Hans-Peter Lipp, Tübingen
Täglich bildet der menschliche Körper aus einer vergleichsweise geringen Anzahl an hämatopoetischen Stammzellen etwa 120 Milliarden Granulozyten. Mengenmäßig stellen die Neutrophilen den größten Anteil unter den Granulozyten und etwa 50 bis 75% aller zirkulierenden Leukozyten dar. Allerdings ist ihre Lebensdauer relativ kurz: Im Blut überdauern sie nur etwa acht Stunden, gefolgt von einem Übergang von 1 bis 3 Tagen im peripheren Gewebe. Zu den wichtigsten Zytokinen, die im Rahmen der Granulopoese eine Rolle spielen, gehören Granulozyten-Makrophagen-Kolonie-stimulierender Faktor (GM-CSF) und Granulozyten-Kolonie-stimulierender Faktor (G-CSF) [1–8] (Abb. 1).

Abb. 1. Zytokin-basierte Regulation der Hämatopoese. Pluripotente Stammzellen im Knochenmark differenzieren in verschiedene Linien reifer hämatopoetischer Zellen aus (mod. nach [1]). SCF: Stammzellfaktor; IL: Interleukin; GM-CSF: Granulozyten-Makrophagen-Kolonie-stimulierender Faktor; EPO: Erythropoetin; TPO: Thrombopoetin; G-CSF: Granulozyten-Kolonie-stimulierender Faktor
Unter dem breiten Spektrum dosisabhängig auftretender Chemotherapie(CTX)-induzierter Nebenwirkungen kommt der Myelosuppression eine ganz besondere Bedeutung zu. Die damit assoziierte Infektanfälligkeit der Patienten kann bei entsprechend niedriger Neutrophilenzahl zu lebensbedrohlichen Situationen führen. So kann die Neutropenie – insbesondere nach intensivierten Chemotherapien – so stark ausgeprägt sein, dass febrile Episoden auftreten. Die febrile Neutropenie ist definiert als Anstieg der axillären Körpertemperatur auf ≥38,5°C über mindestens eine Stunde und weniger als 500 neutrophile Granulozyten pro µl Blut. Werden in den Folgezyklen empirische Dosismodifikationen durchgeführt, so kann aufgrund reduzierter Dosisdichten der Therapieerfolg abgeschwächt sein.
Inzwischen ist durch eine Vielzahl von Studien belegt, dass durch die G-CSF- oder GM-CSF-vermittelte Abschwächung der Dauer und Schwere einer Chemotherapie-assoziierten Neutropenie gleichzeitig das Risiko für febrile Episoden und Infektionen gesenkt werden kann.
Darüber hinaus vergrößern diese rekombinanten Zytokine die Ausbeute beim Sammeln hämatopoetischer Stammzellen im peripheren Blut für eine spätere allogene oder autologe Stammzelltransplantation [1–3].
Hämatopoetische Wachstumsfaktoren
Kolonie-stimulierende Faktoren wirken auf hämatopoetische Vorläuferzellen, indem sie an spezifische Oberflächenrezeptoren binden und dadurch die Proliferation, die Differenzierung sowie bestimmte funktionelle Aktivitäten der Zielzellen stimulieren (Abb. 1).
Der Granulozyten-Kolonie-stimulierende Faktor (G-CSF) ist ein Glykoprotein, das von Monozyten, Fibroblasten und Endothelzellen gebildet wird und als linienspezifischer Faktor unter anderem die Neubildung neutrophiler Granulozyten im Knochenmark anregt. Dabei steigert er nicht nur die Proliferation von Vorläuferzellen sowie deren Freisetzung aus dem Knochenmark in das periphere Blut, sondern er unterstützt auch deren Differenzierung in ausgereifte neutrophile Granulozyten.
An Granulozyten-Kolonie-stimulierenden Zytokinen, die nachweislich zu einer Reduktion der Dauer und Schwere einer Chemotherapie-assoziierten Neutropenie führen, sind in Deutschland derzeit die Präparate Granocyte® (Lenograstim), Neupogen® (Filgrastim) und Neulasta® (Pegfilgrastim) im Handel. Von Filgrastim stehen nach Ablauf des Patentschutzes inzwischen auch Biosimilars für die therapeutische Anwendung zur Verfügung (siehe Kasten). Ihre Wirkung vermitteln diese Granulozyten-Kolonie-stimulierenden Faktoren durch Bindung an die extrazelluläre Domäne eines transmembranär lokalisierten Rezeptors auf Granulozyten-Vorläuferzellen und Neutrophilen. Die intrazelluläre Signaltransduktion wird über den JAK/STAT-, den PI3-K/PKB- und den MAPK-Weg vermittelt (Abb. 2). Inzwischen sind mehrere genetische Besonderheiten bekannt, die sowohl die extrazelluläre Domäne des G-CSF-Rezeptors als auch die intrazelluläre Signaltransduktion betreffen (z. B. konstitutiv veränderte JAK-Aktivität) und mit einem sehr geringen Ansprechen auf supportive G-CSF-Gaben verbunden sein können [7, 8]. Weshalb in einem Einzelfall bei einem Kind mit kongenitaler Neutropenie infolge einer Punktmutation im Bereich der extrazellulären Domäne des G-CSF-Rezeptors, das nicht auf alleinige G-CSF-Gaben ansprach, durch zusätzliche Applikation von Prednison in niedriger Dosierung ein Anstieg der Neutrophilenzahl sowie eine Rückbildung der Infektionssymptome erzielt werden konnte, ist noch unklar und zeigt, dass noch eine Vielzahl an Fragen zur klinischen Relevanz dieser Polymorphismen geklärt werden müssen [9].

