Erhard Hiller, München
Venöse Thromboembolien (VTE) sind häufige und oft unterdiagnostizierte Komplikationen bei Krebspatienten. Sie können Erstmanifestationen okkulter Neoplasien, lebensbedrohliche Komplikationen früher und fortgeschrittener Krebserkrankungen oder auch Folgen einer Krebstherapie sein. Venöse Thromboembolien bei Tumorpatienten sind prognostisch ungünstige Begleiterkrankungen. Das Gesamtüberleben von Tumorpatienten mit venösen Thromboembolien ist gegenüber dem von Tumorpatienten ohne venöse Thromboembolien deutlich verkürzt [1].
Da bei der hohen Zahl von Tumorerkrankungen eine generelle medikamentöse Prophylaxe weder effektiv noch sinnvoll wäre, sollte versucht werden, die Risiken, die bei einem individuellen Tumorpatienten vorliegen, zu erfassen und bei erhöhtem Risiko gezielt primärprophylaktische Maßnahmen zu ergreifen. Zwar hat vieles, was 2006 zu diesem Thema in der Arzneimitteltherapie publiziert wurde [2], weiterhin Gültigkeit, es liegen inzwischen jedoch aktuelle Leitlinien von Fachgesellschaften vor, es wurden neue Erkenntnisse zu verschiedenen Risikofaktoren gewonnen und es gibt erste Daten zu Erfahrungen mit den neuen Antithrombotika. Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über die Risikofaktoren venöser Thromboembolien bei Tumorerkrankungen sowie die aktuellen Empfehlungen zur Primär- und Sekundärprävention.
Häufigkeit venöser Thromboembolien bei Tumorpatienten
Die meisten klinischen Studien zur Frage der Inzidenz venöser Thromboembolien bei Krebspatienten waren keine prospektiven Studien und schlossen nicht nur unbehandelte Patienten ein. Die Studienkollektive setzten sich aus unterschiedlichen Patientenpopulationen mit unterschiedlichen Tumoren zusammen und wichen hinsichtlich Studiendauer, Dauer der Nachbeobachtung sowie diagnostischer Kriterien zur Erfassung der venösen Thromboembolien voneinander ab. Daher ist es schwierig, die angegebenen VTE-Inzidenzen, die zwischen 1 und 30% lagen, direkt miteinander zu vergleichen. In den 80er-Jahren wurde die Inzidenz venöser Thromboembolien im Rahmen maligner Erkrankungen auf etwa 15% geschätzt, mit einer Streuung von 7 bis 30% je nach der Art und Lokalisation des Tumors [3]. In neueren Studien werden jedoch niedrigere Raten um 8% angegeben, was wahrscheinlich mit der verbesserten Thromboseprophylaxe zusammenhängt [4]. Patienten mit Krebserkrankungen haben gegenüber Patienten ohne Krebs ein etwa sechsfach höheres Risiko, eine venöse Thromboembolie zu erleiden [5, 6]. Etwa 20% aller venösen Thromboembolien sind auf maligne Neoplasien zurückzuführen [7]. Die geschätzte Inzidenz venöser Thromboembolien pro Patientenjahr liegt bei Krebspatienten bei 0,5 im Vergleich zu 0,1 bei Nichtkrebspatienten. Krebspatienten, die sich einem operativen Eingriff unterziehen müssen, haben gegenüber Nichtkrebspatienten bei einem vergleichbar großen Eingriff ein mindestens zweifach erhöhtes Risiko für eine tiefe Venenthrombose (TVT) und ein dreifach erhöhtes Risiko für eine letal ausgehende Lungenembolie (LE) [7].
Es gibt nur wenige klinische Studien zur Einschätzung der Prävalenz der asymptomatischen venösen Thrombose bei Krebspatienten. In einer Studie mit 298 Hospizpatienten fand man bei 52% der Patienten, insbesondere bei Immobilisation, eine tiefe Venenthrombose [8]. Die klinische Problematik der asymptomatischen Venenthrombose liegt darin, dass sich daraus eine symptomatische tiefe Venenthrombose oder auch eine lebensbedrohliche Lungenembolie entwickeln kann. Entsprechend ist die venöse Thromboembolie die zweithäufigste Todesursache von hospitalisierten Krebspatienten. Bei Autopsien von Krebspatienten sind in bis zu 50% der Fälle venöse Thromboembolien nachweisbar [37, 38].
Gibt es messbare Parameter für eine venöse Thromboembolie?
In verschiedenen klinischen Studien mit Erfassung biochemischer und pharmakologischer Parameter wurde versucht, den multifaktoriellen pathophysiologischen Zusammenhang zwischen einer erhöhten Inzidenz von thrombotischen und hämorrhagischen Komplikationen und der Art und dem Ausmaß der Tumorerkrankungen aufzuklären. Routinelaboruntersuchungen wie auch spezifischere Untersuchungen zur Abklärung einer Thrombophilie (s. u.) ergaben in bis zu 90% der Fälle pathologische Laborkonstellationen [9]. Betroffen davon waren sowohl die Systeme der zellulären und plasmatischen Hämostase als auch das Inhibitor- und Fibrinolysesystem. Aufgrund der Komplexität und oftmals Gegenläufigkeit der Veränderungen bei ein und derselben klinischen Entität sind die verschiedenen laborchemisch erfassten, von der Norm abweichenden Befunde als Risikofaktoren für thromboembolische wie auch hämorrhagische Ereignisse nur von beschränktem prädiktivem Wert. Trotz einer Vielzahl veränderter Hämostasefaktoren gibt es bislang keine spezifischen Hämostaseparameter, die mit einer gewissen Sicherheit ein bevorstehendes thromboembolisches Ereignis voraussagen lassen. Möglicherweise geben Biomarker wie der Gewebsfaktor („tissue factor“) oder das lösliche P-Selectin, deren Analyse jedoch technisch aufwendiger ist, einen Hinweis auf ein bestehendes VTE-Risiko [10]. So konnte in einer kleinen Fallserie gezeigt werden, dass Patienten mit Pankreaskarzinom bei hoher Gewebsfaktorexpression des resezierten Pankreastumors eine erhöhte Thromboserate im Vergleich zu Patienten mit niedriger Expression aufwiesen (26,3% vs. 4,6%) [10]. Ähnliche Befunde wurden bei Patientinnen mit Ovarialkarzinom erhoben. Noch weiß man aber nicht, ob dies auch für andere Tumorentitäten Gültigkeit hat. Darüber hinaus besteht auch keine Übereinstimmung hinsichtlich eines optimalen Testansatzes.
