine solche Hierarchie aussehen?

  • Primäres Ziel: Nutzung der möglichen medizinischen Hilfen durch alle Mitglieder der Gesellschaft (Verzicht auf Rationierung, Triage und Priorisierung)
  • Sekundäre Ziele: Erhaltung des medizinischen Fortschritts (Forschung und Weiterentwicklung); Begrenzung der Ausgaben auf das durch das primäre Ziel und den gesellschaftlichen Konsens definierte Maß
  • Tertiäre Ziele: Sicherstellung der Existenz der Arbeitsplätze in der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie; Sicherstellung adäquater Arbeitszeiten und adäquater Bezahlung der verschiedenen „Leistungserbringer“ im Gesundheitssystem

Um diese Ziele in ihrer Hierarchie zu erreichen, sind verschiedene Schritte erforderlich. Zunächst muss ein gesellschaftlicher Konsens definiert werden. Das heißt – und dazu wäre eine Parlamentsdebatte nützlich –, es muss erfasst werden, was die primären Wünsche der Gesellschaft sind. Daran anschließend ist es erforderlich, das medizinisch Nützliche zu definieren. Das heißt umgekehrt, das nicht Nützliche auszugrenzen. Sodann müssen die zur Realisierung der oben genannten Ziele erforderlichen „Leistungserbringer“ qualitativ und quantitativ erfasst werden. Nur dann wird es möglich, die Effekte jeder Umstrukturierung auf den medizinisch-technischen Komplex ohne Rücksicht auf das ubiquitäre Klagen zu erfassen. Wenn alle diese Daten bekannt sind, kann es gelingen, die entsprechenden Stellen und deren Finanzierung an die so definierten Notwendigkeiten anzupassen. Schließlich muss die klinische Forschung auf ihren verschiedenen Ebenen, von der grundlagenorientierten über die krankheitsorientierte bis zur patientenorientierten und Versorgungsforschung, sichergestellt werden.

Es ist evident, dass eine solche Konzeption, ganz abgesehen von der schwierigen initialen Phase der Gewichtung der Ziele einer Reform, neben Zeit vor allem politische Kraft und Gestaltungsfähigkeiten benötigt. Ein solcher Ansatz muss daher möglichst früh in einer Legislaturperiode beginnen, 2010 bietet dafür eine Chance und es ist zu hoffen, dass sie genutzt wird.

Arzneimitteltherapie 2010; 28(05)