Abb. 2. Aktivierung der Signaltransduktionskaskade durch G-CSF (nach [8])
PI3-K: Phosphatidylinositol-3-Kinase; PKB: Proteinkinase B; JAK: Januskinase; STAT: Signal transducer and activator of transcription; Shc: ein Adapterprotein; Grb2: Growth factor receptor-bound protein; SOS: Son of sevenless; RAS: Rat sarcoma; Socs: Suppressor of cytokine signaling; Shp-1: Small heterodimer partner; Y: Tyrosin
Biosimilars von Filgrastim
Läuft der Patentschutz eines rekombinant hergestellten Proteins aus, so kann in Europa über die europäische Zulassungsbehörde EMA die Zulassung eines Handelspräparats durch einen Zweitanbieter vorbereitet werden. Da allerdings im Rahmen des komplexen Herstellungsverfahrens nicht von identischen Endprodukten ausgegangen werden kann, wurde frühzeitig der Begriff „Biosimilar“ eingeführt. In diesem Zusammenhang kann im Gegensatz zu einem Erstzulassungsverfahren ein geringeres Spektrum an Phase-I- und -III-Studienergebnissen ausreichend sein, da Extrapolationen auf andere Anwendungsgebiete möglich sind. Folglich kann eine Indikation in der Gebrauchsinformation eines Biosimilars aufgeführt sein (z. B. Mobilisierung von Stammzellen ins periphere Blut), ohne dass hierfür Phase-III-Studienergebnisse vorgelegt werden mussten.
Bis heute sind nicht alle Zweifel an der langfristigen Sicherheit von Biosimilars ausgeräumt. Viele erinnern sich dabei an die Konsequenzen einer alleinigen Formulierungsänderung bei Epoetin alfa vor etwa zehn Jahren und die darauf folgende Beobachtung der PRCA (Pure red cell aplasia) als Folgekomplikation. Es darf allerdings nicht vergessen werden, dass es sich zum einen bei Filgrastim – im Gegensatz zu Epoetin – um ein nichtglykosyliertes und damit weniger komplexes Protein handelt und zum anderen die Zulassungsbedingungen über die EMA streng geregelt sind. Die damit verbundenen Auflagen sehen unter anderem auch ein engmaschiges Follow-up zu möglichen immunologischen Reaktionen über mehrere Monate nach Zulassung vor [15]. Bisher existiert für kein Filgrastim-Biosimilar ein ernstzunehmender Hinweis auf eine mögliche Autoantikörperbildung während mehrtägiger Gaben. Phase-III-Vergleichsstudien mit dem Originalpräparat ließen darüber hinaus keine Hinweise für eine abweichende Wirksamkeit oder Verträglichkeit erkennen [16]. Allerdings empfiehlt die EMA, Präparate innerhalb einer Verordnungskette, beispielsweise zwischen Zyklus 1 und 6, nicht auszutauschen, da in einem solchen Fall im Rahmen eines möglichen Pharmakovigilanz-Berichts die direkte kausale Zuordnung einer subchronischen Toxizität zu einem bestimmten Präparat nicht mehr möglich ist. Aus diesem Grund sollte durchgehend über die Therapiezyklen hinweg dasselbe Handelspräparat verwendet werden [17]. Auch die aktuelle Aut-idem-Regelung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) (Stand Oktober 2011) sieht keinen Wechsel vor [18].
Beim Vergleich der derzeit in Deutschland zugelassenen Granulozyten-Kolonie-stimulierenden Faktoren fallen Unterschiede hinsichtlich der Herstellung, Zusammensetzung, Lagerung, Anwendung, physikalisch-chemischen Stabilität, zugelassenen Indikationen, Dosierungsempfehlungen und pharmakologischen Eigenschaften auf (Tab.1), worauf im Folgenden näher eingegangen wird [4–6].
Tab. 1. Granulozyten-Kolonie-stimulierende Faktoren im Vergleich (nach [42–45])
Parameter |
Lenograstim |
Filgrastim |
Pegfilgrastim |
Sargramostim (Leukine®, in den USA zugelassen) |
Zytokin |
G-CSF (glykosyliert) |
G-CSF (nichtglykosyliert) |
PEG-G-CSF |
GM-CSF (glykosyliert) |
Herstellung (rekombinant) |
Ovarialzellen des chinesischen Hamsters (CHO-Zellen) |
E. coli K12 |
E. coli K12 |
Hefezellen |
Zusammen |
Trockensubstanz:
|
Fertiglösung als Fertigspritze:
Fertiglösung als Durchstechflasche:
|
Fertiglösung als |
Trockensubstanz:
|
Lagerung |
Bei Raumtemperatur |
Bei 2–8°C |
Bei 2–8°C |
Bei 2–8°C |
Anwendungshinweise |
S. c. (auch i. v. möglich); Rekonstitution in Aqua ad. inj.; Verdünnung mit NaCl 0,9% bis zu 2,5 µg/ml möglich |
S. c. (auch i. v. möglich); Verdünnung mit 5%iger Glucose möglich; bei einer Endkonzentration <15 µg/ml Infusionslösung sollte Humanalbumin bis zu einer Endkonz. von 2 mg/ml zugesetzt werden. |
S. c. (auch i. v. möglich); Verdünnung mit 5%iger Glucose möglich |
S. c. und i. v.; Rekonstitution von 250 µg mit 1 ml Aqua ad. inj.; Verdünnung mit NaCl 0,9% möglich; bei einer Endkonz. ≤10 µg/ml soll Humanalbumin bis zu einer Endkonz. von 1 mg/ml zugesetzt werden |
Angaben zur physikalisch-chemischen Stabilität2 |
Verdünnungen sind 14 Tage bei 2–8°C haltbar |
Verdünnungen in Glucose 5% sind 7 Tage bei Raumtemperatur oder bei 2–8°C haltbar |