Weitere biochemische Marker zur Erfassung eines aktivierten Hämostasesystems schlossen TAT (Thrombin-Antithrombinkomplexe), die F1- und -2-Segmente (Bruchstücke des Prothrombins), die D-Dimere (D-D) und das C-reaktive Protein (CRP) ein. In multivariaten Analysen waren bei kolorektalen Tumoren erhöhte Werte mit einem erhöhten VTE-Risiko assoziiert [11]. Da man jedoch in der Mehrzahl der Fälle bei einem fortgeschrittenen Tumorleiden erhöhte Spiegel der Aktivierungsmarker nachweisen kann, müsste man nicht nur diese zum Teil aufwendigen Analysen durchführen, sondern auch einen einheitlichen Schwellenwert festlegen, aus dem sich die Indikation zu einer medikamentösen Thromboseprophylaxe ableiten ließe. Nun sind die oben aufgeführten Laboranalysen im klinischen Alltag nur mit Einschränkungen durchführbar und ein einheitlicher Schwellenwert wurde nie festgelegt.
Nach neueren Untersuchungen scheint jedoch ein Score-System, das neben der Tumorlokalisation eine Reihe von einfachen Laborparametern (erhöhte Thrombozyten- und Leukozytenzahlen, Hämoglobinwert <10 g/dl bzw. Erythropoetin-Gabe) einschließt, relativ gut mit dem Thromboserisiko zu korrelieren. Basierend auf einer Kombination von Tumorcharakteristika, Body-Mass-Index und den genannten Biomarkern erstellten Khorana und Conolly [11] ein prädiktives Modell für Chemotherapie-assoziierte venöse Thromboembolien (Tab. 1). Das Modell wurde bei 1365 Tumorpatienten, die an einer Studie zur Neutropenie nach Chemotherapie teilnahmen, überprüft. Nach Ansicht von Khorana und Conolly kann mithilfe dieses Modells erfolgreich eine Niedrigrisikopopulation, für die eine Thromboseprophylaxe höchstwahrscheinlich entbehrlich ist, von einer Hochrisikopopulation, für die in Studien eine Prophylaxe geprüft werden sollte, unterschieden werden. Allerdings schränken die Autoren die Aussagefähigkeit ihres Modells insofern ein, als in dem Patientenkollektiv nur wenige Tumortypen vertreten waren [39].
Tab. 1. Prädiktives Modell für Chemotherapie-assoziierte venöse Thromboembolien (VTE) [mod. nach 11]
Patientencharakteristika |
Risiko-Score |
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Tumorlokalisation: |
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2 |
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|
1 |
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Thrombozytenzahl vor Chemotherapie >350000/µl |
1 |
|
Hämoglobin <10 g/dl oder Erythropoetin-Gabe |
1 |
|
Leukozytenzahl vor Chemotherapie >10000/µl |
1 |
|
Body-Mass-Index >35 kg/m² |
1 |
|
Gesamtscore |
Risikokategorie |
Risiko symptomatischer VTE |
0 |
Niedrig |
0,3–0,8% |
1 oder 2 |
Intermediär |
1,8–2,0% |
3 oder höher |
Hoch |
6,7–7,1% |
Erfassung des Thromboembolierisikos anhand klinischer Konstellationen?
Da die laborchemisch messbaren Parameter bei Tumorpatienten derzeit nur von eingeschränktem prädiktivem Wert sind und das Score-System nach Khorana und Conolly noch der Bestätigung bedarf, sollte zur Frage der Prophylaxe venöser Thromboembolien das Hauptaugenmerk auf klinische Konstellationen gerichtet werden. In Tabelle 2 sind zunächst die Tumor-intrinsischen Faktoren aufgeführt, die eine wichtige Rolle bei der Entstehung eines thrombotischen Ereignisses spielen, aber im Regelfall nicht direkt messbar sind. Hingegen können wir bei der Erfassung verschiedener klinischer Parameter mit größerer Sicherheit erkennen, welche Patienten gefährdet sind. So steht seit Jahrzehnten außer Frage, dass jeder operative Eingriff bei Tumorpatienten mit einem hohen VTE-Risiko assoziiert ist und einer medikamentösen Thromboseprophylaxe bedarf. Dasselbe gilt u. a. für eine positive Anamnese hinsichtlich venöser Thromboembolien, eine bekannte Thrombophilie und Adipositas (Tab. 2). Wenn nun eines oder gar mehrere dieser Risiken nachweisbar sind, muss von einem deutlich erhöhten Thromboembolierisiko ausgegangen werden.
