Hypertoniebehandlung

Aktualisierung der ESH-ESC-Leitlinien


Martin Wiehl, Königstein-Falkenstein

Einheitliche Blutdruckziele unter 140 mmHg systolisch für alle, unabhängig vom kardiovaskulären Risiko, mehr Blutdruckselbstmessung, raschere Intensivierung der therapeutischen Bemühungen bei Nichterreichen der Blutdruckziele und keine Bevorzugung einer antihypertensiv wirksamen Substanzklasse: das ist die Quintessenz der neuen Leitlinien für das Management der arteriellen Hypertonie, die von der European Society of Hypertension (ESH) und der European Society of Cardiology (ESC) verabschiedet und auf der diesjährigen ESH-Tagung in Mailand (Italien) vorgestellt wurden.

Die ersten ESH/ESC-Leitlinien für das Management der arteriellen Hypertonie wurden vor zehn Jahren, im Jahre 2003, verabschiedet. Sie gehörten zu den weltweit am häufigsten zitierten wissenschaftlichen Veröffentlichungen, erinnerte ein ESH-Statement nun anlässlich der dritten, revidierten Fassung. Die neuen Leitlinien wurden am 15. Juni zeitgleich im Journal of Hypertension, im European Heart Journal und in Blood Pressure veröffentlicht. Sie ersetzen die zweite, revidierte Fassung aus dem Jahre 2007 und spiegeln den aktuellen Stand wissenschaftlich fundierter Empfehlungen wider. Zugleich zeigen sie auf, wie sich die hypertensiologische Landschaft seitdem verändert hat und welche Herausforderungen zu bewältigen sind, um die mit Bluthochdruck und ihren Begleiterkrankungen assoziierte Mortalität und Morbidität in den Griff zu bekommen. In diesem Zusammenhang bezeichnet das Statement den Bluthochdruck als „führendes Mortalitätsrisiko weltweit“. Nach wie vor seien 30 bis 45% der europäischen Bevölkerung betroffen. An dieser Situation habe sich seit 2003 nichts geändert, zeigten sich die Autoren der neuen Leitlinien enttäuscht und forderten abermals mehr Aufmerksamkeit für dieses Gesundheitsrisiko ein, zumal es sich um einen Zustand handele, der bei konsequenter Behandlung gut kontrolliert werden kann.

Link zum Thema

Lebensstiländerung als Basistherapie

Basis jeglicher Hypertonietherapie wie auch -prävention ist die Änderung des Lebensstils. In erster Linie ist hier die Reduktion des Salzkonsums auf etwa die Hälfte des gewöhnlich verbrauchten Niveaus, also von 9 bis 12 auf 5 bis 6 Gramm pro Tag zu nennen, was bei Hypertonikern allein schon zu einer Senkung des systolischen Drucks um 4 bis 5 mmHg führt. Außerdem werden Gewichtsreduktion und körperliche Aktivität sowie eine Mäßigung im Alkoholkonsum empfohlen. Ferner sollte auf eine gesunde Ernährung Wert gelegt werden mit Gemüse, Obst und fettarmen Milchprodukten. Raucher sollten ihr Laster aufgeben. Für all diese Allgemeinmaßnahmen ließ sich in randomisierten kontrollierten Studien ein günstiger Effekt auf den Blutdruck und andere kardiovaskuläre Risikofaktoren zeigen, auch wenn der Beweis für eine Senkung der kardiovaskulären Ereignisrate letztendlich ausblieb. So ließen sich für die Gewichtsreduktion um 5 kg eine Senkung des systolischen Blutdrucks um 4 mmHg und für aerobes Training eine Senkung um 7 mmHg bei Hypertonikern belegen.