Derzeit keine weitergehenden Angaben vorhanden |
Verdünnungen von konservierungsmittelhaltigem Aqua ad inj. sind bis zu 20 Tage bei 2–8°C haltbar |
Anwendungsgebiete (gemäß Zulassung) |
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Empfohlene Dosierung |
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Halbwertszeit |
3,5 Stunden |
3,5 Stunden |
15–80 Stunden |
1–2 Stunden |
1 inzwischen gibt es mehrere Biosimilars, z. B. Ratiograstim®, Filgrastim Hexal®, Nivestim®, Zarzio®; 2 Quelle: Preiß, Dornoff, Hagmann, Schmieder (Hrsg.): Taschenbuch Onkologie – Interdisziplinäre Empfehlungen zur Therapie 2008/09. 14. Auflage, 2008, W. Zuckschwerdt Verlag München; G-CSF: Granulozyten-Kolonie-stimulierender Faktor; PEG: pegyliert; GM-CSF: Granulozyten-Makrophagen-Kolonie-stimulierender Faktor; s. c.: subkutan; i. v. intravenös
Filgrastim und Lenograstim
Granocyte® enthält den Wirkstoff Lenograstim, der mittels gentechnisch veränderter Ovarialzellen des chinesischen Hamsters (CHO-Zellen) gewonnen wird. Im Rahmen dieses Herstellungsprozesses kann Lenograstim wie das natürlich vorkommende Zytokin posttranslational glykosyliert werden.
Neupogen® enthält den Wirkstoff Filgrastim, der nicht glykosyliert ist, da das Molekül in einem prokaryotischen Expressionssystem (gentechnisch veränderten Escherichia-coli-Stämmen) hergestellt wird. Im Gegensatz zum nativ vorkommenden G-CSF (174 Aminosäuren) enthält Filgrastim zusätzlich die Aminosäure Methionin am N-terminalen Ende (175 Aminosäuren).
Die Glykosylierung bei Lenograstim hat eine höhere physikalisch-chemische Stabilität des Wirkstoffs bei neutralen pH-Werten unter Raumtemperatur zur Folge, während Filgrastim in einem pH-Bereich von etwa 3,8 bis 4,2 am stabilsten ist. Für Neupogen® wird daher als Verdünnungsmittel bei Bedarf (z. B. bei geplanter Infusion) Glucose 5% und nicht NaCl 0,9% empfohlen, während für Lenograstim nur NaCl 0,9% als weiteres Verdünnungsmittel verwendet werden sollte. Während Filgrastim als applikationsfertige Spritze zur Verfügung steht, handelt es sich bei Lenograstim um ein Lyophilisat, das in einer Durchstechflasche erhältlich ist und kurz vor Gebrauch rekonstituiert werden muss. Während Filgrastim zwischen 2°C und 8°C gelagert werden muss, erlaubt das Fertigarzneimittel für Lenograstim eine Lagerung und einen Transport bei Raumtemperatur. Weitergehende Untersuchungen hatten zum Ergebnis, dass nach Auflösen des Lyophilisats unter sterilen Bedingungen mit einer physikalisch-chemischen Stabilität des Wirkstoffs von etwa 14 Tagen bei 2 bis 8°C oder Raumtemperatur zu rechnen ist [12, 13].
Filgrastim und Lenograstim weisen eine Eliminationshalbwertszeit von etwa 3,5 Stunden auf. Ihre Clearance erfolgt überwiegend Endozytose-vermittelt über G-CSF-Rezeptor-exprimierende neutrophile Granulozyten, teilweise werden sie renal eliminiert (Tab. 1).
Auf der Basis von In-vitro-Untersuchungen ergaben sich Hinweise darauf, dass Lenograstim, das dem nativ vorkommenden humanen G-CSF am ähnlichsten ist, nicht nur eine höhere Bindungsaffinität am G-CSF-Rezeptor aufweist, sondern dass die gebildeten Neutrophilen auch funktionell voll aktiv sind, während unter Filgrastim-Exposition funktionale Defizite (z. B. mehr unreife Phänotypen) und Veränderungen im Zytoskelett (z. B. Aktin-Polymerisation) beobachtet wurden. Allerdings lassen sich diese experimentellen Befunde nicht unmittelbar auf die klinische Praxis übertragen [14].
Pegfilgrastim
Mit Pegfilgrastim (Neulasta®) steht seit 2002 auch eine pegylierte Darreichungsform von Filgrastim zur Verfügung, die eine einmalige s. c. Injektion von 6 mg nach erfolgter Chemotherapie ermöglicht (Tab. 1). Durch die Pegylierung wird die Pharmakokinetik von Filgrastim verändert: Die Wirkstoffelimination erfolgt nahezu ausschließlich über Endozytose, während die renale Wirkstoff-Elimination praktisch keine Rolle mehr spielt. Daraus lassen sich zwei Schlussfolgerungen ableiten:
Selbst bei schweren Nierenfunktionsstörungen ergibt sich unter der Standarddosis von 6 mg Pegfilgrastim s. c. (absolut) kein verändertes pharmakokinetisches Profil gegenüber Nierengesunden
Die Pegfilgrastim-Clearance steht in direktem Zusammenhang mit der G-CSF-Rezeptor-exprimierenden Neutrophilenzahl. Steigen die Neutrophilen nach Durchschreiten des Nadir wieder deutlich an, nimmt parallel die Pegfilgrastim-Clearance zu. So wurde beispielsweise bei Neutrophilen-Werten von über 1000/µl nach Durchschreiten des Nadir gleichzeitig ein Abfall der Pegfilgrastim-Konzentrationen in den subtherapeutischen Bereich (unter 2 ng/m³) beobachtet [10, 11].
