Akute myeloische Leukämie

Ist die Zeit reif für die Wiedereinführung von Gemtuzumab-Ozogamicin?


Dr. Annette Junker, Wermelskirchen

Das Antikörperkonjugat Gemtuzumab-Ozogamicin (GO) hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich (Kasten). Seit der Marktrücknahme gibt es immer wieder klinische Studien, die darauf hinweisen, dass es für bestimmte Sonderfälle der akuten myeloischen Leukämie (AML) durchaus eine Berechtigung für eine Wiedereinführung geben könnte. Die Ergebnisse einer solchen Studie, die den Einsatz des Antikörperkonjugats bei Kindern mit neu aufgetretener AML testete, wurde während der Jahrestagung der amerikanischen Hämatologen (ASH) im Dezember 2013 in New Orleans vorgestellt.

Gemtuzumab-Ozogamicin – Eigenschaften und Geschichte

Gemtuzumab-Ozogamicin (früher als Mylotarg®) ist ein Immunkonjugat und besteht aus dem Zytostatikum Calicheamicin, einem bakteriellen Toxin aus dem Bakterium Micromonospora echinospora, und dem rekombinant hergestellten monoklonalen Antikörper Gemtuzumab. Der Antikörperteil des Konjugats ist gegen das CD33-Antigen gerichtet, das bei etwa 80% der Patienten mit akuter myeloischer Leukämie (AML) auf der Zelloberfläche der leukämischen Blasten exprimiert wird. Nach Bindung von Gemtuzumab-Ozogamicin an das CD33-Antigen auf der Zelloberfläche der Blasten kommt es zur Freisetzung des Zytostatikums. Somit können die CD33-exprimierenden Zellen selektiv abgetötet werden.

Mylotarg® wurde im Mai 2000 in den USA von der Food and Drug Administration (FDA) zur Behandlung der akuten myeloischen Leukämie zugelassen. Weltweit war das die erste Zulassung eines Antikörper-Toxin-Konjugats. Die Zulassung in den USA war auf CD33-positive AML-Patienten älter als 60 Jahre nach ihrem ersten Rückfall beschränkt, wenn eine konventionelle Chemotherapie nicht mehr infrage kam. Es handelte sich um ein beschleunigtes Zulassungsverfahren, das sich auf klinische Studien der Phase II stützte.

Ein Zulassungsantrag für die Europäische Union wurde 2008 abgewiesen. Im Herbst 2007 hatte der Ausschuss für Humanarzneimittel der Europäischen Arzneimittelagentur zunächst eine negative Beurteilung für Mylotarg® abgegeben, die in einer nochmaligen Überprüfung Anfang 2008 bestätigt wurde. Zur Ablehnung trugen in erster Linie die vorgelegten Daten zum Wirksamkeitsnachweis und die schweren unerwünschten Wirkungen bei. Laut Europäischer Arzneimittelagentur war gemäß der vorgelegten klinischen Studien mit der geringen Zahl an Patienten mit vollständiger Remission die Wirksamkeit in der angegebenen Indikation nicht hinreichend nachgewiesen worden und somit Nutzen-Risiko-Verhältnis nicht angemessen.

Auf Anraten der FDA wurde Gemtuzumab-Ozogamicin im Jahr 2010 von Pfizer wieder vom Markt genommen, da neuere Daten von klinischen Phase-III-Studien gezeigt hatten, dass es zu mehr Todesfällen gekommen war, vermehrt Lebererkrankungen aufgetreten waren und die Patienten somit keinen Nutzen von der Therapie hatten [2].

