Prof. Dr. Egid Strehl, Freiburg
Bei der Intensivbehandlung der schweren Sepsis bzw. des septischen Schocks führt nach derzeitigen Erkenntnissen eine Sanierung des Infektionsherds zu einer etwa 14%igen Letalitätsreduktion, die Gabe geeigneter Antibiotika zu einer um 30% verringerten Todesrate, die Empfehlungen der sogenannten „Early goal directed therapy“ zu einer 16%igen Letalitätsreduktion und die Umsetzung der „Sepsis-Bundles“ zu einer 6,2%igen Letalitätsminderung.
In diesem Jahr werden von der „Surviving Sepsis Campaign“ (SSC) neue international gültige Leitlinien für die Behandlung der schweren Sepsis und des septischen Schocks herausgegeben, die auf dem 41. Critical Care Congress der Society of Critical Care Medicine 2012 in Houston, Texas (USA), bereits als Vorschau vorgestellt wurden. Die „Surviving Sepsis Campaign“ ist eine Initiative der European Society of Intensive Care Medicine, des internationalen Sepsisforums (ISF) und der bereits genannten Society of Critical Care Medicine. Sie möchte die Sterblichkeit an Sepsis über eine „Multipoint“-Strategie reduzieren. Dazu gehören die Sensibilisierung der Ärzte für Sepsis, eine Verbesserung der Diagnose, ein verstärkter Einsatz geeigneter, validierter Behandlungsstrategien, eine Weiterbildung des medizinischen Fachpersonals und schließlich die Erleichterung der Datenerhebung für die Zwecke des Auditierens und der Informationsverbreitung. Die neuen SSC-Empfehlungen treffen unter anderem die folgenden Aussagen und bewerten sie nach den GRADE-Kriterien (siehe Kasten) hinsichtlich ihrer Evidenz- und Empfehlungsstärke:
- Es wird eine spezifische anatomische Diagnose der Infektion verlangt mit Hauptaugenmerk auf der Infektionsquelle (z.B. nekrotisierende Weichgewebeinfektion, Peritonitis mit der Komplikation einer intraabdominellen Infektion, intestinaler Infarkt). Ein Infektionsherd muss schnellstmöglich gefunden und diagnostiziert oder aber ganz ausgeschlossen werden. Bei Bedarf ist eine chirurgische Drainage innerhalb der ersten zwölf Stunden nach der Diagnose vorzunehmen (GRADE 1C).
- Die antimikrobielle Therapie ist schnellstens, das heißt innerhalb der ersten Stunde nach Erkennen des septischen Schocks oder der Sepsis ohne Schocksymptomatik zu starten (GRADE 1C).
- Bereits in der frühesten Phase intensivmedizinischer Maßnahmen sollten erhöhte Lactat-Blutspiegel normalisiert werden, sofern keine zentralvenöse Sättigung mit Sauerstoff vorgenommen werden kann (GRADE 2C).
- Procalcitonin soll nicht als diagnostischer Marker für eine schwere Sepsis verwendet werden. Der Procalcitonin-Spiegel kann jedoch als Indikator für das Absetzen einer empirischen Antibiotikatherapie dienen, wenn eine Infektion nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte (GRADE 2C).
- Eine selektive antibiotische Dekontamination des Magen-Darm-Trakts sowie des Oropharynx sollte ergänzt und daraufhin evaluiert werden, ob sie geeignet ist, die Inzidenz einer beatmungsassoziierten Pneumonie zu reduzieren (GRADE 2B).
Weitere Aussagen der als Vorschau diskutierten SSC-Empfehlungen betreffen die Flüssigkeitssubstitution:
- Innerhalb der Flüssigkeitsbilanzierung wird eine rasche Infusion von Kristalloid-Lösungen bei der schweren Sepsis empfohlen (GRADE 1A). Bei schwerer Sepsis und septischem Schock kann eine zusätzliche Albumin-Substitution angezeigt sein (GRADE 2B). Lösungen mit Hydroxyethylstärke-Derivaten mit einem mittleren Molekulargewicht von über 200 kDa oder einem Substitutionsgrad von mehr als 0,4 (d.h., pro 10 Glucosemoleküle sind bei 4 Molekülen die Hydroxylgruppen an den C2-, C3- und C6-Atomen durch Hydroxyethylgruppen substituiert) sollten nicht eingesetzt werden (GRADE 1B).
- Bei Verdacht auf eine verminderte Gewebeperfusion in Folge der Sepsis sollten 1000 ml Kristalloid-Lösung oder mehr bis zu einem minimalen Level von 30 ml/kg Körpergewicht [KG] während der ersten vier bis sechs Stunden infundiert werden. Weitere Flüssigkeitsboli sollten solange substituiert werden, wie sich die Hämodynamik (angezeigt durch eine Blutdrucksteigerung oder einen steigenden mittleren arteriellen Blutdruck) bessert (GRADE 1C) .
Hinsichtlich der Gabe von Vasopressoren und herzkraftstärkender Pharmaka enthalten die SSC-Empfehlungen folgende Festlegungen:
- Norepinephrin (Noradrenalin) sollte als Vasopressor der ersten Wahl eingesetzt werden (GRADE 1B); Epinephrin (Adrenalin) sollte ergänzt werden, sofern ein zusätzliches Pharmakon zur Aufrechterhaltung eines adäquaten Blutdrucks erforderlich ist (GRADE 2B).