Entscheidend für die Zulassung von Pegfilgrastim waren die Ergebnisse zweier Phase-III-Studien, die zeigten, dass eine einmalige s. c. Injektion von Pegfilgrastim (Studie I: 6 mg s. c., Studie II: 100 µg/kg s. c.) bei Mammakarzinom-Patientinnen nach Chemotherapie Dauer und Schwere einer Neutropenie mindestens gleichermaßen reduzierte wie die konventionelle tägliche Gabe von Filgrastim. Eine kombinierte Auswertung beider Studien ergab eine signifikante Risikoreduktion für febrile Neutropenien unter Pegfilgrastim (11% versus 19%), die wiederum mit weniger Krankenhausaufenthalten und intravenös anzuwendenden Antibiotika einherging [19–21].
G-CSF versus GM-CSF
Zwar wird durch GM-CSF im Gegensatz zu G-CSF unter experimentellen Bedingungen gleichzeitig auch die Produktion von Monozyten und eosinophilen Granulozyten angeregt (Abb. 1), jedoch kommt der Stimulation dieser Untergruppen hinsichtlich der Zielsetzung „Reduktion der Dauer und Schwere einer Chemotherapie-induzierten Neutropenie“ keine besondere, klinisch relevante Bedeutung zu. Möglicherweise wirkt sich die Stimulation von Eosinophilen sogar ungünstig auf das Nebenwirkungsprofil von GM-CSF aus, da unter rekombinanten GM-CSF-Präparaten dosisabhängig vermehrt über grippeähnliche Symptome berichtet wurde.
In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass schon vor Jahren in Deutschland die Vermarktung des GM-CSF-Präparats Molgramostim (Leucomax®, a. H.) eingestellt wurde, da es hinsichtlich seines Nebenwirkungsspektrums ungünstiger beurteilt wurde als rekombinantes G-CSF, ohne gleichzeitig wirksamer zu sein [22]. Allerdings steht das strukturverwandte Sargramostim (Leukine®; Tab. 1) in den USA weiterhin zur Verfügung, auch wenn nach aktuellen Erhebungen sein Einsatz als Supportivtherapeutikum deutlich rückläufig ist [23]. In der Ex-vivo-Expansion von hämatopoetischen Vorläuferzellen ist Sargramostim allerdings weiterhin von gewisser Bedeutung.
Während im Rahmen zweier retrospektiver Studien von einer schlechteren Verträglichkeit beziehungsweise etwas höheren Inzidenz an febrilen Neutropenien unter GM-CSF (Sargramostim) im Vergleich zu G-CSF (Filgrastim) berichtet wurde, war Sargramostim Filgrastim in anderen Studien nicht unterlegen und mindestens ebenso verträglich [24–26]. In einer weiteren retrospektiven Kohortenstudie waren infektionsassoziierte Krankenhauseinweisungen unter Sargramostim im Vergleich zu Filgrastim oder Pegfilgrastim sogar signifikant seltener – ein abschließendes Urteil zur Abgrenzung der einzelnen Präparate zu fällen, ist daher schwierig [27].
Alle im Handel befindlichen rekombinanten G-CSF- und GM-CSF-Präparate haben keinen direkten Einfluss auf die Neubildung von Thrombozyten, da deren Ausdifferenzierung entscheidend durch Thrombopoetin reguliert wird.
Verträglichkeit
Subkutane Applikationen von Pegfilgrastim, Filgrastim oder Lenograstim gemäß den Empfehlungen in den Fachinformationen (Tab. 1) werden von den Patienten meist gut vertragen. Am häufigsten berichtete unerwünschte Wirkungen sind milde bis mäßige Knochen- und Muskelschmerzen, die allerdings in den meisten Fällen mit Standardanalgetika (z. B. Naproxen, Paracetamol) beherrschbar sind. Darüber hinaus kann auch der prophylaktische Einsatz eines H1-Antihistaminikums sinnvoll sein. In Einzelfällen wurde von einem Zusammenhang zwischen der Gabe von G-CSF und dem Auftreten einer Milzruptur berichtet, allerdings blieben die genauen Hintergründe dieser Komplikation unklar. Weitergehende Erfahrungen lassen darüber hinaus den Schluss zu, dass supratherapeutische Dosen (z. B. 200 µg/kg Pegfilgrastim anstelle von 100 µg/kg) mit einem erhöhten Risiko für eine Hyperleukozytose (>100 000 Leukozyten/µl Blut) verbunden sind [12, 28–30].
Leitlinien der Fachgesellschaften zum Einsatz von G-CSF-Präparaten
Da die Therapiekosten mit G-CSF-Präparaten im ambulanten Bereich nicht unbeträchtlich sind, begann die American Society of Clinical Oncology (ASCO) frühzeitig, Leitlinien für deren Anwendung zu implementieren. Nach den derzeit gültigen Leitlinien der European Organisation for Research and Treatment of Cancer (EORTC) und der European Society for Medical Oncology (ESMO), die in Anlehnung an die ASCO-Leitlinie aus dem Jahr 2006 [46] entstanden sind, ist der Einsatz von rekombinanten G-CSF-Präparaten nur dann bereits im Rahmen des ersten Chemotherapie-Zyklus indiziert („Primärprophylaxe“), wenn die Dosisintensität des Therapieregimes bei über 20% der behandelten Patienten eine febrile Neutropenie (FN) erwarten lässt (Tab. 2 und Abb. 3). Die Primärprophylaxe gilt darüber hinaus auch dann als gerechtfertigt, wenn das Risiko für eine febrile Neutropenie zwischen 10 und 20% liegt und gleichzeitig verschiedene Komorbiditäten oder ein Patientenalter über 65 Jahre vorliegt (Abb. 3). Die G-CSF-Gabe ist erst dann zu beenden, wenn die Leukozytenzahl an zwei aufeinanderfolgenden Tagen stabil über 2000/µl liegt.