Wenn in der letzten Zeit auch Fortschritte erzielt werden konnten, was die Aufklärung der genetischen und molekularen Biologie der akuten myeloischen Leukämie (AML) betrifft, konnten diese Erkenntnisse leider nicht umgesetzt werden in signifikante Fortschritte in der Therapie. Selten zuvor wurden so viele mögliche Zielstrukturen untersucht. Leider kamen viele der entsprechenden Studien nicht über die Phase I, allenfalls die Phase II hinaus. Und die wenigen laufenden Phase-III-Studien scheinen auch allenfalls zu marginalen Fortschritten in der Behandlung der AML zu führen. Somit haben in den letzten Dekaden fast keine neuen Arzneimittel gegen die AML die Zulassung erreicht. Seit der Marktrücknahme von Gemtuzumab-Ozogamicin (GO) wurden aber einige randomisierte Studien mit dieser Substanz beendet, die zusammen genommen stark für ihre Effektivität bei neu diagnostizierter AML bei gleichzeitig akzeptabler Toxizität sprechen.

Gemtuzumab-Ozogamicin verlängert bei Kindern mit AML die Zeit bis zur Progression

Das Dogma der Therapie-Intensivierung konnte bei Kindern mit akuter myeloischer Leukämie durchaus die Überlebenszeit bis zu weiteren Vorfällen (Event-free survival, EFS) verlängern. Allerdings muss dabei eine hohe Toxizität und auch Mortalität in Kauf genommen werden. Insofern wird nach weniger toxischen Alternativen gesucht. Die Frage in der während des ASH präsentierten Studie war, ob ein Hinzufügen von GO zur Standard-Chemotherapie das EFS verlängern könne.

Studiendesign

In die Studie wurden zwischen 2006 und 2010 AML-Patienten unter 30 Jahre aufgenommen und randomisiert. Sie erhielten entweder die Standardtherapie allein (noGO) oder jeweils eine Dosis GO (3 mg/m2/Dosis) am Tag 6 der Induktion I (Ind I=Zyklus 1) und am Tag 7 der Intensivierung II (Int II=Zyklus 4) eines fünfzyklischen Chemotherapiekurses gemäß eines Schemas der Kinderonkologie-Gruppe (COG) [1]. Der Einsatz von Stammzelltransplantationen war gemäß der Risikogruppen stratifiziert. Letztere basierten auf zytogenetischen Besonderheiten und dem Ansprechen auf die Induktionstherapie. Hochrisikopatienten wurden nach der Intensivierung I (Int I=Zyklus 3) einer allogenetischen Stammzelltransplantation mit dem bestmöglichen allogenen Spender zugeführt. Niedrigrisikopatienten bekamen im Weiteren nur Chemotherapie und solche mit intermediärem Risiko, eine Stammzelltransplantation, falls es einen passenden familiären Spender (Matched family donor, MFD) gab.

Studienergebnisse

1022 Patienten gingen in die vorgestellte Analyse ein. Die Patienten im GO-Arm wiesen ein signifikant längeres EFS (Hazard-Ratio [HR] 0,83; 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,7–0,99; p=0,04) und auch ein längeres Überleben ohne Rückfälle (HR 0,74; 95%-KI 0,6–0,93; p=0,01) auf, während das Gesamtüberleben nicht signifikant länger war als in der Vergleichsgruppe (HR 0,91, 95%-KI 0,74–1,13). Nach drei Jahren betrug die Rate der Patienten, bei denen keine Vorfälle aufgetreten waren, 47% vs. 53% (p=0,05) und die Rate der noch Überlebenden 65% vs. 69% (p=0,18).

In multivarianten Analysen zeigte sich darüber hinaus, dass einige Patienten ganz besonders von der GO-Therapie profitiert hatten, nämlich Kinder unter zwei Jahren, solche mit weißen Blutkörperchen >100000×109/l und dunkelhäutige Patienten. Auch erreichten die Patienten im GO-Arm durch die Induktion häufiger eine komplette Remission (88% vs. 85%; p=n.s.). In Tabelle 1 sind die Gesamtresultate der beiden Arme nach Erreichen der kompletten Remission und auch die Unterschiede in den jeweiligen Risikogruppen zu sehen. Es zeigte sich eine konsistente Reduktion des Rückfallrisikos im GO-Arm.

