Kerstin Hellwig, Robert Höpner und Ralf Gold, Bochum
An multipler Sklerose erkranken vornehmlich junge Erwachsene, in Deutschland gibt es mindestens 180000 Menschen mit multipler Sklerose (MS). Der Verlauf beginnt meist schubförmig, geht aber bei einem Großteil der Patienten in einen sekundär chronisch progedienten Verlauf über. Primär chronisch progrediente Verläufe sind mit 10% selten [7]. Ziel der generellen Behandlung der MS ist das Verhindern von Schüben und damit eine Reduktion der Akkumulation von bleibender Behinderung.
Natalizumab (Tysabri®) ist seit 2006 in der Behandlung der hochaktiven multiplen Sklerose in Deutschland zugelassen. „Hochaktiv“ ist definiert durch persistierende Krankheitsaktivität trotz einer Basistherapie (in der Regel mit Interferon beta, Glatirameracetat, Dimethylfumarat oder Teriflunomid) oder bei therapienaiven Patienten, wenn mindestens zwei Schübe im Jahr vor Beginn der Therapie mit Natalizumab auftraten. Natalizumab weist einen schnellen Wirkungseintritt auf und ist in einer Dosierung von 300 mg alle vier Wochen zugelassen, mit welcher Plasmaspiegel von ungefähr 110 µg/ml (±52 µg/ml) erreicht werden [9]. Durch Austauschverfahren (Plasmapherese oder Immunadsorption) kann Natalizumab nach fünf Zyklen effektiv ausgewaschen werden [20].
Natalizumab ist ein humanisierter monoklonaler Antikörper gegen Alpha4-Integrine (VLA 4), die sich vornehmlich auf der Oberfläche von Lymphozyten befinden. Durch die Blockade dieser Adhäsionsmoleküle wird der Übertritt aktivierter Lymphozyten ins zentrale Nervensystem verhindert [35] (Abb. 1). Klinisch äußerte sich der Effekt in einer 95%igen Reduktion Gadolinium aufnehmender Läsionen, einer 68%igen Reduktion der Schubrate und 42%igen Reduktion von Behinderungsprogression in der zur Zulassung führenden Studie. Frei von jeglicher Krankheitsaktivität waren 37% der mit Natalizumab behandelten Patienten im Vergleich zu 9% der Plazebo-behandelten Patienten [26, 27]. Die Ergebnisse der Zulassungsstudie stimmen mit weiteren Studien und zahlreichen Erfahrungen aus dem klinischen Alltag nach der Zulassung überein [4, 24, 32]. Obwohl Natalizumab für die Behandlung von Kindern nicht offiziell zugelassen ist, gibt es mehrere Fallserien, die die Wirksamkeit auch bei Kindern bestätigen [13, 21].

Abb. 1. Wirkungsmechanismus von Natalizumab; Natalizumab blockiert die Bindung an die Adhäsionsmoleküle VCAM-1 und verhindert somit den Übertritt von aktivierten Immunzellen über die Blut-Hirn-Schranke in das zentrale Nervensystem [mod. nach einer Vorlage von Biogen Idec]
Natalizumab ist insgesamt ein gut verträglicher Arzneistoff [4, 26, 27]. Eine der häufigsten unerwünschten Wirkungen besteht in leichten Infusionsreaktionen mit Abgeschlagenheit und Erschöpfung, die oft nur ein bis zwei Tage nach Infusion persistiert. Schwere Infusionsreaktionen, im Sinne schwerer, anaphylaktoider Reaktionen treten selten (ca. 1%), und meist während der zweiten Infusion auf. Die Gefahr schwerer allergischer Infusionsreaktionen ist größer, wenn neutralisierende Antikörper vorliegen, die bei 9 bis 12% transient und bei 6% der Behandelten persistierend vorkommen [26]. In Deutschland können neutralisierende Antiköper zentral im Speziallabor der Neurologischen Klinik des St. Josef Hospitals bestimmt werden. Neutralisierende Antikörper sollten bei allen mit Natalizumab behandelten Patienten bestimmt werden, da bei positivem Antikörperstatus die Gefahr allergischer Reaktionen und die eines Wirkverlusts groß sind. Natalizumab darf in diesem Fall nicht mehr gegeben werden.