Tab. 2. Chemotherapie-Protokolle und damit einhergehendes Risiko für die Entstehung einer febrilen Neutropenie (FN) (mod. nach [31])
Tumorart |
FN [%] |
Chemotherapie-Regime |
FN [%] |
Mammakarzinom |
> 20 |
AC → Docetaxel |
5–25 |
Doxorubicin/Docetaxel |
33–48 |
||
TAC |
22–25 |
||
10–20 |
AC |
10–20 |
|
Doxorubicin/Vinorelbin |
15 |
||
Docetaxel |
16–17 |
||
< 10 |
FEC 120 |
9–14 |
|
CMF |
0–3 |
||
Kleinzelliges Lungenkarzinom (SCLC) |
> 20 |
ACE |
24–57 |
Topotecan |
28 |
||
ICE |
24 |
||
10–20 |
Etoposid/Carboplatin |
10–20 |
|
Topotecan/Cisplatin |
19 |
||
< 10 |
Paclitaxel/Carboplatin |
9 |
|
Nichtkleinzelliges Lungenkarzinom (NSCLC) |
> 20 |
Docetaxel/Carboplatin |
26 |
Etoposid/Cisplatin |
54 |
||
Cisplatin/Vinorelbin/Cetuximab |
22 |
||
10–20 |
Paclitaxel/Cisplatin |
16 |
|
Vinorelbin/Cisplatin |
1–10 |
||
< 10 |
Paclitaxel/Carboplatin |
0–9 |
|
Gemcitabin/Cisplatin |
1–7 |
||
Non-Hodgkin-Lymphom (NHL) |
> 20 |
CHOP-21 |
17–50 |
10–20 |
R-CHOP-21 |
19 |
|
Fludarabin/Mitoxantron |
11 |
||
Kolorektales Karzinom |
10–20 |
FOLFIRI |
3–14 |
< 10 |
FOLFOX |
0–8 |
|
Magen |
> 20 |
TCF |
41 |
10–20 |
FOLFOX-6 |
11 |
AC: Doxorubicin/Cyclophosphamid; TAC: Docetaxel/Doxorubicin/Cyclophosphamid; FEC: Fluorouracil/Epirubicin/Cyclophosphamid; CMF: Cyclophosphamid/Methotrexat/Fluorouracil; ACE: Doxorubicin/Cyclophosphamid/Etoposid; ICE: Ifosfamid/Carboplatin/Etoposid; CHOP: Cyclophosphamid/Doxorubicin/Vincristin/Prednisolon; R-CHOP: Rituximab plus CHOP; FOLFIRI: Folinsäure/Fluorouracil/Irinotecan; FOLFOX: Folinsäure/Fluorouracil/Oxaliplatin; TCF: Docetaxel/Cisplatin/Fluorouracil

Abb. 3. Algorithmus zur Beurteilung, ob G-CSF zur Primärprophylaxe bzw. in den Folgezyklen indiziert ist (mod. nach [31])
Kritisch beurteilen die ESMO bzw. EORTC in ihren aktuellen Leitlinien allerdings den empirischen Einsatz von G-CSF in denjenigen Fällen, in denen kein kurativer Therapieansatz besteht und empirische Dosisreduktionen im palliativen Setting erwogen werden können, zumal der Einsatz von G-CSF bisher nicht nachweislich zu einer Verlängerung des Gesamtüberlebens der Patienten führen konnte. Ebenfalls kritisch sieht die Fachgesellschaft die Anwendung von G-CSF bei manifester Neutropenie und bereits bestehendem unkompliziertem Fieber. Sehr wahrscheinlich ist der Zusatz von G-CSF zu einer empirischen Breitspektrum-Antibiotika-Therapie nur bei ausgewählten Patienten mit schwerer Neutropenie (<500/µl) nach intensivierten Chemotherapien zu rechtfertigen, soweit sie das Zytokin nicht bereits in der Prophylaxe erhalten hatten.
Nicht befürwortet werden kann bisher der Einsatz von G-CSF außerhalb von Studien, wenn das Zytokin zur Dosisintensivierung oder Intervallverkürzung im Rahmen einer Zytostatika-Therapie verwendet werden soll oder wenn ein Priming bei Patienten mit akuter myeloischer Leukämie beabsichtigt ist und das Zytokin kurz vor oder begleitend zur Chemotherapie eingesetzt wird [31, 32].
Dosierung, Therapiebeginn und -dauer
Beim Vergleich der Dosierungen der beiden rekombinanten G-CSF-Präparate Filgrastim und Lenograstim ist zu berücksichtigen, dass bei Filgrastim 100000 Einheiten pro µg Wirkstoff und bei Lenograstim 127757 I. E. (internationale Einheiten) pro µg Wirkstoff als biologische Aktivität angegeben werden und in diesem Zusammenhang eine Einheit (Filgrastim) nicht mit einer internationalen Einheit (Lenograstim) direkt gleichgesetzt werden darf (Tab. 1).