Blutdruckselbstmessung für mehr Therapieadhärenz und -sicherheit

Die Verfasser der Leitlinien fordern weiterhin mehr Aufmerksamkeit auf den Bluthochdruck, nicht nur seitens der Patienten, sondern auch seitens der behandelnden Ärzte. Blutdruckziele würden oft allein deshalb nicht erreicht, weil sich die Patienten der Risiken nicht bewusst seien und weil die Ärzte nicht konsequent auf einer Blutdrucknormalisierung beharren und eine erforderliche Therapieanpassung vernachlässigen. Als geeignetes Mittel, diesem Missstand wirkungsvoll zu begegnen, wird in den neuen Leitlinien besonderer Wert auf die Blutdruckselbstmessung gelegt. Korrekt ausgeführte Selbstmessungen seien darüber hinaus besser geeignet, kardiovaskuläre Risiken und den aktuellen Stand von Endorganschädigungen einzuschätzen als vereinzelte Messungen in der Praxis. Auch situationsbedingte Blutdruckschwankungen ließen sich durch die Selbstmessung besser erfassen. Diese sollte aber durch die ambulante 24-Stunden-Messung im Zweifelsfalle ergänzt werden, um auch die prognostisch wichtigen nächtlichen Blutdruckwerte zu ermitteln. Insgesamt gebe es in Europa große Unterschiede hinsichtlich der Versorgung und Betreuung von Hochdruck-Patienten. Die besten Erfolge seien allerdings dort zu verzeichnen, wo auf Teamarbeit gesetzt und wo durch Einbindung von Hypertonie-Schwestern die Therapieadhärenz gesteigert wird.

Systolische Ziele unter 140 mmHg für alle: evidenzbasiert und leichter vermittelbar

Dem Wunsch nach patientenfreundlicher Vereinfachung, Transparenz und Vereinheitlichung der Hochdrucktherapie kommt auch die zentrale Änderung der neugefassten Leitlinien entgegen. Während in der Version von 2007 noch zwei Blutdruckziele propagiert wurden – unter 140/90 mmHg für Patienten mit niedrigem bis moderatem Risiko und unter 130/80 mmHg für Hochrisikopatienten –, lautet die Empfehlung nun, einheitlich für alle einen systolischen Wert unter 140 mmHg anzustreben. Um zwei Ziele weiterhin zu rechtfertigen, gab es nicht genügend Evidenz. Dass für Patienten mit Diabetes mellitus dennoch etwas niedrigere diastolische Zielwerte unter 85 mmHg anzuvisieren seien, wurde ausdrücklich als Ausnahme von der allgemeinen Regel formuliert. Eine weitere Ausnahme besteht darin, ältere Menschen mit Hypertonie, die noch nicht das 80. Lebensjahr überschritten haben, auf Zielwerte zwischen 140 und 150 mmHg systolisch einzustellen. Lediglich bei Patienten mit gutem Allgemeinzustand und körperlicher Fitness sollte in dieser Altersgruppe ein Zielwert unter 140 mmHg in Erwägung gezogen werden. Für hochbetagte Patienten (>80 Jahre), denen in den neuen Leitlinien besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde, wird ebenfalls ein Zielwert zwischen 140 bis 150 mmHg systolisch empfohlen.

Der Weg ist weniger entscheidend als das Ziel

Bei der Auswahl antihypertensiv wirksamer Wirkstoffe gibt es den neuen Leitlinien zufolge keinerlei Präferenzen. Im Wesentlichen profitierten die Patienten von der Blutdrucksenkung per se, heißt es in der Begründung. Hierzu wurden große Metaanalysen herangezogen, um etwaige Unterschiede der Substanzklassen aufzudecken. Sie bestätigten jedoch, dass sich sowohl für die Einleitung der Behandlung als auch für die Erhaltungstherapie Diuretika, Betablocker, Calciumkanalblocker, ACE-Hemmer und Angiotensin-II-Rezeptorblocker als ebenbürtig erwiesen.