Die ansonsten in der Fachinformation am häufigsten angegebenen unerwünschten Wirkungen sind Harnwegsinfekte, Pharyngitiden, Urtikaria, Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Gelenkschmerzen, Fieber und Muskelsteifheit [9]. Zur ausführlicheren Information sei auf die Webseite des Kompetenznetzes Multiple Sklerose und den aktuellen Therapieleitfaden zu Natalizumab verwiesen. Auf dieser Seite finden sich, neben vielen anderen nützlichen Informationen zur Therapie der MS, auch aktuelle Aufklärungsformulare für die Behandlung mit Natalizumab [siehe 31].
Die schwerste unerwünschte Wirkung, welche erst beobachtet wurde, nachdem die Zulassungsstudien schon abgeschlossen waren [22], ist das gehäufte Auftreten von Fällen mit progressiver multifokaler Leukenzephalopathie [5], die aufgrund der Schwere und Wichtigkeit im Folgenden ausführlicher besprochen werden soll.
Progressive multifokale Leukenzephalopathie
Die progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) ist eine opportunistische Infektion der weißen Hirnsubstanz mit dem John-Cunningham-Virus (JCV) [10]. Die Erkrankung wurde erstmals von Astrom und Kollegen im Jahre 1958 beschrieben. Sie berichteten über Patienten mit lymphatischer Leukämie sowie Morbus Hodgkin, die an dieser Infektion des zentralen Nervensystems erkrankten [1]. Erst später konnte beim Indexpatienten John Cunningham das Virus nachgewiesen werden. Das JCV ist ein doppelstrangiges DNA-Virus aus der Familie der Polyomaviren.
Inzidenz
Nach der typischerweise asymptomatischen Erstinfektion verbleibt das Virus in den Nieren sowie im Knochenmark und kann erst im Rahmen einer Immunsuppression reaktiviert werden [12]. Daher erkrankten bis zur Markteinführung von Natalizumab hauptsächlich Tumorpatienten sowie HIV-positive Menschen an einer PML [12].
Seit der Zulassung von Natalizumab sind bis Juni 2013 weltweit 452 PML-Erkrankungen während einer Natalizumab-Therapie von MS-Patienten aufgetreten. Dies entspricht einer Inzidenz von 3,64 pro 1000 Patienten (95%-Konfidenzintervall [KI] 3,32–3,99). Berücksichtigt man die vom Hersteller zur Verfügung gestellten Inzidenzen, kann ein signifikanter Anstieg seit 2005 ausgemacht werden:
- 2005: 1 pro 1000 Patienten (95%-KI 0,2–2,8)
- 2012: 2,1 pro 1000 Patienten (95%-KI 1,6–2,78)
- Juni 2013: 3,13 pro 1000 Patienten (95%-KI 2,82–3,46)
- November 2013: 3,4 pro 1000 Patienten (95%-KI 3,08–3,74).
Symptomatik
Die Symptome einer PML können manchmal als MS-Symptome fehlinterpretiert werden [5]. Im Folgenden sollen anamnestische sowie körperliche Befunde, die entweder für eine PML oder für einen MS-Schub sprechen, ausführlich diskutiert werden.
Sehstörungen im Sinne kortikaler Ausfallsymptome mit nachweisbarer Quadranten-/Hemianopsie traten in der Fallserie von Clifford und Kollegen in 8 von 28 Natalizumab-PML-Patienten auf [5]. Patienten mit Optikusneuritis, typisch bei MS, weisen normalerweise eine Farbentsättigung, eine unspezifische Visusstörung sowie einen Augenbewegungsschmerz auf und kommen bei der PML nicht vor.
Im Gegensatz hierzu tritt eine plötzliche neuropsychologische Verschlechterung bereits früh im Erkrankungsverlauf der PML auf und betrifft initial mindestens ein Drittel der Erkrankten [13]. Hirnleistungsstörungen scheinen ein häufiges und frühes Symptom einer PML zu sein und sollten bei abruptem Beginn den Verdacht auf diese lenken.