Tab. 2. Tumor-intrinsische Faktoren, die zur Thrombophilie bei Tumorpatienten beitragen, sowie allgemeine Risikofaktoren
Tumor-intrinsische Faktoren |
|
Allgemeine Risikofaktoren des Tumorpatienten |
|
Man kann aber auch eine relativ einfache Regel erstellen: Wir behandeln heute die Mehrzahl der Tumorpatienten ambulant. Alle Tumorpatienten, die aufgrund ihrer Krankheitssituation stationär behandelt werden müssen, sind nicht nur „bettlägerig“ (d. h. ein Risikofaktor), sie sind meist auch schwerer erkrankt als der ambulante Patient (Infektion, Fieber, komplizierte Polychemotherapie, fortgeschrittenes Tumorleiden), so dass sich bei solchen Patienten ohnehin relativ klar die Indikation zur medikamentösen Thromboseprophylaxe ergibt – sie sind sogenannte Hochrisikopatienten.
Antithrombotische Substanzen zur Prophylaxe und Therapie
Die in Tabelle 3 aufgeführten Substanzen sind gegenwärtig zur Thromboseprophylaxe bzw. -therapie zugelassen, zum Teil mit eingeschränktem Indikationsspektrum.
Tab. 3. Substanzen zur Prophylaxe bzw. Therapie venöser Thromboembolien (zum Teil mit eingeschränktem Indikationsspektrum)
Unfraktioniertes Heparin (UFH) |
Niedermolekulare Heparine (NMH) |
Fondaparinux (synthetisches Pentasaccharid) |
Vitamin-K-Antagonisten (Phenprocoumon, Warfarin) |
Orale Thrombin-Inhibitoren (Dabigatran*) |
Orale Faktor-Xa-Inhibitoren (Rivaroxaban, Apixaban*) |
*nicht zur Therapie venöser Thrombosen zugelassen
- Unfraktioniertes Heparin (UFH) ist zwar grundsätzlich weiterhin zur Prophylaxe und Therapie einsetzbar, wird jedoch seit Jahren aufgrund verschiedener Nachteile (z. B. schlechte Bioverfügbarkeit, höhere Rate an HIT II) durch die niedermolekularen Heparine abgelöst.
- Bei den niedermolekularen Heparinen (NMH) ist zu beachten, dass nicht alle Substanzen zur Prophylaxe für den Hochrisikobereich geeignet sind, dass präparatespezifisch unterschiedliche Kumulationsgefahren bei Niereninsuffizienz bestehen und dass es Präparate für die Therapie gibt, die nur einmal statt zweimal täglich subkutan verabreicht werden müssen, was bei der Langzeittherapie von Vorteil ist. Die derzeit in Deutschland zugelassenen Substanzen sind in Tabelle 4 aufgeführt. In therapeutischer Indikation wird Certoparin in einer Standarddosis verabreicht, alle anderen Präparate werden gewichtsabhängig dosiert.
- Fondaparinux (Arixtra®) ist ein synthetisches Pentasaccharid, das Antithrombin-III-abhängig selektiv den Faktor Xa inhibiert. Zugelassen ist es zur Prophylaxe (2,5 mg 1×/Tag) und gewichtsabhängig dosiert zur Therapie (<50 kg: 5,0 mg, ≥50 kg und ≤100 kg: 7,5 mg, >100 kg: 10,0 mg, jeweils 1×/Tag). Fondaparinux wird hauptsächlich über die Nieren eliminiert; die Eliminationshalbwertszeit beträgt etwa 17 (gesunde, junge Personen) bis 21 Stunden (gesunde, ältere Personen). Die Plasmaclearance ist bei schwerer Niereninsuffizienz etwa fünffach niedriger als bei normaler Nierenfunktion – aufgrund der Kumulationsgefahr ist Fondaparinux in diesem Fall kontraindiziert [40]. In der Zulassungsstudie wurden auch Tumorpatienten behandelt, spezielle Daten bei Tumorpatienten gibt es jedoch nicht [12].
- Vitamin-K-Antagonisten sind grundsätzlich auch als wirksam zu betrachten. Probleme beim Einsatz bei Tumorpatienten sind jedoch Arzneimittelinteraktionen, beispielsweise mit Zytostatika, intestinale Resorptionsstörungen, Leberfunktionsstörungen bei Lebermetastasierung, Erbrechen und die lange Halbwertszeit, wenn es zu Blutungen kommt oder invasive Eingriffe erforderlich sind.
- Die neuen oralen Thrombin- (Dabigatran [Pradaxa®]) und Faktor-Xa-Inhibitoren (Rivaroxaban [Xarelto®], Apixaban [Eliquis®]) könnten durchaus einen Stellenwert in der Prophylaxe und Therapie venöser Thromboembolien bei Tumorpatienten einnehmen, bislang fehlen jedoch noch entsprechende Daten aus klinischen Studien. Von den drei Arzneistoffen ist derzeit lediglich Rivaroxaban zur Behandlung tiefer Venenthrombosen sowie zur Prophylaxe rezidivierender tiefer Venenthrombosen und Lungenembolien nach akuten tiefen Venenthrombosen bei Erwachsenen zugelassen, was grundsätzlich auch die Anwendung bei Tumorpatienten in der Sekundärprophylaxe möglich macht.
