Akutes Koronarsyndrom

Sekundärprophylaxe mit Ticagrelor


Simone Reisdorf, Erfurt

Die Sekundärprophylaxe bei Patienten mit akutem Koronarsyndrom (ACS) sollte auch Monate und Jahre nach dem Erstereignis nicht vernachlässigt werden. Dabei kommt es auch auf eine effektive Thrombozytenfunktionshemmung an. Die Wirksamkeit von Ticagrelor wurde in der PLATO-Studie gezeigt. Über seine bekannte Wirkung am thrombozytären ADP-P2Y12-Rezeptor hinaus scheint Ticagrelor zudem weitere, pleiotrope Effekte zu besitzen. Einsatz und Wirkungen der Substanz wurde im Rahmen eines Satellitensymposiums der Firma AstraZeneca beim diesjährigen Kongress der European Society of Cardiology (ESC) erörtert.

Patienten mit akutem Koronarsyndrom (ACS) sind keineswegs stabil, wenn sie nach dem Indexereignis aus dem Krankenhaus entlassen werden. Nach Daten des GRACE-Registers (Global registry of acute coronary events) sterben 19% der Patienten mit ST-Hebungs-Infarkt (ST-elevation myocardial infarction, STEMI) innerhalb der nächsten fünf Jahre. Bei Patienten mit Nicht-ST-Hebungs-Infarkt (NSTEMI) sind es sogar 22% und bei Patienten, die wegen einer instabilen Angina pectoris (unstable angina, UA) eingewiesen wurden, immerhin 17%. Die allermeisten dieser Todesfälle im Fünf-Jahres-Verlauf, nämlich 68, 86 bzw. 97%, erfolgen nicht während des ersten Krankenhausaufenthalts, sondern erst später, also im ambulanten Umfeld oder während eines erneuten Klinikaufenthalts. So erleiden 12,7% der NSTEMI-Patienten mindestens einen Reinfarkt und 53,6% müssen erneut wegen eines ACS hospitalisiert werden [1].

Die Sekundärereignisse treten dabei keineswegs immer an der ursprünglichen Läsion auf, sondern in der Hälfte der Fälle – so die Zahlen der PROSPECT(Providing regional observations to study predictors of events in the coronary tree)-Studie – an einer anderen, neuen Gefäßläsion [2]. Das unterstreicht die Wichtigkeit einer antithrombotischen Langzeitmedikation der Patienten, auch der dualen Thrombozytenfunktionshemmung mit Acetylsalicylsäure (ASS; z.B. Aspirin®) und einem weiteren Plättchenhemmer.

Sekundärprophylaxe: Breite Indikation für Ticagrelor

In der aktuellen Leitlinie der European Society of Cardiology (ESC) zum Management von NSTEMI-Patienten werden als Kombinationspartner für ASS in erster Linie die neuen Thrombozytenfunktionshemmer Ticagrelor (BriliqueTM) oder Prasugrel (Efient®) empfohlen. Die Zweitlinientherapie erfolgt mit Clopidogrel (z.B. Plavix®, Iscover®). Prasugrel wird speziell zum Einsatz bei Patienten ohne Vortherapie mit einem ADP-P2Y12-Inhibitor, mit bekannter Koronaranatomie und Indikation zur perkutanen Koronarintervention (PCI) vorgeschlagen, insbesondere bei Patienten mit Diabetes mellitus.

Im Gegensatz dazu ist Ticagrelor laut Leitlinie für den Einsatz bei einem breiten Spektrum von NSTEMI-Patienten indiziert: Patienten mit moderatem bis hohem Risiko für ischämische Ereignisse, unabhängig von der initialen Therapiestrategie, auch bei Vorbehandlung mit Clopidogrel. Es werden für Ticagrelor auch keinerlei Einschränkungen hinsichtlich der Koronaranatomie genannt. Die Loading-Dose soll 180 mg betragen, danach soll eine zweimal tägliche Behandlung mit je 90 mg Ticagrelor bis zu 12 Monate folgen. Im Falle einer Clopidogrel-Vortherapie soll diese mit Beginn der Ticagrelor-Gabe beendet werden.

