Dr. Dr. Tanja Neuvians, Ladenburg
Patienten mit schwerer Hämophilie A können keinen funktionsfähigen Gerinnungsfaktor VIII produzieren. Dadurch ist die Gerinnungsfähigkeit des Blutes massiv beeinträchtigt, sodass es zu spontanen Blutungen in Muskeln und Gelenken kommen kann. Um Gelenkschäden vorzubeugen, bekommen betroffene Kinder regelmäßig Infusionen mit gentechnisch hergestellten oder aus humanem Blutplasma gewonnenen Faktor-VIII-Produkten. Etwa 30% der Kinder entwickeln hemmende Antikörper, welche die übliche Behandlung unmöglich machen. Es gibt Hinweise, dass gentechnisch hergestellte (rekombinante) Faktor-VIII-Produkte stärker immunogen wirken als Plasmaprodukte; die Studienergebnisse sind jedoch widersprüchlich.
Blutgerinnungsfaktor VIII
Kofaktor für Faktor IXa, der wiederum Faktor X zu Xa aktiviert. In der weiteren Gerinnungskaskade setzt Xa schließlich Prothrombin zu Thrombin um.
Studiendesign
Die Studie wurde an 29 Hämophilie-Zentren durchgeführt und schloss Kinder mit schwerer Hämophilie A (Faktor-VIII-Aktivität <0,01 I.E./ml) ein, die zwischen 2000 und 2010 geboren wurden und bis Studienbeginn noch nicht behandelt worden waren. Alle Infusionen mit Faktor-VIII-Produkten wurden dokumentiert bis Antikörper auftraten oder bis an insgesamt 75 Tagen behandelt worden war (Expositionstage).
Primärer Endpunkt war das Auftreten klinisch relevanter Hemmkörper, das heißt mindestens zwei positive Antikörpertiter mit verminderten Erholungsraten für Faktor-VIII-Level. Die Erholung der Faktor-VIII-Level galt als verzögert, wenn die Faktor-VIII-Aktivität 15 Minuten nach der Infusion weniger als 66% des erwarteten Levels betrug. Sekundärer Endpunkt waren hohe Antikörpertiter von mindestens fünf Bethesda-Einheiten pro Milliliter.
Verglichen wurden Plasmaprodukte mit unterschiedlichen Konzentrationen an Von-Willebrand-Faktor und verschiedene rekombinante Produkte der 1., 2. oder 3. Generation, mit vollständiger Länge oder fehlender B-Domäne. Auch ein Wechsel zwischen verschiedenen Produkttypen wurde berücksichtigt.
Studienergebnisse
Bei 177 von 574 Kindern entwickelten sich klinisch relevante hemmende Antikörper (kumulative Inzidenz 32,4%; 95%-Konfidenzintervall [KI] 28,5–36,3), davon lagen bei 116 Kindern hohe Hemmkörpertiter vor (kumulative Inzidenz 22,4%; 95%-KI 18,8–26,0). Hemmkörper entwickelten sich nach durchschnittlich 15 Expositionstagen. Plasmaprodukte hatten ein ähnliches Risiko für die Entwicklung von Hemmkörpern wie rekombinante Faktor-VIII-Produkte (adjustiertes Hazard-Ratio [HR] 0,96; 95%-KI 0,62–1,49). Rekombinante vollständige Faktor-VIII-Produkte der 2. Generation vermittelten ein signifikant höheres Risiko, Hemmkörper zu entwickeln, als die vollständigen Faktor-VIII-Produkte der 3. Generation (adjustiertes HR 1,60; 95%-KI 1,08–2,37; p=0,02); für hohe Hemmkörpertiter betrug das adjustierte HR 1,79 (95%-KI 1,09–2,94; p=0,02). Der Wechsel zwischen verschiedenen Produkten und der Gehalt an Von-Willebrand-Faktor (adjustiertes HR 0,90; 95%-KI 0,57–1,41) hatten keinen Einfluss auf das Entstehen von Antikörpern.
Diskussion
Erstaunlicherweise war das Risiko für Hemmkörperentwicklung bei Kindern, die mit vollständigen rekombinanten Faktor-VIII-Produkten der 2. Generation behandelt wurden, um 60% höher als bei Kindern mit vollständigen rekombinanten Produkten der 3. Generation. Dafür gibt es keine schlüssige biologische Erklärung. Da bei der Auswertung der Ergebnisse bereits zahlreiche Störvariablen berücksichtigt wurden, könnte ein kausaler Zusammenhang zugrunde liegen. Solange aber dieser Befund nicht von anderen Studien belegt wird, ist es nicht ausgeschlossen, dass es sich um einen Zufall handelt. Bisherige Studien zur Registrierung dieser Medikamente könnten die Hemmkörperentwicklung unterschätzt haben, da Patienten eingeschlossen wurden, die bereits mit Faktor-VIII-Produkten behandelt worden waren, und da die Nachbeobachtungszeit für potenzielle Risikopatienten relativ kurz war. Die bisherige Vermutung, dass Plasmaprodukte mit höheren Mengen an Von-Willebrand-Faktor weniger immunogen wirken als rekombinante Produkte, konnte in dieser Studie nicht bestätigt werden. Da insgesamt nur relativ wenige Patienten mit Plasmaprodukten behandelt wurden (4018 versus 25661 Expositionstage) und sich auch Plasmaprodukte voneinander unterscheiden, konnten Risikounterschiede bei verschiedenen Plasmaprodukten nicht untersucht werden.
Fazit
Rekombinante Faktor-VIII-Produkte und Plasmaprodukte haben ein vergleichbares Risiko für Hemmkörperentwicklung. Vollständige rekombinante Faktor-VIII-Produkte der 2. Generation hatten ein höheres Risiko für hemmende Antikörper als vollständige rekombinante Faktor-VIII-Produkte der 3. Generation. Dieses Ergebnis sollte in weiteren Studien überprüft werden.
Quelle
Gouw SC, et al. Factor-VIII-products and inhibitor development in severe hemophilia A. N Engl J Med 2013;368:231–9.
Arzneimitteltherapie 2013; 31(04)