Tab. 1. Ergebnisse der randomisierten Gruppen nach Erreichen der kompletten Remission

Gesamtüberleben1

Rückfallrisiko1

Krankheitsfreies Überleben1

noGO

[%]

GO

[%]

noGO

[%]

GO

[%]

noGO

[%]

GO

[%]

Alle Patienten

70

74

41

33**

55

61*

  • Niedriges Risiko

86

85

30

20*

68

73

  • Hohes Risiko

49

68*

45

27*

40

56

  • Mittleres Risiko

67

70

46

40

51

56

IR MFD SCT censored2

68

67

47

44

50

52

IR MFD SCT recipients3

73

84

38

24

60

73

1Bezogen auf drei Jahre; 2Intent-to-treat-Population; 3Transplantatempfänger nach Intensivierung I (Int I=Zyklus 3); *p≤0,1; **p≤0,01;

GO: Gemtuzumab-Ozogamicin; IR: Intermediäres Risiko; MFD: Matched family donor; noGO: Standardtherapie allein; SCT: Stammzelltransplantation;

Die Therapie wurde insgesamt gut vertragen. Bei 2% der Studienteilnehmer kam es zu Therapie-bedingten Todesfällen während der Induktion und 5% starben während der gesamten Therapiezeit. Unterschiede zwischen den beiden Studienarmen waren hier aber nicht zu verzeichnen. Zu sogenannten Lebervenen-Verschlusskrankheiten (Veno-occlusive disease, VOD), einer der schwerwiegendsten Komplikationen, kam es in 3% der Fälle, zu schweren VOD bei 0,6%. Aber auch hier gab es keinen Unterschied in den beiden Studienarmen.

Fazit

In dieser Studie konnte gezeigt werden, dass Gemtuzumab-Ozogamicin (GO) plus intensivierte Chemotherapie bei Kindern und jungen Erwachsenen mit AML das Rückfallrisiko im Vergleich zu einer alleinigen intensivierten Chemotherapie senkt. Ein Ansatz dazu, das Arzneimittel wieder verfügbar zu machen, könnte die Einsicht sein, dass AML keine einheitliche Erkrankung, sondern eine ganze Gruppe von unterschiedlichen Erkrankungen darstellt, die unterschiedliche genetische, molekulare und epigenetische Eigenschaften aufweisen und deshalb auch unterschiedlich auf die ein oder andere Therapie ansprechen. So zeigt auch diese Studie, dass GO offensichtlich bei Kindern mit neu diagnostizierter AML eine günstige Therapieoption darstellt, also anders als bei den älteren Patienten in der SWOG-106-Studie, die zur Rücknahme der Zulassung geführt hatte. Neuere Daten klinischer Studien zeigen zudem, dass auch bei älteren Patienten durch eine Modifikation der Dosis wieder ein Benefit ohne inakzeptable Toxizität erreicht werden kann [3].

Quelle

Gamis, AS et al. Gemtuzumab ozogamacin (GO) in children with de novo acute myeloid leukemia (AML) improves event-free survival (EFS) by reducing relapse risk – results from the randomized phase III children´s oncology group (COG) trial, AAML0531. ASH 2013, abstract 355.

Literatur

1. Cooper et al. AAML03P1, a pilot study of the safety of gemtuzumab ozogamicin in combination with chemotherapy for newly diagnosed childhood acute myeloid leukemia: a report from the Children’s Oncology Group. Cancer 2012;118:761-9.

2. Petersdorf S et al. (2009) Preliminary results of Southwest Oncology Group Study S0106: An international intergroup phase 3 randomized trial comparing the addition of gemtuzumab ozogamicin to standard induction therapy versus standard induction therapy followed by a second randomization to post-consolidation gemtuzumab ozogamicin versus no additional therapy for previously untreated acute myeloid leukemia. Blood 114(abstr 790):326.

3. Vasu S, Blum W. Emerging immunotherapies in older adults with acute myeloid leukemia. Curr Opin Hematol 2013;20:107–14.

Arzneimitteltherapie 2014; 32(06)