Kostenminimierung durch geringere G-CSF-Dosen?
Toner et al. zählten zu den Ersten, die im Sinne einer Kostenminimierungsanalyse untersuchten, ob durch Gabe niedrigerer G-CSF-Dosen (beispielsweise 2 µg/kg/Tag s. c.) die Gesamtkosten reduziert werden können. Zwar berichteten sie von einer gleichwertigen Therapieoption gegenüber der konventionellen Dosierung von 5 µg/kg/Tag s. c., jedoch war der Einsatz nicht leitliniengerecht, da das Risiko für eine febrile Neutropenie bei den Patienten vergleichsweise niedrig war [33]. Wurde dasselbe Studiendesign bei mit TAC (Docetaxel/Doxorubicin/Cyclophosphamid) behandelten Patientinnen mit einem Chemotherapie-assoziierten Risiko für eine febrile Neutropenie von >20% angewendet, so führte die niedrige Dosis (z. B. 2 µg/kg/Tag) zu einer signifikant erhöhten Inzidenz febriler Neutropenien (32% versus 6,5%; p<0,001). Solche ökonomisch getriggerten Strategien sollten daher nicht weiter verfolgt werden [34].
Beginn der G-CSF-Gabe
In den letzten Jahren wurde wiederholt die Frage gestellt, ob man die erste G-CSF-Gabe nicht hinauszögern kann (z. B. bis Tag 6 nach Chemotherapie), ohne dadurch die gewünschte Reduktion der Dauer und Schwere der Neutropenie ungünstig zu beeinflussen. Die EORTC- und ESMO-Empfehlungen sehen derzeit nur einen Spielraum von 24 bis 72 Stunden nach Applikation der Chemotherapie (Tag 1) vor, während im Rahmen der Reinfusion von peripheren Stammzellen eine erste G-CSF-Gabe zwischen Tag 1 und 5 vorgesehen ist [31, 32, 46].
Zur Frage, ob es einen klinisch relevanten Unterschied macht, ob Pegfilgrastim 24 Stunden (gemäß Fachinformation) oder 72 Stunden nach erfolgter Chemotherapie verabreicht wird, veröffentlichten Zwick et al. vor Kurzem ein bemerkenswertes Studienergebnis: Im Rahmen des gewählten R-CHOP-14-Protokolls (Rituximab, Cyclophosphamid, Doxorubicin, Vincristin und Prednisolon im 14-tägigen Zyklus) erwies sich die Gabe von Pegfilgrastim an Tag 4 (d. h. 72 Stunden nach Chemotherapie-Gabe an Tag 1) als signifikant effektiver als die Gabe an Tag 2 gemäß Fachinformation. Bei Gabe nach 24 Stunden trat in 47% aller Zyklen eine Grad-4-Leukopenie auf, während bei Gabe nach 72 Stunden nur in 20,5% aller Zyklen eine Grad-4-Leukopenie beobachtet werden konnte (Tab. 3). Bei Gabe an Tag 4 waren zudem signifikant weniger interventionelle Antibiotika-Gaben notwendig [35]. Als Erklärungsversuch für diese Beobachtung können präklinische Untersuchungen herangezogen werden, die ergaben, dass eine Chemotherapie akut zu einem starken Abfall der Zellzahl im mitotischen Pool des Knochenmarks führt. Allerdings ist nach 48 Stunden wieder eine Zellexpansion zu erkennen, die nach etwa 72 Stunden ein Maximum erreicht. Eine Gabe von G-CSF in der Expansionsphase könnte deshalb erfolgversprechender sein als die frühe Applikation nach 24 Stunden.
Tab. 3. Inzidenz der Leukopenie (unterschiedliche Schweregrade) unter der Betrachtung aller Therapiezyklen und Patienten bei prophylaktischer Gabe von Pegfilgrastim an Tag 2 oder 4 nach Chemotherapie (R-CHOP-14) (mod. nach [35])
Leukopenie |
Pegfilgrastim s. c. an Tag 2 |
Pegfilgrastim s. c. an Tag 4 |
p-Wert |
Grad ≥3 (<2000/µl) |
70,0% aller Zyklen |
43,4% aller Zyklen |
<0,001 |
84,4% aller Patienten |
70,3% aller Patienten |
0,166 |
|
Grad 4 (<1000/µl) |
47,0% aller Zyklen |
20,5% aller Zyklen |
<0,001 |
65,6% aller Patienten |
43,2% aller Patienten |
0,063 |
In gewisser Weise erinnern die Beobachtungen von Zwick et al. an Phase-II-Studienergebnisse von Crawford et al., die im Rahmen des gewählten Chemotherapieregimes (CAE-Protokoll [Cyclophosphamid/Doxorubicin/Etoposid], Tag 1–3) beim kleinzelligen Lungenkarzinom (SCLC) ebenfalls Vorteile, beispielsweise hinsichtlich der Dauer einer Neutropenie < 500/µl, bei einem späteren Start einer G-CSF-Gabe (Tag +3 nach Chemotherapie gegenüber Tag +1) beobachtet hatten. Ein weiteres Hinauszögern lehnten sie allerdings ab, da es mit dem Risiko einer deutlich schlechteren Erholung der Neutrophilenzahlen verbunden war [36].