Tab. 4. In Deutschland zur Prophylaxe und Therapie tiefer Venenthrombosen zugelassene niedermolekulare Heparine (NMH)
Arzneistoff |
Prophylaxe Handelsname (Bsp.) |
Therapie Handelsname (Bsp.) |
Certoparin |
Mono-Embolex® |
Mono-Embolex® |
Dalteparin |
Fragmin® P/-P forte |
Fragmin® 10.000/12.500/ |
Enoxaparin |
Clexane® 20 mg/40 mg |
Clexane® 60 mg/80 mg/100 mg Fertigspritzen* |
Nadroparin |
Fraxiparine® 0,3 |
Fraxiparine® 0,4/0,6/0,8/1,0 |
Fraxodi® 19.000 I.E./ml (0,6/0,8/1,0 ml) |
||
Reviparin |
Clivarin® 1.750 |
– |
Tinzaparin |
innohep® 3.500 Anti-Xa I.E. |
innohep® 20.000 Anti-Xa I.E./ml* (0,5/0,7/0,9 ml Fertigspritzen) |
*auch zur Therapie bei Lungenembolie zugelassen
Primärprophylaxe der Thrombophilie bei malignen Erkrankungen
Eine Analyse bei mehr als einer Million hospitalisierter Krebspatienten ergab eine Zunahme der Rate venöser Thromboembolien zwischen 1995 und 2003 um 28% [11]. Durch das Erkennen von Krebspatienten mit hohem Thromboserisiko und die Einleitung einer medikamentösen Thromboseprophylaxe ließ sich zumindest ein Teil der venösen Thromboembolien verhindern. Für Ärzte, die Krebspatienten betreuen, stellt sich die Frage, welche Patienten einer medikamentösen Thromboseprophylaxe zugeführt werden sollten und für welche Patienten diese entbehrlich ist. Diesen Fragen widmen sich verschiedene, in den letzten Jahren erstellte Leitlinien in zum Teil umfangreichen Publikationen. In diesem Zusammenhang sei auf die drei folgenden Leitlinien von multidisziplinären Arbeitsgruppen hingewiesen, die bezüglich der Primärprophylaxe bei Tumorpatienten herangezogen werden können:
- die 2009 durch eine multidisziplinäre Leitlinienkomission von 27 deutschen medizinischen Fachgesellschaften und Organisationen erstellte S3-Leitlinie „Prophylaxe der venösen Thromboembolie (VTE)“ [13],
- eine „Onkopedia-Leitlinie“ (Onkopedia ist ein Kooperationsprojekt der Deutschen sowie der Österreichischen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie [DGHO und OeGHO] und der Schweizerischen Gesellschaft für Hämatologie [SGH+SSH]) [14] und
- die „ACCP Antithrombotic Guidelines, 9th ed.“ (ACCP: American College of Chest Physicians) [15].
Alle Leitlinien sind inhaltlich relativ gleichlautend. Im vorliegenden Beitrag wird überwiegend auf die S3-Leitlinie Bezug genommen.
Operative Eingriffe bei Krebspatienten
Seit Jahrzehnten gilt bei allen operativen Eingriffen eine medikamentöse Thromboseprophylaxe als unabdingbar – bei onkologischen Patienten ist dies besonders wichtig. Patienten mit onkologischen Eingriffen im Bauch- und Beckenbereich sind nach der S3-Leitlinie grundsätzlich der Hochrisikogruppe zuzuordnen [13]. In dieser Indikation ist eine medikamentöse Thromboseprophylaxe mit niedermolekularem Heparin oder Fondaparinux aufgrund der Studienlage zwingend erforderlich. Nach einer Analyse des American College of Chest Physicians [16] kommt es bei Krebspatienten ohne Thromboseprophylaxe postoperativ bei 40 bis 80% zu einer Thrombose der Unterschenkel und bei 10 bis 20% zu einer proximalen tiefen Venenthrombose. Tödliche Lungenembolien treten in 1 bis 5% der Fälle ein.
Niedermolekulares Heparin sollte zur Operation anstehenden Tumorpatienten zur Thromboseprophylaxe in einer Hochrisikodosierung verabreicht werden. Bergqvist et al. [17] verglichen 2500 und 5000 I.E. Dalteparin bei Operationen von Krebspatienten. Die Rate venöser Thromboembolien fiel von 14,9% bei einer Dosierung von 2500 I.E. auf 8,5% bei einer Dosierung von 5000 I.E.
Auch eine prolongierte Thromboseprophylaxe über 3 bis 4 Wochen kann zwei Studien zufolge das Thromboserisiko weiter senken:
- In einer doppelblinden Multicenterstudie erhielten 332 Patienten mit geplanter offener Malignom-Operation in der Bauch- und Beckenregion mit kurativer Zielsetzung Enoxaparin 40 mg/Tag zunächst über 6 bis 10 Tage. Ein Teil der Patienten wurde nachfolgend mit Enoxaparin in derselben Dosierung über 21 Tage weiterbehandelt, die übrigen Patienten erhielten Plazebo. Zum primären Studienendpunkt, dem Nachweis einer venösen Thromboembolie zwischen Tag 25 und 31, kam es bei 4,8% der Patienten, die durchgehend Enoxaparin erhalten hatten, und bei 12,0% der Patienten in der Plazebo-Gruppe [18].
- In einer zweiten Studie konnten Rasmussen et al. [19] zeigen, dass eine auf vier Wochen ausgedehnte Thromboseprophylaxe mit 5000 I.E. Dalteparin im Vergleich zur einwöchigen Prophylaxe das Risiko einer venösen Thromboembolie von 16,3 auf 7,3% reduzieren konnte. Die Rate der proximalen Thrombosen ließ sich von 8,0 auf 1,8% senken.
Anstelle von niedermolekularem Heparin kann auch Fondaparinux eingesetzt werden [12].