Epileptische Anfälle treten bei MS-Patienten mit einer Inzidenz von 3,2% auf. Sie sind jedoch deutlich häufiger unter einer PML. Clifford und Kollegen konnten Anfälle in 36% der von ihnen beschriebenen Natalizumab-PML-Patienten ausmachen [5]. Ebenso treten epileptische Anfälle bei Natalizumab-PML-Patienten häufiger als bei HIV-positiven PML-Patienten (ca. 18%) auf [23] und können besonders schwer verlaufen. So konnte unsere Arbeitsgruppe in einer monozentrischen Natalizumab-PML-Kohorte (n=15) epileptische Anfälle in 8 (53%) der 15 Patienten nachweisen [18]. In sieben dieser acht Patienten kam es zu Anfallsserien oder aber einem Status epilepticus mit konsekutiver Intensivpflichtigkeit. Auch die ansonsten eher seltene Epilepsia partialis continua kann regelhaft bei PML-Patienten beobachtet werden. Hierbei kommt es vor allem zu kontinuierlichen monomorphen motorischen Entäußerungen eines Körperteils. Gehäuft tritt sie im Bereich einer vorbestehenden Parese auf. Wir fanden eine zeitliche Assoziation zwischen den epileptischen Anfällen und dem Auftreten eines IRIS-Syndroms (IRIS: Immune reconstitution inflammatory syndrome) [18]. Diese Assoziation kann den Unterschied in der Anfallshäufigkeit zwischen Natalizumab-PML- und HIV-positiven PML-Patienten erklären, da Letztere wegen des massiv geschädigten Immunsystems seltener ein IRIS durchleben (Tab. 1).
Tab. 1. Übersicht über häufige PML Symptome in Abgrenzung zu Schüben
Symptom |
Spricht für PML |
Spricht für MS-Schub |
||
PML |
Anmerkung |
MS-Schub |
Anmerkung |
|
Kortikale Sehstörungen |
X |
Clifford et al. 8 von 28 PML-Patienten [5] |
||
Neuritis N. optici |
X |
Typische Klinik: Farbentsättigung, Augenbewegungsschmerz, monokuläre Visusminderung |
||
Myelitisches Syndrom |
X |
Sensibler/motorischer Querschnitt, Blasen-/Darmentleerungsstörung |
||
Neuropsychologische Veränderung |
X |
Häufiges Frühsymptom [27] |
||
Epileptische Anfälle |
X |
36–53% [61, 65] mit häufigen Status epileptici [18] |
||
Zentrale Parese |
X |
X |
Diagnosesicherung der PML
Tritt ein neues atypisches Schubsymptom bei einem mit Natalizumab behandelten MS-Patienten auf, sollte umgehend eine Magnetresonanztomographie (MRT) durchgeführt werden. Neben der klinischen Präsentation wird die Kernspintomographie bei der Diagnosesicherung einer PML weiterhelfen. PML-Läsionen sind hyperintens in der T2- oder Diffusions- und hypointens in der T1-Wichtung. Sie liegen subkortikal vor allem in den U-Fasern, lassen sich scharf vom Kortexband abgrenzen und weisen keinen verdrängenden Masseneffekt auf [36] (Abb. 2).

Abb. 2. MRT-Aufnahmen von PML-Läsionen (FLAIR [Fluid attenuated inversion recovery] transversal)
Sofern sich der PML-Verdacht stellt, sollte eine diagnostische Lumbalpunktion folgen. Hierbei weist die Polymerasekettenreaktion (PCR) für JCV-DNA im Liquor eine Sensitivität von 74 bis 92% und Spezifität von 92 bis 100% auf [28]. Es sollte bei dringendem klinischem Verdacht gegebenenfalls eine Repunktion erfolgen. Ein Referenzlabor (z.B. Virologie der Universitätsklinik Düsseldorf) sollte gewählt und gegebenenfalls bei wiederholt negativen Ergebnissen eine Hirnbiopsie eingeleitet werden. Bereits bei klinischem PML-Verdacht muss die Natalizumab-Therapie pausiert werden und erst nach sicherem PML-Ausschluss kann sie wieder begonnen werden.
Sollte eine PML diagnostisch gesichert sein, führen wir in Bochum eine weiterführende standardisierte Therapie, die im Folgenden weiter erläutert wird, durch.