Dauer der G-CSF-Gabe
Zur Therapiedauer mit G-CSF-Präparaten ist primär auf die Empfehlung der Fachgesellschaften zu verweisen. Danach ist die tägliche Gabe so lange fortzuführen, bis die Leukozytenzahl an zwei aufeinanderfolgenden Tagen über 2000/µl liegt [46]. Auf die Frage, ob es einen Unterschied macht, wenn die G-CSF-Gabe etwa 5 Tage oder erst 2 Tage vor der nächsten Chemotherapie beendet wird, kamen Timmer-Bonte et al. im Rahmen ihres Cross-over-Studiendesigns zu dem Schluss, dass die frühere Beendigung keinen Einfluss auf die Neutrophilen-Verläufe in den Folgezyklen hatte. Allerdings waren die Thrombozytopenien in den Folgezyklen deutlich geringer ausgeprägt, wenn G-CSF frühzeitig vor dem nächsten Chemotherapie-Zyklus abgesetzt wurde. Diese Beobachtung war zweifelsohne überraschend, wenn man bedenkt, dass keine direkten Einflüsse von G-CSF auf die Thrombozytopoese erwartet werden [37].
Von den Fachgesellschaften wurde zum optimalen Zeitpunkt der Beendigung der G-CSF-Gabe vor dem nächsten Chemotherapie-Zyklus bisher keine Stellung bezogen, da wahrscheinlich weitergehende Studienergebnisse zu diesem Thema erwartet werden.
Erfahrungen zur Anwendung
Im Rahmen einer retrospektiven Erhebung, die den Zeitraum 2006 bis 2007 umfasste und 990 Tumorpatienten in verschiedenen Behandlungszentren in Frankreich berücksichtigte (Tab. 4), ergaben sich zur Anwendung der G-CSF-Präparate Filgrastim, Lenograstim und Pegfilgrastim in der täglichen Praxis folgende Erkenntnisse:
Wider Erwarten wurden die G-CSF-Präparate relativ häufig bereits vor bzw. am Tag der Chemotherapie verabreicht, obwohl doch seit Langem bekannt ist, dass eine zu zeitnahe Verabreichung kurz vor oder am Tag der Chemotherapie zu einer erhöhten Chemosensitivität des Knochenmarks führt („Priming-Effekt“) und damit nicht eine geringere, sondern eine höhere Myelotoxizität nach sich ziehen kann.
Konventionelle G-CSF-Präparate (d. h. Filgrastim und Lenograstim) wurden sehr häufig erst 96 Stunden und später nach erfolgter Chemotherapie erstmalig verabreicht. Etwa die Hälfte der Patienten erhielt innerhalb von 24 bis 72 Stunden nach Chemotherapie erstmalig konventionelles G-CSF.
Die mittlere Behandlungsdauer mit konventionellem G-CSF wurde mit 5,5 Tagen angegeben.
Pegfilgrastim wurde in 85,8% der Fälle innerhalb von 24 bis 72 Stunden nach Chemotherapie subkutan appliziert. Wie vielen Patienten es 24 Stunden und wie vielen 72 Stunden nach Chemotherapie verabreicht wurde, war nicht Gegenstand der Erhebung [38].
Tab. 4. Applikationszeitpunkte von G-CSF-Präparaten in der täglichen Praxis auf der Basis einer retrospektiven Erhebung im Zeitraum 2006–2007 (nähere Erläuterungen im Text; mod. nach [38])
Applikationszeitpunkt |
Alle Anwendungen (n=923) |
Lenograstim (n=354) |
Filgrastim (n=182) |
Pegfilgrastim (n=387) |
Vor bzw. während einer Chemotherapie |
13,4% |
15,3% |
17,6% |
9,6% |
24–72 Stunden nach einer Chemotherapie |
65,7% |
55,9% |
42,3% |
85,8% |
≥96 Stunden nach einer Chemotherapie |
20,9% |
28,8% |
40,1% |
4,7% |
Diskussion
Chemotherapie-assoziierte febrile Neutropenien stellen ein erhöhtes Letalitätsrisiko für die betroffenen Patienten dar. So wurde beispielsweise im Rahmen einer großen retrospektiven Kohortenstudie ein um 15% gesteigertes Letalitätsrisiko für Krebspatienten mit febriler Neutropenie in einem Beobachtungszeitraum von 17,6 Monaten gegenüber Patienten ohne febrile Neutropenie ermittelt, was gut mit anderen Schätzungen zwischen 7 und 20% übereinstimmt [39].
Während dieser febrilen Episoden ist der empirische Einsatz von Breitspektrum-Antibiotika (z. B. Carbapenemen) Mittel der ersten Wahl, wobei bei Hochrisikopatienten das ausgewählte Antibiotikum (oder eine Kombination) in seinem Spektrum nicht nur die häufigsten Enterobacteriaceae, sondern auch Pseudomonas aeruginosa und grampositive Kokken abdecken muss. Kommen in dieser relativ komplexen Situation noch atypische Erreger, Pilze, Viren oder Protozoen hinzu, so wird das Therapieregime immer umfassender. Damit ist eine febrile Neutropenie auch von erheblicher pharmakoökonomischer Bedeutung, da fieberbedingte Krankenhauseinweisungen mit deutlichen Mehrkosten (z. B. Klinikaufenthalt, Antiinfektiva, Laboruntersuchungen) verbunden sind. Zudem können auch die anvisierten Zeitpläne zur Abfolge verschiedener Chemotherapie-Zyklen erheblich gefährdet werden [40].
