Komplizierte Infektionen

Tigecyclin, ein Instrument der antibiotischen Vielfalt


Simone Reisdorf, Erfurt-Linderbach

Während Infektionen durch multiresistente Bakterien immer häufiger werden, schwinden die Möglichkeiten einer antibiotischen Therapie. Betroffen sind davon vor allem infizierte Patienten auf Intensivstationen. Die Wirksamkeit des intravenös applizierbaren Tigecyclin ist dennoch unverändert gut, und zwar in vitro und in vivo. Dies wurde auf einem von der Pfizer Deutschland GmbH veranstalteten Pressegespräch in Berlin betont.

Die Entwicklung eines neuen Antibiotikums dauert mindestens acht bis zehn Jahre. Demnach wird es, betrachtet man laufende Zulassungsstudien, vor 2017 keine neuen Antibiotika-Klassen geben. Zudem ist unter den 165 Antibiotika, die derzeit getestet werden, keines, das gegen gramnegative Bakterien gerichtet ist.

Dies könnte zu einem Problem werden, denn nosokomiale Infektionen mit multiresistenten Erregern gehen längst nicht mehr nur von grampositiven Bakterien wie dem bekannten Staphylococcus aureus aus. Immer mehr gramnegative Bakterien entwickeln sich unter Selektionsdruck zu Extended-Spectrum-Beta-Lactamase(ESBL)-Bildnern. Diese Art der Antibiotikaresistenz ist vor allem bei einigen Stämmen von Klebsiella pneumoniae, Escherichia coli und anderen Enterobakterien verbreitet. ESBL-Bildner sind gegen alle Beta-Lactam-Antibiotika mit Ausnahme der Carbapeneme resistent. Selbst gegen Carbapeneme haben einige Klebsiella-Stämme inzwischen eine spezielle Waffe hervorgebracht: die New-Delhi-Metallo-Beta-Lactamase-1 (NDM-1). Die genetische Ausstattung, die benötigt wird, um diese besondere Beta-Lactamase zu bilden, kann per Gentransfer sogar auf andere Stämme, etwa auf Shigellen und Cholera-Erreger, übertragen werden.

Abrücken von strikten Antibiotika-Plänen

Angesichts dieser düsteren Prognose ist ein strukturiertes Vorgehen gegen multiresistente Erreger gefragt. Dazu gehört für jedes Krankenhaus ein Gesamtkonzept, das sich aus Kenntnis der lokalen Resistenzlage, konsequent umgesetzten Hygienemaßnahmen sowie gezieltem und sinnvollem kalkuliertem Antibiotikaeinsatz zusammensetzt. Um der Verbreitung multiresistenter Erreger und der Entwicklung neuer Resistenzen entgegenzutreten, ist es wichtig, die Vielfalt der zur Verfügung stehenden Antibiotika auszuschöpfen und von starren Rotations- oder First-Line-/Reserve-Strategien abzurücken. So sind Carbapeneme wie Imipenem (z.B. Zienam®) oder Meropenem (z.B. Meronem®) zwar noch gegen die typischen ESBL-Bildner wirksam – ihr routinemäßiger Einsatz bei allen Infektionen durch ESBL-Bildner würde aber erneut einen Selektionsdruck und neue Resistenzen hervorbringen.

Eine Alternative zu Carbapenemen für die Behandlung von Infektionen durch zahlreiche multiresistente Erreger ist das Glycylcyclin Tigecyclin (Tygacil®): es ist in vitro wirksam gegen grampositive und gramnegative Bakterien mit einigen wenigen Ausnahmen (z.B. Pseudomonas aeruginosa). Auch ESBL-Bildner sind gegenüber Tigecyclin noch sensibel: nach Daten des Tigecycline Evaluation and Surveillance Trial (T.E.S.T.) lag die In-vitro-Wirksamkeit von Tigecyclin gegenüber ESBL-bildenden Enterobacteriaceae in Europa zwischen 2004 und 2008 bei 96,6% [1].

In vivo wirksam gegen Problemkeime

Eine gute Wirksamkeit von Tigecyclin wurde auch unter Praxisbedingungen nachgewiesen: Im Rahmen einer prospektiven, nichtinterventionellen, multizentrischen Studie wurden Daten von 656 Krankenhauspatienten ausgewertet, die an komplizierten Infektionen der Haut- und Weichgewebe (complicated skin and soft-tissue infections, cSSTI) oder des Gastrointestinaltrakts (complicated intraabdominal infections, cIAI) litten. Das Patientenkollektiv war repräsentativ für deutsche Intensivstationen. Die Teilnehmer wurden mit Tigecyclin in Mono- (51%) oder Kombinationstherapie (49%) behandelt. Eine klinische Heilung oder Verbesserung durch die Therapie mit Tigecyclin wurde bei 82% der Patienten mit komplizierten Infektionen der Haut- und Weichgewebe und bei 75% der Patienten mit einer komplizierten Infektion des Gastrointestinaltrakts erzielt. Dabei wurde das Glycylcyclin insgesamt gut vertragen. Unerwünschte Ereignisse, die in Zusammenhang mit der Therapie standen, traten nur bei 6,7% der Patienten auf. Am häufigsten waren Übelkeit und Erbrechen [2].