PLATO-Studie zeigte signifikante Risikoreduktion

Ticagrelor ist ein oraler ADP-P2Y12-Antagonist mit raschem Wirkungseintritt. Anders als die Thienopyridine Clopidogrel oder Prasugrel ist es kein Prodrug und weist eine reversible Bindung an den Zielrezeptor auf.

In der PLATO-Studie (Study of platelet inhibition und patient outcomes) wurde Ticagrelor im Vergleich mit Clopidogrel bei 18624 ACS-Patienten untersucht. Nach einer Behandlungsdauer von sechs bis zwölf Monaten hatten 9,8% der mit Ticagrelor behandelten Patienten den primären Wirksamkeitsendpunkt (Myokardinfarkt, Schlaganfall oder kardiovaskulärem Tod) erlitten, in der Clopidogrel-Gruppe waren es mit 11,7% signifikant mehr (p<0,001). Auch bei allen sekundären Endpunkten mit Ausnahme der isolierten Betrachtung des Schlaganfalls war Ticagrelor gegenüber Clopidogrel signifikant überlegen. Schwere Blutungen traten mit 11,6% in der Ticagrelor-Gruppe vs. 11,2% in der Clopidogrel-Gruppe fast gleich häufig auf. Nicht Bypass-bezogene Blutungen (ein sekundärer Sicherheitsendpunkt) wurden allerdings unter Ticagrelor häufiger beobachtet (2,8 vs. 2,2%).

Pleiotrope Effekte von Ticagrelor vermutet

Über die bekannte Wirkung am thrombozytären P2Y12-Rezeptor hinaus werden derzeit pleiotrope Effekte von Ticagrelor vermutet. So spielen P2Y12-Rezeptoren offenbar auch eine Rolle bei Reaktionen der Gefäßwand auf Läsionen: In einer Studie mit P2Y12-Wildtyp- und P2Y12-Knock-out-Mäusen wurde histopathologisch unter anderem das Verhältnis der Tunica intima zur Tunica media drei Wochen nach Setzen einer Läsion in einem arteriellen Gefäß untersucht. Während sich das Intima/Media-Verhältnis in dem verletzten Gefäß bei den Wildtypmäusen im Vergleich zum Studienbeginn fast verdreifacht hatte – ein deutliches Zeichen für Neo-Intima-Bildung –, war sie bei den P2Y12-Knock-out-Mäusen sogar halbiert. Der Unterschied war signifikant (p<0,05) [3]. Des Weiteren kann Ticagrelor möglicherweise die Adenosin-Aufnahme in die Thrombozyten hemmen (Björkman JA et al., American Heart Association 2007) sowie entzündliche oder immunologische Vorgänge beeinflussen. Dies soll in weiteren präklinischen und klinischen Studien geklärt werden.

Quelle

Prof. Dr. Christian Hamm, Bad Nauheim, Prof. Dr. Keith Fox, Edinburgh, Großbritannien, Prof. Dr. Frans Van de Werf, Leuven, Belgien, Prof. Dr. Christopher Granger, Durham/North Carolina, USA, Prof. Dr. Robert Storey, Sheffield, Großbritannien. Satellitensymposium „New evidence, new approaches: optimising long-term management of acute coronary syndrome“, veranstaltet von AstraZeneca im Rahmen des ESC-Kongresses, München, 25. August 2012.

Literatur

1. Fox KA, et al. Underestimated and under-recognized: the late consequences of acute coronary syndrome (GRACE UK-Belgian Study). Eur Heart J 2010;31:2755–64.

2. Stone GW, et al. A prospective natural-history study of coronary atherosclerosis. N Engl J Med 2011;364:226–35.

3. Evans DJ, et al. Platelet P2Y12 receptor influences the vessel wall response to arterial injury and thrombosis. Circulation 2009;119:116–22.

Es stand in der AMT

Thrombozytenfunktionshemmung bei Patienten mit akutem Koronarsyndrom. Arzneimitteltherapie 2012;30:72–6.

Arzneimitteltherapie 2012; 30(11)