Dass G-CSF-Präparate die Dauer und Schwere einer Chemotherapie-induzierten Neutropenie, die Häufigkeit febriler Neutropenien sowie damit einhergehende Krankenhausaufenthalte und empirische Dosisreduktionen signifikant reduzieren können, steht inzwischen außer Frage. Vielmehr geht es nun darum, Patienten mit einem erhöhten Risiko für diese Komplikationen frühzeitig zu identifizieren und rechtzeitig einer prophylaktischen G-CSF-Gabe zuzuführen, um den Einsatz dieser rekombinanten Zytokine pharmakoökonomisch zu rechtfertigen. Verschiedene Fachgesellschaften, insbesondere die American Society of Clinical Oncology (ASCO) und die European Organisation for Research and Treatment of Cancer (EORTC), haben deshalb schon vor Jahren Leitlinien implementiert, in denen nicht nur klinisch relevante Indikationen für G-CSF-Präparate eindeutig definiert sind, sondern auch die neuesten Erkenntnisse zur optimalen Dosierung und Therapiedauer zu allgemein gültigen Empfehlungen zusammengetragen wurden. Demnach wird die Primärprophylaxe bei einem Risiko für eine febrile Neutropenie von mehr als 20% inzwischen ohne Einschränkungen empfohlen, bei einem zu erwartenden Risiko von 10 bis 20% sollte der Einsatz von G-CSF-Präparaten in Abhängigkeit von weiteren Risikofaktoren wie Alter oder Komorbidität erfolgen.
Während ein höheres Lebensalter inzwischen als sehr wichtiger Risikofaktor für eine Chemotherapie-assoziierte febrile Neutropenie eingestuft werden kann, bedürfen andere Parameter einer weitergehenden Analyse. Möglicherweise ist die Einführung des MASCC-Risiko-Index diesbezüglich ein pragmatischer Ansatz, da verschiedene Faktoren mit Punkten bewertet werden und das weitere Vorgehen vom Erreichen einer Gesamtsumme abhängig gemacht wird (Tab. 5).
Tab. 5. MASCC-Risiko-Index zur besseren Einschätzung des individuellen Risikos, im Rahmen einer verabreichten Chemotherapie ein febrile Neutropenie zu entwickeln (mod. nach [31])
Parameter |
Punktezahl |
Krankheitsassoziierte Beschwerden: |
|
– Keine bzw. leichte Symptome |
5 |
– Moderate (mittelschwere) Symptome |
3 |
Keine Hypotonie |
5 |
Keine chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) |
4 |
Solider Tumor oder hämatologische Krebserkrankung ohne Pilzinfektion in der Vorgeschichte |
4 |
Keine Dehydrierung |
3 |
Fieber außerhalb der Klinik |
3 |
Alter <60 Jahre |
2 |
Anmerkung: bei einer Summe von < 21 Punkten kann von einem hohen Risiko für eine infektionsassoziierte Komplikation ausgegangen werden; MASCC: Multinational Association of Supportive Care in Cancer
Erfolgt der Einsatz von G-CSF-Präparaten zu zögerlich gegenüber einer risikoadaptierten Primärprophylaxe, so müssen nicht nur vermehrt febrile Neutropenien und damit verbundene Krankenhausaufenthalte nach dem ersten Chemotherapie-Zyklus in Kauf genommen werden, sondern es werden auch häufiger Dosisreduktionen in den Folgezyklen erforderlich. Dies sollte allerdings insbesondere im Rahmen adjuvanter Therapieoptionen (z. B. Behandlung des Mammakarzinoms) möglichst vermieden werden [41].
Mehrere Ergebnisse einer kürzlich vorgestellten Erhebung zur Anwendung von G-CSF-Präparaten in der Praxis sind für die tägliche Arbeit von Interesse und in gewisser Weise überraschend: Einerseits kam es noch häufig zu einem zu frühen Einsatz, andererseits aber auch zu recht späten Erstapplikationen [38]. Allerdings gaben Zwick et al. vor Kurzem zu bedenken, dass eine erste Gabe 72 Stunden nach Chemotherapie vorteilhafter sein könnte als ein Therapiebeginn am Tag nach der Chemotherapie, was mit der zeitabhängigen Expansion und höheren G-CSF-Empfindlichkeit der neutrophilen Vorläuferzellen zusammenhängen könnte [35].
Auch wenn der theoretische Ansatz mit GM-CSF-Präparaten vielversprechend war, so zeigte inzwischen doch die Mehrzahl der Erhebungen, dass das in den USA noch im Handel befindliche Sargramostim eine eher nachgeordnete klinische Bedeutung hat.
Eine Abgrenzung zwischen Filgrastim, Lenograstim und Pegfilgrastim hinsichtlich einer möglichen Überlegenheit führte immer wieder zu widersprüchlichen Ergebnissen, was die Durchführung von Kostenminimierungsanalysen deutlich erschwert.
Interessenkonflikterklärung
Bezüglich des Artikels bestehen von Seiten des Autors keine Interessenkonflikte.
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Dr. Hans-Peter Lipp, Universitätsapotheke, Röntgenweg 9, 72076 Tübingen, E-Mail: Hans-Peter.Lipp@med.uni-tuebingen.de
Granulocyte-colony-stimulating factors: similarities, differences and current considerations
Granulocyte-colony-stimulating factors (G-CSF) have become an indisputable tool in the area of supportive agents in clinical oncology.
Ongoing experience based on clinical trials has resulted in continuous revision of national and international guidelines in order to justify the use of G-CSF-preparations according to clinical and pharmacoeconomic reasons. However, current surveys reveal considerable deviations between general recommendations and everyday clinical practice.
In contrast to GM-CSF, pegfilgrastim plays an increasing role as supportive growth factor. Whether its use can be further optimized by application on day 4 rather than day 2 after chemotherapy (day 1) needs further investigation
Key words: G-CSF, guidelines, current practice, GM-CSF, pegfilgrastim, optimization
Arzneimitteltherapie 2011; 29(12)