Kosten einer Tigecyclin-Therapie

Tigecyclin (Tygacil®) ist in Durchstechflaschen mit 50 mg Pulver zur Herstellung einer Infusionslösung verfügbar. Nach einer Initialdosis von 100 mg wird die Gabe von 50 mg alle 12 Stunden über 5 bis 14 Tage empfohlen (Quelle: Fachinformation Tygacil®, Stand Juli 2010). Bei einem Apothekenverkaufspreis von 641,16 Euro für 10 Durchstechflaschen (N3; Quelle: Rote Liste online, Zugriff am 20.06.2011) ergeben sich daraus Tagestherapiekosten von etwa 128,20 Euro.

Rote-Hand-Brief

In einem im März 2011 versandten Rote-Hand-Brief zu Tigecyclin [4] wird auf eine numerisch erhöhte Mortalität von Patienten mit Tigecyclin-Therapie gegenüber Patienten mit einer Vergleichsmedikation hingewiesen. Deshalb soll Tigecyclin nur angewendet werden, wenn bekannt ist oder vermutet wird, dass andere Antibiotika nicht geeignet sind.

Dem Rote-Hand-Brief ging ein Sicherheitshinweis der US-amerikanischen Food and Drug Administration voran, in dem Ergebnisse einer Metaanalyse von 13 Studien mit Tigecyclin aufgeführt sind [5].

Nach Meinung der Experten beim Pressegespräch [1] spiegeln die dort genannten Studienergebnisse die relevanten Fragestellungen und die klinische Realität nur ungenügend wider: Zum einen wurden Todesfälle jeglicher Ursache bis mehrere Monate nach der antibiotischen Therapie einbezogen. Zum anderen gingen in die Auswertung auch Daten zu Indikationen ein, für die Tigecyclin nicht zugelassen ist. In den beiden in Europa zugelassenen Indikationen, nämlich der Therapie von komplizierten Haut- und Weichgewebsinfektionen (außer bei Infektionen des diabetischen Fußes) sowie der Therapie von komplizierten intraabdominellen Infektionen, betrug die Differenz in der Mortalität zwischen Tigecyclin und einer Vergleichssubstanz nur 0,7 bzw. 0,8 Prozentpunkte (cSSTI 1,4 vs. 0,7%, cIAI 3,0 vs. 2,2%). Und schließlich, so die Experten, sei die Sterblichkeit im Klinikalltag leider ohnehin deutlich höher, so dass in der Praxis oft gänzlich andere Rahmenbedingungen vorliegen.

Fazit

Der Nutzen von Tigecyclin ist weiterhin größer als die Risiken. Die Referenten bezeichneten Tigecyclin zusammenfassend als ein wichtiges und bewährtes Instrument zum Durchbrechen lokaler und individueller Resistenzen und zur Wahrung der antimikrobiellen Vielfalt.

Quellen

1. Prof. Dr. med. Reinier Mutters, Marburg, Dr. med. Peter Walger, Bonn, Priv.-Doz. Dr. med. Christian Eckmann, Peine. Pressegespräch „Infektiologische Herausforderungen auf der Intensivstation“, Berlin, 17. März 2011, veranstaltet von Pfizer Deutschland GmbH.

2. Hoban D, et al. In vitro activity of tigecycline and comparators vs. ESBL-producing enterobacteriaceae globally 2004–2008 – Tigecycline Evaluation and Surveillance Trial (T.E.S.T.). Poster E-819, 49th Interscience Conference on Antimicrobial Agents and Chemotherapy (ICAAC), San Francisco, USA, 2009.

3. Eckmann C, et al. Prospective, non-interven- tional, multi-centre trial of tigecycline in the treatment of severely ill patients. Abstract zur 22. Jahrestagung der Paul-Ehrlich-Gesellschaft für Chemotherapie e.V.. Chemother J 2010;19:165.

4. Pfizer Pharma GmbH. Wichtiger Sicherheitshinweis vom 17.3.2011. Einschränkung aller Anwendungsgebiete von Tygacil (Tigecyclin) aufgrund erhöhter Mortalität in klinischen Studien.

5. U.S. Food and Drug Administration. FDA Drug Safety Communication: Increased risk of death with Tygacil (tigecycline) compared to other antibiotics used to treat similar infections.

Arzneimitteltherapie 2011; 29(07)