- Vasopressin (0,03 Einheiten/min; in Deutschland nicht zugelassen) kann zusätzlich infundiert werden oder Noradrenalin ersetzen (GRADE 2A).
- Bei Patienten mit geringer Herzauswurfleistung und/oder niedriger Herzfrequenz, die außerdem nur ein niedriges Risiko für Arrhythmien aufweisen dürfen, könnte Dopamin eine Alternative für Vasopressin sein (GRADE 2C).
- Bei myokardialer Dysfunktion (gekennzeichnet durch einen erhöhten Füllungsdruck und eine niedrige Auswurfleistung) oder bei zunehmenden Anzeichen einer Minderperfusion – selbst wenn das intravaskuläre Volumen im erwarteten Level liegt und ein mittlerer arterieller Druck in ausreichender Höhe erreicht wurde – kann eine Dobutamin-Infusion gestartet oder zu einem der vorgenannten Vasopressoren addiert werden.
Betreffend die Gabe von Glucocorticoiden und die mechanische Beatmung bei einem Sepsis-induzierten ARDS (akutes Lungenversagen) enthalten die Empfehlungen der SSG folgende Hinweise:
- Bei erwachsenen Patienten mit septischem Schock sind i.v. Glucocorticoide dann nicht indiziert, wenn die Flüssigkeitszufuhr oder Vasopressoren-Therapie ausreicht, um die Hämodynamik des Patienten zu stabilisieren. Nur wenn dies nicht erreicht werden kann, wird die i.v. Gabe von 200 mg Hydrocortison pro Tag als kontinuierliche Infusion (GRADE 2C) empfohlen.
- Patienten mit schwerem ARDS, deren paO2/FiO2-Quotient<100 ist, sollten in Bauchlage gebracht werden (GRADE 2C; paO2: arterieller Sauerstoffpartialdruck im Blut; FiO2: Sauerstoffkonzentration der Einatemluft).
Bestandteil der Maßnahmen zur Letalitätsreduktion bei schwerer Sepsis und septischem Schock ist auch die sogenannte „Early goal directed therapy“ [1]. Hier wird verlangt, den zentralen Venendruck >8–12 mmHg zu halten, den mittleren arteriellen Blutdruck ≤65 mmHg zu steigern, die Urinausscheidung auf einen Wert von ≥0,5 ml/kg KG/h zu stabilisieren und die zentrale venöse Sauerstoffsättigung (gemessen oberhalb der Vena cava) ≥70% bzw. die gemischt venöse Sauerstoffsättigung ≥65% zu halten bzw. einzustellen (GRADE 1C).
Bestandteil der Sepsis-Therapiestrategie sind ferner die sogenannten „Sepsis-Bundles“ [2]. Sie machen konkrete Vorgaben zu Maßnahmen während der ersten sechs Stunden der Behandlung und weitere für die Folgezeit bis zu 24 Stunden nach Sepsis-Diagnose. Im Einzelnen verlangen sie, das Serumlactat zu messen, Blutkulturen vor Beginn der Antibiotikatherapie anzulegen, Breitspektrumantibiotika einzusetzen, den zu niedrigen Blutdruck zu behandeln und/oder das Serumlactat durch Flüssigkeitssubstitution zu senken, Vasopressoren gegen einen sinkenden mittleren arteriellen Blutdruck einzusetzen und eine ausreichende zentrale Sauerstoffsättigung sicherzustellen. Zur Flüssigkeitssubstitution wird eine Bolusgabe von 30 ml/kg KG für notwendig erachtet.
Das GRADE-System
Die im Jahr 2000 entstandene GRADE(Grading of recommendations, assessment, development and evaluation) Working-Group, ein internationales Team bestehend aus Leitlinienentwicklern, Klinikern und Methodikern, hat vorhandene Konzepte der Leitlinienerstellung weiterentwickelt mit dem Ziel der Vereinheitlichung der Graduierung von Evidenz und Empfehlungen in Leitlinien. Das daraus entstandene GRADE-System unterscheidet zwischen der Qualität der Evidenz und der Stärke einer Empfehlung, betrachtet gleichzeitig Nutzen und Schaden einer Intervention, fokussiert auf patientenrelevante Endpunkte und beinhaltet Überlegungen zum Ressourcenverbrauch. Mit dem System werden starke und abgeschwächte Empfehlungen abgegeben.
Die Einteilung ist wie folgt:
1: Starke Empfehlungen
2: Schwache Empfehlungen (Vorschlag)
A: Randomisierte kontrollierte Studie
B: Herabgestufte randomisierte kontrollierte Studie
C: Solide Observationsstudie
D: Fallserie oder Expertenmeinung
Quelle
Prof. Dr. Markus A. Weigand, Gießen. Symposium „Sepsis – Aktuelle Probleme und Standards“, veranstaltet von der DGI-Sektion Sepsisforschung/Infektionsimmunologie im Rahmen des 11. KIT 2012 (Kongress für Infektionskrankheiten und Tropenmedizin), Köln, 27. April 2012.
Literatur
1. Rivers E. Early goal-directed therapy in the treatment of severe sepsis and septic shock. N Engl J Med 2001;345:1368–77.
2. Society of Critical Care Medicine. Severe sepsis bundles. www.sccm.org/Home (Zugriff am 23.7.2012).
Arzneimitteltherapie 2012; 30(11)