Hospitalisierte Tumorpatienten (nicht chirurgische Patienten)
Hospitalisierte Tumorpatienten mit zusätzlichen Risikofaktoren haben ohne Prophylaxe ein Thromboembolierisiko von 10 bis 15% [13, 20, 42]. Dementsprechend widmet sich die S3-Leitlinie bei Tumorpatienten schwerpunktmäßig den hospitalisierten Patienten [13].
Die Leitlinienempfehlungen lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Stationäre Patienten mit Tumorerkrankungen sollten eine medikamentöse VTE-Prophylaxe erhalten
- Die medikamentöse VTE-Prophylaxe sollte vorzugsweise mit niedermolekularen Heparinen oder Fondaparinux in Hochrisikoprophylaxe-Dosierungen erfolgen
- Bei Kontraindikationen gegen medikamentöse Thromboseprophylaxe sollten medizinische Thromboseprophylaxestrümpfe eingesetzt werden
- Die Dauer der medikamentösen VTE-Prophylaxe sollte zumindest den gesamten Krankenhausaufenthalt umfassen
- Im Einzelfall muss eine Fortführung der Thromboseprophylaxe nach Krankenhausentlassung in Abhängigkeit von weiteren Risikofaktoren, beispielsweise fehlender Mobilisation, in Betracht gezogen werden
Drei große Plazebo-kontrollierte multizentrische Doppelblindstudien mit akut erkrankten internistischen Patienten ergaben eine signifikante Reduktion der Rate venöser Thromboembolien durch den Einsatz von niedermolekularen Heparinen oder Fondaparinux. Im Rahmen einer dieser Studien, der MEDENOX(Prophylaxis in medical patients with enoxaparin)-Studie [20], zeigte sich bei Krebspatienten eine Halbierung der Rate an venösen Thromboembolien durch Enoxaparin im Vergleich mit Plazebo – die Fallzahlen waren allerdings gering und das Ergebnis statistisch nicht signifikant.
Für eine Prophylaxe mit Vitamin-K-Antagonisten können aufgrund der fehlenden Datenlage keine allgemeinen Empfehlungen gegeben werden [13].
Bei Krebspatienten, die palliativ-symptomatisch versorgt werden, sollen nach der S3-Leitlinie „… die Empfehlungen unter Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse und Präferenzen der Patienten kritisch hinterfragt werden.“ [13].
Ambulante Krebspatienten
Eine generelle medikamentöse Thromboseprophylaxe bei ambulanten Krebspatienten wird nach allen drei Leitlinien nicht empfohlen [13–15]. Die große Mehrzahl der Patienten kann bei einem grundsätzlich gegenüber Nichtkrebspatienten erhöhten, aber vertretbaren VTE-Risiko ohne Prophylaxe behandelt bzw. betreut werden. Zu beachten ist jedoch, dass das Zusammentreffen von mehreren der in Tabelle 2 aufgeführten Risikofaktoren die Entstehung einer venösen Thromboembolie stark begünstigt. Dies bedeutet, dass im Einzelfall auch der ambulante Patient eine medikamentöse Thromboseprophylaxe erhalten sollte. Einige besonders gewichtige Risikofaktoren werden nachfolgend etwas ausführlicher diskutiert.
Chemo-, Hormon- und Strahlentherapie
Chemo-, Hormon- und Strahlentherapie können über schädigende oder aktivierende Einflüsse auf die Gefäßwand und über Effekte auf das plasmatische oder zelluläre Gerinnungssystem zu einem erhöhten Thromboembolierisiko bei Tumorpatienten führen. Das Risiko hängt vom Gewebetyp, von der Primärlokalisation, dem Differenzierungsstadium und der Ausbreitung des jeweiligen Tumors sowie von der Art der Therapie ab. Studien bzw. Daten zur Inzidenz Chemotherapie-induzierter Thrombosen sind spärlich, da der Zeitraum des erhöhten Risikos aufgrund der Behandlungsdauer nicht eine umschriebene Zeitspanne von 1 bis 2 Wochen wie bei operativen Eingriffen umfasst, sondern meist Monate beträgt. So existieren nur beim häufigen Mammakarzinom wenige Studiendaten, denen ein VTE-Risiko um 15% im metastasierten Stadium entnommen werden kann. Da die Häufigkeit von Thromboembolien im Zusammenhang mit zytoreduktiven Tumortherapien besonders in der adjuvanten Therapie deutlich unter der nach operativen Eingriffen liegt und auch der Behandlungszeitraum nicht Tage, sondern Monate umfasst, kann eine medikamentöse Thromboseprophylaxe nach Einleitung einer Chemotherapie derzeit nicht allgemein empfohlen werden. Vielmehr sollte in jedem einzelnen Fall das individuelle Thromboserisiko abgewogen werden [41].
Pankreaskarzinom
Im onkologischen Alltag scheint das Pankreaskarzinom besonders häufig durch eine venöse Thromboembolie kompliziert zu werden. Schon 1983 publizierten Rickels und Edwards [1], dass 18,4% von insgesamt 104 Patienten mit Pankreaskarzinom eine symptomatische venöse Thromboembolie erlitten. Kürzlich wurde bei Patienten, die wegen eines nicht resezierbaren oder metastasierten Pankreaskarzinoms chemotherapiert wurden, gezeigt, dass die Rate an venösen Thromboembolien ohne Prophylaxe bei 14,5% lag. Durch die Prophylaxe mit Enoxaparin (1 mg/kg/Tag über 12 Wochen) konnte die Thromboserate nach sechs Monaten auf 5% reduziert werden [21]. Allerdings ergab eine spätere Auswertung, dass dies nicht zu einer Verbesserung des Gesamtüberlebens führte.