Therapie der Natalizumab-assoziierten PML im St.-Josef- und St. Elisabeth-Hospital in Bochum
Eine spezifische virostatische PML-Therapie existiert nicht. Hauptziel ist das Erreichen von Immunkompetenz. Nach Absetzen des Natalizumab erfolgen fünf Blutwäschebehandlungen (Immunadsorption und Plasmapherese im Wechsel). Hierdurch wird die Natalizumab-Clearance erhöht und es kommt schneller zu einem klinischen Wirkungsverlust der VLA4-Blockade [20]. Weiterführend leiten wir eine Therapie mit Mefloquin (250 mg/Woche) und Mirtazapin (30–60 mg/Woche) ein. Beide Arzneistoffe konnten im Labor eine gewisse Effektivität gegen den JCV nachweisen. Eine klinische Bestätigung der Ergebnisse gelang bislang, eventuell wegen der zugrunde liegenden inhomogenen Studienpopulation, nicht [6]. Wegen der bereits oben angeführten Häufung epileptischer Anfälle vor allem während der IRIS-Phase erfolgt in unserem Hause eine präventive Therapie der PML-Patienten mit einem Antiepileptikum (z.B. Levetiracetam in einer Dosierung von 1000 bis 1500 mg pro Tag). Hierdurch konnte die Häufigkeit epileptischer Anfälle während der Akutphase signifikant gesenkt werden [18]. Die medikamentöse Therapie (Mirtazapin, Mefloquin, präventive antiepileptische Medikation) sollte bis zum Nachweis der Viruselimination (negative PCR im Liquor) und klinischer Stabilität im Erkrankungsverlauf fortgeführt werden. Neben dieser Basistherapie erfolgt eine Therapie der IRIS nach klinischem Bedarf. Wir führen daher regelmäßige MRT-Kontrollen durch und leiten einen Cortison-Puls in Abhängigkeit von einer nachgewiesenen Kontrastmittelaufnahme im MRT mit zusätzlich vorliegender klinischer Verschlechterung in einer Dosierung zwischen 500 bis 1000 mg Methylprednisolon pro Tag über drei bis maximal fünf Tage ein. Bis heute haben wir mit diesem Regime in unserer Klinik 26 PML-Patienten behandelt, von denen nur einer an einer massiven infratentoriellen PML-Läsion verstorben ist. Im Vergleich mit der weltweiten PML-Mortalität von etwa 20%, erscheint das von uns favorisierte Therapieregime bezüglich Überleben deutlich bessere Ergebnisse zu haben.
Prävention der PML
Neben der Notwendigkeit der klinischen Vigilanz zur Früherkennung einer PML stellt die PML-Prävention eine weitere zentrale Säule der Natalizumab-PML-Therapie dar. Hierfür wurden bereits Risikostratifizierungen publiziert und weitere Risikomarker sind in Entwicklung, sodass mit einer Verbesserung der Risikostratifizierung zukünftig gerechnet werden kann. Das jeweils aktuelle Risikoprofil ist über die Internetseite des Herstellers [siehe 2] zu beziehen. Im Folgenden sollen zuerst die etablierten Risikofaktoren für eine PML unter Natalizumab-Therapie und anschließend die in Etablierung befindlichen Risikofaktoren diskutiert werden.
Der wichtigste Risikoparameter für eine PML ist der JCV-Antikörperstatus. Das PML-Risiko in JCV-Antikörper-negativen Patienten bleibt über die Jahre unabhängig von der Konstellation der beiden anderen etablierten Risikofaktoren niedrig (0,1 pro 1000 Patienten, 95%-KI 0,01–0,35; Vortherapie mit einem Immunsuppressivum und Expositionsdauer mit Natalizumab) (Abb. 3). 57,6% der MS-Patienten und auch der Normalbevölkerung sind im Mittel JCV-Antikörper-positiv [25]. Die JCV-Prävalenz ist signifikant höher bei Männern, steigt mit dem Alter an und ist unabhängig von einer immunsuppressiven Vortherapie (Serokonversionsrate pro Jahr 1 bis 2%) [14]. Daher sollte der Antikörperstatus bei JCV-negativen Patienten unter Natalizumab-Therapie regelmäßig kontrolliert werden, um eine Serokonversion zu erkennen. Möglicherweise hängt die Höhe des JCV-Antikörpertiters mit dem PML-Risiko positiv zusammen [34]. Ein Grund hierfür könnte sein, dass der Antikörpertiter im Serum kurz vor dem klinischen Beginn der PML steigt und somit als Ausdruck der JCV-Reaktivierung gewertet werden kann.

