Gabriele Blaeser-Kiel, Hamburg
Nahezu jeder MS-Patient ist früher oder später gehbehindert. Ein Verlust der Mobilität ist nicht nur mit Einschränkungen im Alltag verbunden, sondern häufig auch mit dem Verlust des Arbeitsplatzes oder mit Einbußen beim Einkommen [1, 2]. Für MS-Patienten mit Gehbehinderung könnte ein Medikament, das dieses Symptom lindert, die Lebensqualität erheblich verbessern.
Vor diesem Hintergund wurde der Kaliumkanalblocker Fampridin (Fampyra®) im September 2011 in Deutschland eingeführt. Der Wirkstoff wurde unter der Bezeichnung 4-Aminopyridin seit vielen Jahren untersucht, doch die klinische Anwendung scheiterte an der ungünstigen Pharmakokinetik und der geringen therapeutischen Breite des Wirkstoffs. Zugelassen wurde nun eine Retard-Formulierung, die gegenüber schnell freisetzenden Darreichungsformen Vorteile bietet: längere Wirkungsdauer und gleichmäßigere Plasmakonzentrationen ohne nebenwirkungsträchtige Spiegelspitzen.
Das Wirkungsprinzip von Fampridin trägt der pathogenetischen Vorstellung Rechnung, dass die Weiterleitung von Aktionspotenzialen bei Patienten mit multipler Sklerose wegen der MS-typischen Schäden an den neuronalen Myelinhüllen beeinträchtigt ist. Fampridin blockiert selektiv spannungsabhängige neuronale Kaliumkanäle, die auf Axonen freiliegen, und fördert dadurch die Weiterleitung präsynaptischer Aktionspotenziale.
Klinische Prüfung
In zwei doppelblinde, Plazebo-kontrollierte Phase-III-Studien (MS-F203 und MS-F204) wurden insgesamt 540 Patienten eingeschlossen, die an einer multiplen Sklerose erkrankt waren; dabei waren alle Verlaufsformen der MS zugelassen [3, 4]. Die Patienten wurden randomisiert einer Behandlung mit Fampridin (10 mg zweimal täglich) oder Plazebo für 9 bzw. 14 Wochen zugeteilt. Primärer Endpunkt war in beiden Studien die Verbesserung im T25FW-Test (Timed 25-Foot Walk, Zeit für eine Gehstrecke von 7,6 Metern). Als Responder galten Teilnehmer, die bei mindestens drei von vier Untersuchungen während der Behandlungsphase eine Gehgeschwindigkeit erreichten, die höher war als die höchste Geschwindigkeit, die sie bei einer von fünf Visiten außerhalb der Therapiephase erreichten.
In den Intention-to-treat-Analysen der beiden Studien wurden in den Verum-Gruppen 35 bzw. 43% der Patienten als Responder identifiziert, die Ansprechraten waren damit signifikant höher als in den Kontrollgruppen (8 bzw. 9%; jeweils p<0,0001). Bei den Fampridin-Respondern nahm die Gehgeschwindigkeit im Mittel um 25% zu (Durchschnittswert der Visiten 3 bis 6). Die Verbesserung war signifikant höher als bei den Fampridin-Nonrespondern (8 bzw. 6%, p<0,001) und den Plazebo-Patienten (5 bzw. 8%, p<0,001).
Die Wirksamkeit von Fampridin war unabhängig sowohl vom Grad der Behinderung (EDSS[Expanded disability status scale]-Score) als auch von der Verlaufsform der multiplen Sklerose. Bei Patienten, die zugleich mit Interferon beta (Avonex®, Rebif®, Betaferon®, Extavia®), Glatirameracetat (Copaxone®) oder Natalizumab (Tysabri®) behandelt wurden, war die Wirkung gleich wie bei Patienten ohne begleitende Immuntherapie [3, 4].
In beiden Studien brachen weniger als 10% der Patienten die Behandlung vorzeitig ab. Häufigstes unerwünschtes Ereignis war bei etwa 12% der mit Fampridin behandelten MS-Patienten ein Harnwegsinfekt, der in den meisten Fällen nicht durch eine positive Kultur gesichert war. Im Vergleich zu Plazebo wurden unter Fampridin zudem vermehrt Schlafstörungen, Angstzustände, Schwindel, Parästhesien, Tremor, Kopfschmerzen und Asthenie beobachtet. Diese Nebenwirkungen traten in der Regel nur vorübergehend und in geringer bis moderater Ausprägung auf. Über Krampfanfälle, wie sie in früheren Studien mit unretardiertem 4-Aminopyridin aufgetreten waren, wurde in den Studien unter der empfohlenen Dosierung von zweimal 10 mg Fampridin-Retard im Abstand von zwölf Stunden nicht berichtet.
Anwendung in der Praxis
Fampridin (Fampyra®) ist zugelassen zur Verbesserung der Gehfähigkeit bei erwachsenen Patienten mit multipler Sklerose mit Gehbehinderung, die aber noch nicht auf einen Rollstuhl angewiesen sind (EDSS-[Expanded disability status scale-]Score zwischen 4 und 7 Punkten). Die 10-mg-Retardtabletten sollten morgens und abends im Abstand von 12 Stunden auf nüchternen Magen eingenommen werden.
Da nur ein Teil der Patienten auf die Therapie anspricht und die Wirkung gegebenenfalls innerhalb der ersten zwei Wochen erkennbar ist, sollte die Erstverordnung auf diesen Zeitraum begrenzt sein. Die Einnahme von Fampridin sollte nur dann fortgesetzt werden, wenn sich eine Rückbildung der Gehbehinderung feststellen lässt; als geeignetes Instrument zur Objektivierung der Wirkung wird der Timed-25-Foot-Walk-Test empfohlen [5].
Fazit
Gehbehinderung stellt das häufigste klinisch-neurologische Defizit bei MS dar und wird von den Patienten als größte körperliche Beeinträchtigung bewertet. Mit Fampridin steht erstmals ein zugelassenes Arzneimittel zur Therapie der Gehbehinderung zur Verfügung. Seine Wirksamkeit ist unabhängig von der Verlaufsform der Erkrankung.
Behandlungskosten
Die Behandlung mit Fampyra® erhöht die Tagestherapiekosten um rund 19 Euro (19,29 Euro bei Verordnung der 2-Wochen-Packung bzw. 18,91 Euro mit der 4-Wochen-Packung; Stand Februar 2012).
Red.
Quellen
Prof. Dr. med. Bernd Kieseier, Düsseldorf, Priv.-Doz. Dr. med. Mathias Mäurer, Bad Mergentheim. Launch-Pressekonferenz Fampyra® „Leben in Bewegung: Erstes Medikament zur Verbesserung der Gehfähigkeit bei Multipler Sklerose ab sofort verfügbar“, Hamburg, 1. September 2011, veranstaltet von Biogen Idec GmbH.
1. Salter AR, et al. Impact of loss of mobility on instrumental activities of daily living and socioeconomic status in patients with MS. Curr Med Res Opin 2010;26:493–500.
2. Yildiz M. Slower walking speed limits the activities of daily living of multiple sclerosis patients. Poster P422 beim 21st Meeting of the European Neurological Society, Lissabon, Mai 2011.
3. Goodmann AD, et al. Sustained-release oral fampridine in multiple sclerosis: a randomised, double-blind, controlled trial. Lancet 2009;373:732–8.
4. Goodmann AD, et al. A phase 3 trial of extended release oral dalfampridine in multiple sclerosis. Ann Neurol 2010;68:494–502.
5. Fachinformation Fampyra® (Stand Juli 2011).
Arzneimitteltherapie 2012; 30(03)