Anwendung von Thalidomid und Lenalidomid
Nach Einführung von Thalidomid und Lenalidomid für die Therapie des multiplen Myeloms wurde schon bald erkannt, dass die Behandlung mit Thromboseinzidenzen von bis zu 20 bis 30% einherging, insbesondere wenn die Substanzen nicht nur mit Glucocorticoiden, sondern auch mit Zytostatika (z. B. Anthracyclinen) kombiniert wurden [22, 24]. Das Risiko für Thromboembolien scheint für Thalidomid während der ersten fünf Behandlungsmonate am größten zu sein. Unter Lenalidomid kamen bevorzugt arterielle thromboembolische Ereignisse wie Myokardinfarkte und zerebrovaskuläre Ereignisse vor. Die Durchsicht der Celgene-Pharmakovigilanz-Datenbank (bis einschließlich 26.12.2009) ergab 493 bestätigte Berichte über arterielle thromboembolische Ereignisse (ATEEs) unter Lenalidomid. Bei der Auswertung der Fälle zeigte sich, dass es sich dabei überwiegend um kardiale Ereignisse (65,7%), hauptsächlich Myokardinfarkte mit 319 entsprechenden Berichten, handelte (Quelle: BfArM). Die den Myokardinfarkten zugrunde liegenden pathophysiologischen Mechanismen sind noch nicht eindeutig geklärt.
Unter Thalidomid sollte nach Angaben des Herstellers eine Thromboseprophylaxe mindestens in den ersten fünf Behandlungsmonaten durchgeführt werden, insbesondere wenn zusätzliche thrombotische Risikofaktoren vorliegen. Maßnahmen zur antithrombotischen Prophylaxe sollten bei jedem Patienten individuell nach einer sorgfältigen Bewertung der zugrunde liegenden Risikofaktoren verordnet werden. Die Anwendung niedermolekularer Heparine oder Vitamin-K-Antagonisten sollte empfohlen werden [23].
Für Lenalidomid äußert sich der Hersteller weniger dezidiert, empfiehlt aber grundsätzlich die Anwendung von Arzneimitteln zur Thromboseprophylaxe [23].
Die Autoren der Onkopedia-Leitlinien empfehlen grundsätzlich für Patienten mit multiplem Myelom unter Therapie mit Lenalidomid oder Thalidomid die Gabe von Heparin oder Acetylsalicylsäure [14]. Acetylsalicylsäure hatte in verschiedenen kleineren Studien eine thromboseprophylaktische Wirksamkeit gezeigt, die nur gering unter der von niedermolekularem Heparin lag [24].
Es sollten darüber hinaus Maßnahmen ergriffen werden, um alle beeinflussbaren Risikofaktoren für thromboembolische Ereignisse zu minimieren (Rauchen, Hypertonus, Hyperlipidämie). Auch der Einsatz der beim multiplen Myelom nicht selten angewendeten Erythropoese-stimulierenden Substanzen sollte hinterfragt werden.
Anwendung von Inhibitoren der Angiogenese und des epidermalen Wachstumsfaktors (EGF)
Auch bei der Anwendung der in den letzten Jahren neu eingeführten Inhibitoren der Angiogenese und des EGF (Bevacizumab, Sunitinib, Sorafenib) wird über eine erhöhte Inzidenz thrombotischer Komplikationen berichtet. Die Streubreite der Daten ist sehr groß und liegt für Bevacizumab zwischen 3 und 23% [25]. Eine allgemeine Thromboseprophylaxe wird derzeit nicht befürwortet [25].
Myeloproliferative Erkrankungen (MPE)
Eine Thrombozytose mit Werten, die die Norm zum Teil deutlich überschreiten, findet man bei etwa 40% der Tumorpatienten, vor allem bei fortgeschrittenen Tumoren, ohne dass dieser Befund gleichbedeutend mit einem hohen VTE-Risko ist. Die essenzielle Thrombozythämie im Rahmen einer myeloproliferativen Erkrankung, die meist mit Thrombozytenwerten von >600000/µl und einer Leukozytose einhergeht, bzw. die Polycythaemia vera, bei der zudem eine Erythrozytose vorliegt (erkennbar an einem erhöhten Hämatokrit), sind als bedrohliche Risikofaktoren für ein arterielles oder venöses thrombotisches Ereignis anzusehen. Nicht selten erleiden noch unbehandelte, relativ junge Patienten mit myeloproliferativen Erkrankungen zerebral vaskuläre Ereignisse oder auch Pfortaderthrombosen. Daher ist bei myeloproliferativen Erkrankungen eine Behandlung meist erforderlich, wobei Phlebotomien, Acetylsalicylsäure, Hydroxycarbamid (z. B. Syrea®) oder Anagrelid (Xagrid®) zum Einsatz kommen. Die Prophylaxe mit Heparinen spielt hierbei eine untergeordnete Rolle.
Rezidivierende Thrombosen
Für Patienten, die schon zuvor eine Thromboembolie durchgemacht haben, besteht ein deutlich erhöhtes VTE-Risiko [30], so dass bei einer Chemo- oder Strahlentherapie die Indikation zu einer Heparin-Prophylaxe ernsthaft geprüft werden sollte.