Zumindest für die Hochdrucktherapie im Allgemeinen konnte keine evidenzbasierte Rangfolge der verschiedenen Wirkstoffe ausfindig gemacht werden. Im Besondern könnte aber dennoch die Bevorzugung des einen oder anderen Wirkprinzips gerechtfertigt sein. Es liegen verschiedene Studienergebnisse vor, die spezielle klinische Situationen (z.B. Komorbiditäten) berücksichtigen oder eine bessere Effektivität bestimmter Wirkstoffgruppen bei Endorganschädigungen und begleitenden Risikofaktoren zeigen; andererseits können unerwünschte Arzneimittelwirkungen bei manchen Patienten eine dauerhafte Therapie gefährden oder gar unmöglich machen.

Ganz im Sinne einer zielwertorientierten Behandlung sollte überdies rasch eine Intensivierung der Therapie in Angriff genommen werden, wobei Kombinationstherapien bevorzugt werden sollten. Insbesondere bei hohen Blutdruckwerten und bei hohem kardiovaskulärem Risiko sollte eine initiale Kombinationstherapie eingeleitet werden.

Neue ESH/ESC-Leitlinien „Arterielle Hypertonie“ – das steht im Mittelpunkt

Die neuen ESH/ESC-Leitlinien für das Management der arteriellen Hypertonie wurden in einem intensiven und langwierigen Prozess über 18 Monate von einer Arbeitsgruppe aus beiden Fachgesellschaften erarbeitet. Nach Sichtung der aktuellen Studienlage wurden dabei erstmals alle Empfehlungen klassifiziert und mit ihrem jeweiligen Evidenzgrad versehen. Die wichtigsten Änderungen gegenüber der Fassung aus dem Jahr 2007 umfassen 18 Aspekte:

1. Epidemiologische Daten zur Hypertonie und Blutdruckkontrolle in Europa

2. Betonung der prognostischen Bedeutung der Blutdruckselbstmessung und ihrer Rolle bei Diagnose und Management der Hypertonie neben der ambulanten 24-Stunden-Messung

3. Aktualisierung der prognostischen Bedeutung nächtlicher Blutdruckwerte, des Weißkittel-Phänomens und der maskierten Hypertonie

4. Wiederholte integrierte Betrachtung des Bluthochdrucks in Zusammenhang mit anderen kardiovaskulären Risikofaktoren, asymptomatischen Organschädigungen und klinischen Komplikationen hinsichtlich eines umfassenden kardiovaskulären Risikomanagements

5. Aktualisierung der prognostischen Auswirkungen asymptomatischer Organschädigungen unter besonderer Berücksichtigung der Zielorgane Herz, Blutgefäße, Nieren, Augenhintergrund und Gehirn

6. Bestätigung des Risikos von Übergewicht und erhöhtem Body-Mass-Index (BMI) für die Hypertonie

7. Hypertonie bei jungen Menschen

8. Einleitung der antihypertensiven Therapie: mehr evidenzbasierte Kriterien und keine medikamentöse Behandlung bei hochnormalen Blutdruckwerten

9. Blutdruckziele: mehr evidenzbasierte Kriterien und einheitliche systolische Zielwerte unter 140 mmHg für Patienten sowohl mit niedrigem als auch mit hohem kardiovaskulären Risiko

10. Liberaler Ansatz einer initialen Monotherapie ohne Bevorzugung einer bestimmten Substanzklasse

11. Revidiertes Schema für die Einleitung einer Kombinationstherapie mit zwei Medikamenten

12. Neuer therapeutischer Algorithmus, um den Zielblutdruck zu erreichen

13. Ausführliche Berücksichtigung therapeutischer Strategien unter besonderen Umständen

14. Revidierte Empfehlungen zur Hochdrucktherapie bei älteren Patienten

15. Medikamentöse Therapie bei hochbetagten Patienten (>80 Jahre)

16. Spezielle Aufmerksamkeit auf resistente Hypertonie und entsprechende neue Behandlungsansätze

17. Vermehrte Aufmerksamkeit auf den Schutz von Zielorganen als Orientierung für die Hochdrucktherapie

18. Neue Ansätze zum dauerhaften Management der Hochdruckerkrankung

Arzneimitteltherapie 2013; 31(09)