Abb. 3. Dreistufiger Algorithmus zur statistischen PML-Risikoeinschätzung. PML-Inzidenz in Fällen pro 1000 Natalizumab-exponierte Patienten [mod. nach 3]. Bislang identifizierte Risikofaktoren sind immunsuppressive Vorbehandlung, Dauer der Therapie mit Natalizumab (>2 Jahre) und der Nachweis von Antikörpern gegen das JC-Virus. Bei gleichzeitigem Vorliegen aller drei Risikofaktoren, kann sich das Risiko auf bis zu 1:90 erhöhen. IS: Immunsuppressivum; KI: Konfidenzintervall
Die Vorbehandlung mit einem Immunsuppressivum ist ebenfalls ein allgemein anerkannter Risikofaktor [3]. Es konnte gezeigt werden, dass in Patienten mit einer immunsuppressiven Vortherapie das PML-Risiko drei- bis vierfach erhöht ist. Ebenso erscheint dieser Risikofaktor unabhängig von der Art des Immunsuppressivums und der Dauer der Vortherapie zu sein. Die Natalizumab-Therapiedauer konnte als relevanter Einflussfaktor ausgemacht werden. Das PML-Risiko ist im ersten Jahr am niedrigsten (0,06; 95%-KI 0,02–0,12) und steigt in den ersten 24 Monaten langsam an. Ab dem dritten Therapiejahr kommt es zu einem Inzidenzsprung auf 1,84 pro 1000 Patienten (95%-KI 1,53–2,21) mit abermaligem leichtgradigem Anstieg bis zum 5. Therapiejahr (2,33; 95%-KI 1,82–2,92).
Andere Risikofaktoren, die zukünftig an Bedeutung gewinnen könnten, wie niedriges Körpergewicht sowie die L-Selectin-Expression, werden noch nicht in breitem Ausmaß zur Risikostratifizierung eingesetzt, da große Validierungsstudien fehlen [29]. Foley und Kollegen konnten herausarbeiten, dass ein niedrigeres Körpergewicht mit einem höheren PML-Risiko assoziiert ist. Dies kann sicherlich in Teilen über die Serumkonzentration des Natalizumab erklärt werden, welche bei Infusion der gleichen Dosierung (300 mg pro vier Wochen) und zugleich unterschiedlichem Verteilungsvolumen beziehungsweise Körpergewicht verschieden ausfallen dürfte. Ein weiterer Risikoparameter, der zuletzt mehr Beachtung gefunden hat, ist die L-Selectin-Expression auf Lymphozyten [29]. Schwab und Kollegen aus der Universitätsklinik in Münster konnten in PML-Patienten vor Erkrankungsbeginn eine neunfach erniedrigte L-Selectin-Expression im Vergleich zu Nicht-PML-Patienten nachweisen [29]. Eine Reevaluation dieser Ergebnisse an größeren Kollektiven sollte noch erfolgen, um den Stellenwert besser abschätzen zu können.
Prognose der PML
Weltweit versterben 20 bis 30% der an einer Natalizumab-assoziierten PML erkrankten Patienten [33]. Von den Patienten, die nicht versterben, weisen ein Drittel der Patienten leichte Defizite, ein Drittel moderate und ein weiteres Drittel schwere Defizite auf. Wir fanden bei 15 unserer PML-Fälle einen mittleren Anstieg um 3 EDSS-Punkte (EDSS: Expanded disability status scale, 0–10) nach 21,5 Monaten Nachbeobachtungszeit bei niedriger Mortalität (0/15) [8]. Bis heute haben wir 26 Natalizumab-PML-Patienten behandelt, von denen einer an einer zentralen Atemlähmung bei massiver Beteiligung des Hirnstamms verstorben ist.
Der bislang einzige identifizierte und modellierbare Risikofaktor für einen ungünstigen Erkrankungsverlauf ist die Zeit zwischen Symptombeginn und korrekter Diagnosestellung. Vermersch und Kollegen konnten einen Unterschied von 18,6 Tagen zwischen den fatalen und nichtfatalen Natalizumab-PML-Erkrankungen feststellen [33]. Dies konnte in unserer Kohorte eventuell aufgrund der geringeren Fallzahl jedoch nicht bestätigt werden (mittlere Dauer bis zur Diagnosestellung: 30 Tage, Minimum: ein Tag, Maximum: 112 Tage). Unter Berücksichtigung dieses modulierbaren prognoserelevanten Einflussfaktors erscheint die Bedeutung der klinischen Vigilanz und der PML-Risikostratifizierung immens.
