Visionen in der Diabetologie


Dr. med. Peter Stiefelhagen, Hachenburg

Trotz gewisser Fortschritte können diabetische Folgeschäden bei Typ-1-Diabetikern nicht komplett verhindert werden. Auch bei guter Stoffwechseleinstellung entwickelt jeder zweite Typ-1-Diabetiker Spätschäden an Gefäßen, Retina, Nieren und Nervensystem. Ziel der Diabetes-Forschung ist es deshalb, mit neuen Therapiestrategien die funktionelle Insulinsekretion wieder herzustellen oder zu erhalten. In diesem Zusammenhang werden, wie die zahlreichen Präsentationen im Rahmen der 47. Jahrestagung der Deutschen Diabetesgesellschaft (DDG) (16. bis 19. Mai 2012 in Stuttgart) zeigten, die Stammzelltherapie und Möglichkeiten der Immunintervention im Sinne einer „Diabetes-Impfung“ intensiv erforscht.

Stammzellen: Pro und contra

Der Ersatz der zugrunde gegangenen Betazellen durch Stammzellen ist ein hochinteressantes und sehr ehrgeiziges Forschungsprojekt. Bisher gibt es allerdings noch keine wissenschaftlichen Daten dafür, dass dieses Konzept auch funktioniert. Für eine Stammzelltherapie kommen grundsätzlich embryonale oder adulte Stammzellen in Frage. Da die Forschung an embryonalen Stammzellen ethisch umstritten und deshalb in Deutschland verboten ist, konzentriert sich die Forschung auf die adulten Stammzellen, die keine ethischen Probleme aufwerfen. Doch der Weg von der adulten Stammzelle zur funktionierenden Betazelle ist schwieriger und aufwendiger als zunächst gedacht; denn diese Zellen haben bereits einen gewissen Differenzierungsvorgang durchlaufen und müssen deshalb zu einer multipotenten Zelle mit hohem Proliferationspotenzial reprogrammiert werden. Damit dieses Therapiekonzept gelingen kann, benötigt man homogene Insulin-produzierende Zellpopulationen, die eine ausreichende Biosynthese von reifem Insulin und C-Peptid ebenso garantieren wie eine Glucose-induzierte Insulinfreisetzung.

Das Konzept der Stammzelltherapie ist mit einer Reihe von bisher ungelösten Problemen behaftet. Deshalb ist nicht absehbar, ob diese Strategie überhaupt die klinische Reife erreichen kann. Das wichtigste Problem bei solchen reprogrammierten Zellen ist das teratogene und kanzerogene Risiko; denn im Rahmen der Zellprogrammierung werden auch Tumorgene in die Stammzellen integriert, die man bisher nicht mit letzter Sicherheit eliminieren konnte. Es ist deshalb wohl kaum vertretbar, einem jüngeren Patienten als Alternative für die bewährte etablierte Insulinsubstitution eine Stammzelltherapie anzubieten. Auch sind die Programmierungs- und Differenzierungsvorgänge sehr komplex und schwer steuerbar, so dass bisher kein Verfahren mit ausreichender Effizienz entwickelt werden konnte.

Eine eventuell praktikable Alternative zur Stammzelltherapie ist die Gentherapie. Dabei versucht man beispielsweise, mit viralen Vektoren das Insulin-Gen in Leberzellen zu bringen, wodurch eine hepatische Insulinexpression möglich wird.

Das Fazit zur Stammzelltherapie lautet derzeit: Es gibt noch eine Reihe offener Fragen zur Effektivität und Sicherheit, so dass zumindest in absehbarer Zeit aus dieser Vision keine Realität werden dürfte.

„Diabetes-Impfung“ zur Prävention

Der Typ-1-Diabetes ist eine Autoimmunerkrankung, die zu einer Zerstörung der Insulin-produzierenden Betazellen führt. Wenn es gelänge, eine Immuntoleranz gegenüber Betazell-Antigenen zu etablieren, so könnte damit eventuell die Manifestation der Erkrankung verhindert werden. „Ziel solcher Strategien ist es deshalb, die Betazelle vor ihrer Zerstörung zu schützen, das heißt, die Inselautoimmunität zu verhindern beziehungsweise zu kontrollieren und eventuell auch die Regeneration der Betazellen zu fördern“, sagte Dr. Peter Achenbach vom Institut für Diabetesforschung in München.

Doch wie lässt sich eine Immuntoleranz gegenüber Betazell-Antigenen wieder herstellen? Dies könnte in Form einer Impfung erfolgen, wobei Antigene appliziert werden, die antigenspezifische regulative T-Zellen induzieren, die wiederum autoreaktive Effektor-T-Zellen in ihrer Aktivität unterdrücken beziehungsweise kontrollieren. Diese hochselektive Form der Immunsuppression ist nur gegen Immunzellen gerichtet, die in den lokalen Autoimmunprozess involviert sind. Dadurch wird die allgemeine Immunabwehr gegen Infektionserreger nicht beeinträchtigt und die induzierten regulativen T-Zellen vermitteln eine langfristige Immuntoleranz gegenüber ihrem Zielantigen. Entsprechende Untersuchungen konnten zeigen, dass eine solche Immuntoleranz besonders effektiv gegenüber solchen Antigenen induziert werden kann, die über die Schleimhaut resorbiert werden und zuerst mit dem lokalen Immunsystem in Kontakt kommen. Mit anderen Worten, eine orale oder intranasale Applikation des Antigens dürfte am sinnvollsten sein.

Insulin ist das wichtigste Autoantigen in der Pathogenese des Typ-1-Diabetes, also das primäre Ziel der autoimmunologischen Mechanismen. Voraussetzung für die Manifestation der Erkrankung ist eine entsprechende HLA-genetische Prädisposition. Eine erfolgreiche Prävention des Typ-1-Diabetes setzt voraus, entsprechend gefährdete Kinder zu identifizieren. Ein besonders hohes Risiko tragen HLA-DR3-DQ2/DR4-DQ8-positive Kinder, wenn zusätzlich ein Verwandter 1. Grades erkrankt ist. Bei solchen Kindern hofft man, mit einer entsprechenden „Insulin-Impfung“ primär die Entstehung der Inselautoimmunität verhindern zu können. Zu diesem Zweck wurde die Pre-POINT-Studie initiiert, wobei Kinder mit einem sehr hohen Risiko für einen Typ-1-Diabetes im Alter von zwei bis sieben Jahren eine orale Schluckimpfung mit Insulin erhalten. Voraussetzung ist, dass bei diesen Kindern mit entsprechenden HLA-Genotyp und entsprechender Familienanamnese noch keine Autoantikörper nachweisbar sind.

In einer anderen Studie (INIT-2-Studie) wird die Möglichkeit einer Sekundärprävention untersucht. Aufgenommen in diese Studie werden Autoantikörper-positive Verwandte von Patienten mit einem Typ-1-Diabetes. In dieser Studie erfolgt die „Diabetes-Impfung“ mit einem Insulin-Nasenspray. Ziel dieser Sekundärprävention ist es, bei Kindern mit bereits nachweisbarer Autoimmunität die Manifestation des Typ-1-Diabetes zu verhindern.

Ob und wann diese neuen Präventions- und Therapiestrategien in den klinischen Alltag Einzug halten werden, kann bisher niemand sagen. Somit ist und bleibt für den Typ-1-Diabetiker zunächst die Insulin-Substitution die einzige Therapieoption.

Arzneimitteltherapie 2012; 30(11)