Dr. med. Peter Stiefelhagen, Hachenburg
In der Diabetologie ist in den letzten Jahren manches in Bewegung geraten, und zwar sowohl bei der Diagnostik als auch bei der Therapie. Im Mittelpunkt der Diskussionen auf dem diesjährigen Europäischen Diabetologen-Kongress in Lissabon sowie bei der Herbsttagung der Deutschen Diabetes-Gesellschaft in Berlin standen neben der Frühdiagnostik die neuen Inkretin-basierten Therapiestrategien.
HbA1c statt Plasmaglucose?
Nachdem die American Diabetes Association in diesem Jahr als bevorzugtes Kriterium für die Diagnosestellung eines Diabetes mellitus einen HbA1c-Wert von mindestens 6,5% empfohlen hat, ist auch hierzulande die Diskussion über die optimale Diagnosestrategie voll entbrannt. Befürworter des HbA1c als entscheidender Parameter für die Diagnosestellung weisen darauf hin, dass auch die herkömmlichen Plasmaglucose-Messungen mit einer Reihe von Fehlerquellen assoziiert sind und außerdem eine durchaus relevante intraindividuelle Schwankungsbreite besteht. Dazu kommt, dass der orale Glucose-Toleranztest aufwendig ist und deshalb nicht die gewünschte Akzeptanz bei Ärzten und Patienten findet.
Auch bei der HbA1c-Bestimmung können falsch positive und falsch negative Ergebnisse auftreten. Vor allem befürchtet man, dass bei einer ausschließlich HbA1c-basierten Diagnosestellung viele bereits Erkrankte nicht erfasst werden. Deshalb hat die Deutsche Diabetes-Gesellschaft jetzt einen Kompromiss erarbeitet: Ein HbA1c-Wert unter 5,7% gilt als „nicht diabetisch“, ein Wert über 6,5% als „sicher diabetisch“. Zwischen diesen beiden Werten wird zur eindeutigen Diagnosesicherung die Bestimmung von Plasmaglucose-Werten unter definierten Bedingungen empfohlen.
Inkretin-basiert oder Insulin?
Die Einführung der Inkretin-basierten Therapien wie der GLP(Glucagon-like-peptide)-1-Analoga und der DPP(Dipeptidylpeptidase)-4-Inhibitoren („Gliptine“) hat die Therapiemöglichkeiten wesentlich bereichert und diese innovativen Therapiestrategien gewinnen zunehmend an Bedeutung. Doch rückt die Insulintherapie deshalb in den Hintergrund? Oder ist es sinnvoll, beides zu kombinieren, also das physiologische System der Inkretine zu unterstützen und gleichzeitig das fehlende Insulin zu ersetzen?
Sicherlich wird man im diabetologischen Alltag in der Regel dann, wenn Metformin nicht ausreicht, zusätzlich einen DPP-4-Inhibitor, bei sehr Übergewichtigen eventuell auch ein GLP-1-Analogon geben. Doch bei starker Blutzuckerentgleisung dürfte eine zumindest kurzzeitige interventionelle Insulintherapie sinnvoll, ja sogar unverzichtbar sein, um die Glucose-Toxizität zu durchbrechen. Von einem solchen Vorgehen – auch als „Stent des Diabetologen“ bezeichnet – profitieren Diabetiker auch längerfristig im Sinne eines metabolischen Gedächtnisses. Auch ist die Gabe eines DPP-4-Inhibitors durchaus sinnvoll, wenn unter Metformin plus Basalinsulin weiterhin erhöhte prandiale Blutzuckerwerte bestimmt werden. Man muss also kein Prophet sein, um sagen zu können, dass die Zukunft der Kombination eines Inkretin-basierten Therapieprinzips mit Insulin gehört. Somit dürfte aus dem „entweder oder“ ein „sowohl als auch“ werden.
DPP-4-Hemmer bei chronischer Niereninsuffizienz?
Bisher sind DPP-4-Inhibitoren für Patienten mit moderater oder schwerer Niereninsuffizienz nicht zugelassen. Doch es gibt erste positive Studiendaten, so dass bereits positive Beurteilungen von der europäischen Zulassungsbehörde gegeben wurden. Somit besteht berechtigte Hoffnung, dass DPP-4-Inhibitoren in absehbarer Zeit für Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz zur Verfügung stehen werden – ob alle oder nur einige, das wird sich zeigen. Für die Behandlung dieser Patienten bedeutet dies sicherlich einen großen Fortschritt, zumal Metformin und Sulfonylharnstoffe kontraindiziert sind.
Doch die eigentliche Kunst der Diabetologie besteht auch im Zeitalter neuer Substanzen weiterhin darin, für den individuellen Patienten in seiner konkreten Krankheitsphase die richtige Strategie zu finden. Eine solche individualisierte Therapie, die sich an diabetischen Phänotypen orientiert, ist aber sicherlich nicht immer einfach und erfordert viel Erfahrung.
Arzneimitteltherapie 2011; 29(12)