Zwischenfazit
Zusammenfassend ist die PML eine schwerwiegende Nebenwirkung der Natalizumab-Therapie. Die Prävention mittels Risikostratifizierung zusammen mit der klinischen Vigilanz zur Früherkennung repräsentieren heute die wichtigsten Faktoren zur Modulation des Erkrankungsverlaufs einer PML. Weiterführend ist es wünschenswert, dass PML-Patienten in erfahrenen Zentren standardisiert betreut werden. Nur hierdurch kann sich zukünftig das Wissen über diese seltene Erkrankung mit positiven Auswirkungen auf ihre Therapie und Verlauf vermehren.
Absetzen von Natalizumab
Nach Absetzen von Natalizumab kommt es, meist nach vier bis sechs Monaten zu einer Wiederkehr der Krankheitsaktivität, in der Regel wird das Krankheitsniveau von vor der Behandlung erreicht [11]. Es sind aber auch einige (schwere) Reboundverläufe beschrieben [15, 30].
Eine besondere Lebenssituation, in der Arzneimitteltherapien abgesetzt werden, ist die Schwangerschaft. Obwohl die Schwangerschaft meist zu einer signifikanten Schubreduktion bei Frauen mit MS führt [17], können nach Absetzen von Natalizumab auch in der Schwangerschaft schwere Schübe auftreten. Eine Behandlung mit Natalizumab in der Schwangerschaft ist dennoch möglich, sollte aber Einzelfällen vorbehalten sein, da bei einem Teil der Neugeborenen hämatologische Auffälligkeiten im Sinne einer Anämie und Thrombozytopenie auftreten können [16]. Leider sind Prädiktoren für schwere Reboundverläufe bislang nicht identifiziert. Ebenso ist die beste therapeutische Strategie nach Beendigung der Natalizumab-Therapie zur Krankheitsaktivitätskontrolle noch unklar; Steroide und Basistherapeutika beeinflussen die Krankheitsaktivität nicht [11], während Fingolimod – zumindest bei einem Teil der Patienten – die Wiederkehr der Krankheitsaktivität verhindern kann [19].
Fazit
Zusammenfassend ist Natalizumab ein potenter Arzneistoff in der Behandlung der multiplen Sklerose. Die gute generelle Verträglichkeit und einmalige Gabe im Monat fördern die Adhärenz der Patienten. Leider liegt im Auftreten der PML eine ernst zu nehmende und schwerwiegende Komplikation, für die bessere Tests zur Risikoselektion dringend benötigt werden.
Interessenkonflikterklärung
KH hat Forschungsunterstützung und Vortragshonorare von Bayer, Biogen, Teva, Merck, Novartis und Genzyme erhalten.
RH hat Forschungs- und Reiseunterstützung von Biogen Idec und Novartis erhalten.
RG hat Redner- und Beraterhonorare sowie Forschungsunterstützung von Bayer, Biogen Idec, Genzyme, MerckSerono, Novartis, Sanofi-Aventis und TEVA erhalten.
Links zum Thema
www.biogenidec-international.com
Informationen des Herstellers zum Risikoprofil für PML unter Natalizumab
www.kompetenznetze-medizin.de/Netzwerke/NeurologischeErkrankungen/MultipleSklerose.aspx
Informationen zur unerwünschen Arzneimittelwirkungen unter Natalizumab
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Priv.-Doz. Dr. Kerstin Hellwig, Neurologische Klinik, Ruhruniversität, St.-Josef- und St. Elisabeth-Hospital gGmbH, Gudrunstraße 56, 44791 Bochum, E-Mail: k.hellwig@klinikum-bochum.de
Dr. med. Robert Höpner, Prof. Dr. med. Ralf Gold, Neurologische Klinik, Ruhruniversität, St.-Josef- und St. Elisabeth-Hospital gGmbH, Gudrunstraße 56, 44791 Bochum
Progressive multifocal leukoencephalopathy during therapy with natalizumab: prevention, diagnosis, treatment
Natalizumab is a monoclonal antibody against VLA4, which is authorized in Germany for the treatment of multiple sclerosis since 2006. Treatment with Natalizumab may lead to an impressive reduction of disease activity. natalizumab is overall well tolerated. Due to the 4-weekly application intervals adherence is also very good. The most severe adverse effect during therapy is the incidence of a rare opportunistic brain infection: progressive multifocal leukoencephalopathy (PML). Risk factors for the development of a PML are treatment longer than two years, immunosuppressive previous treatments and antibodies against the JC virus.
Key words: Progressive multifocal leukoencephalopathy, PML, JC virus, prevention, diagnosis, treatment, natalizumab
Arzneimitteltherapie 2014; 32(09)