Venöse Portsysteme
Kontrovers wurde diskutiert, ob eine Thromboseprophylaxe bei venösen Portsystemen wie auch bei subkutan platzierten Hickman-Kathetern notwendig ist [26]. Es wurde immer wieder dokumentiert, dass sich bei sonographischen Kontrollen an der Spitze des Portkatheters in bis zu 60 bis 70% der Fälle Fibrinanlagerungen nachweisen lassen, in der Regel sind die Systeme dennoch weiterhin durchgängig. Die Zahl der klinisch manifesten Portverschlüsse liegt nach Studienlage nur zwischen 3 und 4%, unabhängig davon, ob eine mehrere Monate dauernde Prophylaxe mit Enoxaparin bzw. Dalteparin durchgeführt wurde oder nicht [27, 28]. Wenn man bedenkt, dass die Portsysteme oft über viele Monate in Gebrauch sind, müssten die Patienten über lange Zeiträume prophylaktisch behandelt werden, um dann bei wenigen Patienten einen Verschluss zu verhindern. Daher sprechen sich derzeit die verschiedenen Leitlinien [13, 14, 15] gegen eine allgemeine Thromboseprophylaxe aus. Vielmehr sollte diese dann zur Anwendung kommen, wenn der Port bereits einmal verschlossen war und mit einem Fibrinolytikum wieder eröffnet werden konnte oder wegen des Verschlusses neu angelegt werden musste.
Akutbehandlung venöser Thromboembolien bei Tumorpatienten
Die Therapie akuter venöser Thromboembolien bei Tumorpatienten unterscheidet sich in bestimmten Situationen nicht von der bei Patienten ohne Tumorleiden, solange man davon ausgehen kann, dass tumorbedingt kein deutlich erhöhtes Blutungsrisiko vorliegt. Dies ist im Einzelfall zu hinterfragen. Keinesfalls stellt ein Tumorleiden per se eine Kontraindikation zur therapeutischen Antikoagulation mit Vitamin-K-Antagonisten dar. Wenn stabile Verhältnisse vorliegen, beispielsweise ein Primärtumor oder Metastasen, von denen keine Blutungsgefahr ausgeht (z. B. ein ossär metastasierendes Mammakarzinom), kann nach initialer Therapie mit niedermolekularem Heparin überlappend mit einem oralen Antikoagulans (Phenprocoumon, Warfarin) weiterbehandelt werden. Eine weitere Option könnte das inzwischen u. a. für die Behandlung venöser Thromboembolien zugelassene Rivaroxaban sein. [29].
Nicht selten verbieten die manifeste oder zu erwartende Thrombozytopenie, bevorstehende diagnostische oder operative Interventionen, zyklisch zu verabreichende Chemotherapiekombinationen sowie Interaktionen mit der Begleitmedikation eine orale Antikoagulation, so dass Alternativen eingesetzt werden müssen. In dieser Situation sind die niedermolekularen Heparine von großer Bedeutung, da sie ein- bis zweimal täglich subkutan auch außerhalb der Klinik weiter verabreicht werden können und die Risiken einer Heparin-induzierten Thrombozytopenie (HIT) im Vergleich zu unfraktioniertem Heparin gering sind. In der 2003 veröffentlichten CLOT(Comparison of low molecular weight heparin versus oral anticoagulant therapy)-Studie konnte eindrucksvoll gezeigt werden, dass Dalteparin Warfarin in der Therapie venöser Thromboembolien bei Tumorpatienten signifikant überlegen war [30]. In dieser sechs Monate dauernden Studie wurden 336 Patienten mit Dalteparin in therapeutischer Dosis (200 I.E./kg/Tag) behandelt, 336 Patienten erhielten Warfarin mit einem Ziel-INR von 2,5. Die Dosierung von Dalteparin wurde nach vier Wochen um 25% reduziert. In der Warfarin-Gruppe erlitten 53 Patienten (17,4%) innerhalb der Studienzeit eine Rezidivthrombose, unter Dalteparin waren es 26 Patienten (8,8%). Die Zahl der Blutungskomplikationen unterschied sich in den beiden Gruppen nicht. Ähnlich günstige Ergebnisse wurden auch mit Tinzaparin in der L.I.T.E (Long-term innovations in treatment)-Studie bei Tumorpatienten veröffentlicht [31]: 7 von 100 Patienten in der Tinzaparin-Gruppe und 16 von 100 Patienten in der Warfarin-Gruppe erlitten symptomatische venöse Thrombosen, was einer Risikoreduktion um 56% unter Tinzaparin entsprach. In mehreren kleinen Therapiestudien konnte gezeigt werden, dass niedermolekulare Heparine in der Post-Akut-Phase einer Thrombose in halbtherapeutischer oder auch in prophylaktischer Dosierung Warfarin in therapeutischer Dosierung oder höher dosiertem unfraktioniertem Heparin ebenbürtig waren [32, 33]. Somit gibt es genügend Erfahrungen, aus denen abgeleitet werden kann, dass niedermolekulare Heparine, gegebenenfalls in einer gegenüber der „therapeutischen“ Dosis reduzierten Dosierung, zur Behandlung von thrombotischen Ereignissen bei Tumorpatienten geeignet sind.
Kommt es bei Bestehen eines hohen Blutungsrisikos (bei ulzerierend oder exophytisch wachsendem Tumor, z. B. im Gastrointestinaltrakt oder in der Harnblase, oder bei einem Gehirntumor/-metastasen) oder einer manifesten hämorrhagischen Diathese zur venösen Thromboembolie, muss die Behandlung an die jeweilige Situation angepasst erfolgen. Man wird in der Akutphase auf ein niedermolekulares Heparin in einer auf das Blutungsrisiko abgestimmten, niedrigen Dosierung zurückgreifen. Die Dosierung kann hierbei im Bereich zwischen den für die prophylaktische und therapeutische Gabe üblicherweise empfohlenen Dosierungen liegen (z. B. 50% der therapeutischen Dosis) und kann nachfolgend auf die für die prophylaktische Anwendung übliche Dosierung reduziert werden [31, 32]. Es gibt jedoch akute Situationen, beispielsweise blutende Gehirntumoren oder -metastasen, die eine Antikoagulation grundsätzlich verbieten. Hier kommt neben physikalischen Maßnahmen nur ein Vena-cava-Filter in Betracht.
Rezidivierende Thromboembolien
Krebspatienten haben im Gegensatz zu Nichtkrebspatienten auch bei einer adäquaten Antikoagulation ein 2- bis 3-fach erhöhtes Risiko, ein Rezidiv ihrer venösen Thromboembolie zu erleiden. In der oben erwähnten CLOT-Studie wurde eine überlegene Wirksamkeit des niedermolekularen Heparins Dalteparin gegenüber Warfarin bei der Verhinderung von Rezidiven aufgezeigt [30]. Auch mit Tinzaparin (L.I.T.E-Studie) konnte die Überlegenheit von Heparin gegenüber der oralen Antikoagulation demonstriert werden [31]. In beiden Studien konnte die Rezidivrate praktisch halbiert werden. Dem trug auch das American College of Chest Physicians in seinen Leitlinien Rechnung, in denen die Möglichkeiten der Behandlung venöser Thromboembolien bei Krebspatienten mit niedermolekularen Heparinen dargestellt werden [33]. In Deutschland ist Dalteparin (Fragmin®) zur Rezidivprophylaxe venöser Thromboembolien bei onkologischen Patienten zugelassen, wobei die empfohlene Behandlungsdauer sechs Monate beträgt.
Neue Antithrombotika
Nach umfangreichen klinischen Studien wurden die neuen Faktor-Xa- und Thrombin-Inhibitoren Dabigatran, Rivaroxaban und Apixaban zunächst zur Primärprävention venöser thromboembolischer Ereignisse bei erwachsenen Patienten nach elektivem chirurgischem Hüft- oder Kniegelenkersatz zugelassen. Der Thrombin-Inhibitor Dabigatran ist seit August 2011 auch für die Prävention von Schlaganfällen und systemischen Embolien bei Erwachsenen mit nichtvalvulärem Vorhofflimmern und einem oder mehreren Risikofaktoren zugelassen. Der Faktor-Xa-Inhibitor Rivaroxaban hat darüber hinaus seit Anfang 2012 auch die Zulassung für die Behandlung von tiefen Venenthrombosen sowie für die Prophylaxe von rezidivierenden tiefen Venenthrombosen und Lungenembolien nach akuten tiefen Venenthrombosen bei Erwachsenen, und es wird nach erfolgreichem Studienabschluss [35] auch die Zulassung zur Behandlung der Lungenembolie angestrebt.
Es ist anzunehmen, dass zunächst retrospektiv die Behandlungsergebnisse der mit den neuen Substanzen behandelten Tumorpatienten aus den Zulassungsstudien ausgewertet werden und bei positivem Trend auch prospektive Studien bei Tumorpatienten initiiert werden. Man könnte spekulieren, dass die direkten Inhibitoren von Faktor Xa und Faktor IIa in der Lage sind, auch eine Anti-Tumorwirkung auszuüben, da Thrombin als ein Wachstumsfaktor von Tumoren gilt.
Bislang gibt es lediglich eine Plazebo-kontrollierte Phase-II-Studie mit dem Faktor-Xa-Inhibitor Apixaban zur Prophylaxe bei Patienten im metastasierten Stadium unter Chemotherapie. Der erste, in Abstractform vorliegende Bericht nach 12 Wochen Behandlungsdauer erlaubt noch keine größeren Schlussfolgerungen [36]. Dennoch dürfte großes Interesse bestehen, das Potenzial der neuen Antithrombotika in der primären und sekundären Prophylaxe venöser Thromboembolien bei Tumorpatienten weiter zu untersuchen.
Interessenkonflikte
Der Autor hat Vortragshonorare von den Firmen LEO Pharma und Amgen erhalten.
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Prof. Dr. Erhard Hiller, Hämato-onkologische Gemeinschaftspraxis am Rotkreuzplatz, Winthierstraße 7, 80639 München, E-Mail: Erhard.Hiller@gmx.de
Venous thromboembolism in patients with cancer
Clinical risk factors for venous thromboembolism (VTE) in cancer patients include primary tumor site, stage, hospitalization, and other comorbidities as well as chemo- and/or radiotherapy, and antiangiogenic therapy. There is neither a single laboratory test nor a panel of laboratory tests that actually may predict the occurrence of VTE during follow-up. A recently validated risk model, incorporating clinical and laboratory factors, may help in the future to differentiate patients at high and low risk for developing VTE. At the present time hospitalization of tumor patients should be considered as the most important risk factor for VTE. According to several medical guidelines all tumor patients admitted to the hospital should be considered as patients at risk for VTE and should therefore receive medical thrombosis prophylaxis with low-molecular weight heparin (LMWH) or with the pentasaccharide fondaparinux as this is mandatory for surgical tumor patients. If there are additive risk factors for VTE, thrombosis prophylaxis is also indicated for outpatients. For therapy of acute VTE LMWH can be given to bridge the time until vitamin-K antagonists are effective. It may also be administered for prolonged periods, since it is more effective than vitamin-K antagonists in preventing recurrent VTE.
Key words: Tumor patients, risk factors for venous thromboembolism, guidelines, thrombosis prophylaxis, low-molecular weight heparin
Arzneimitteltherapie 2012; 30(06)