Martin Storr, München, Prof. Dr. Martin Storr, München
Vedolizumab ist ein humanisierter Antikörper gegen das α4β7-Integrin. Integrine sind Adhäsionsmoleküle, die auf der Oberfläche von Lymphozyten exprimiert werden und die Bindung von Lymphozyten mit dem Epithel vermitteln, bevor diese aus dem Blut in das Gewebe eindringen. Dabei ist das α4β7-Integrin ein Oberflächenprotein, das bevorzugt auf T-Helfer-Lymphozyten exprimiert wird, die in die Darmwand eindringen (Abb. 1). Aus dieser Selektivität heraus erklärt sich das Attribut darmselektiv. Die Reduktion der Einwanderung von T-Helfer-Lymphozyten in das entzündete Darmgewebe bewirkt eine lokale immunsupprimierende Wirkung.

Abb. 1. Wirkmechanismus Vedolizumab [Neubeck M. Vedolizumab: Monoklonale Antikörper zur Behandlung von Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn. Neue Arzneimittel. 2014;61:70–2]. Bei der Entstehung des Entzündungsprozesses spielt die α4β7-Integrin-vermittelte selektive Einwanderung proinflammatorischer Lymphozyten in die Darmwand eine entscheidende Rolle. Auf der Oberfläche der aktivierten Lymphozyten befindet sich α4β7-Integrin, das an das mukosale Adressin-Zelladhäsionsmolekül-1 (MAdCAM-1) auf Endothelzellen bindet. Dadurch kommt es zur Infiltration der pathogenen Lymphozyten ins Darmgewebe (links). Vedolizumab blockiert durch die Bindung an α4β7-Integrin auf den proinflammatorischen Lymphozyten deren Interaktion mit MAdCAM-1, wodurch die Migration in das entzündete Darmgewebe eingeschränkt wird (rechts).
Am 21.3.2014 hat die European Medicines Agency (EMA) Vedolizumab, basierend auf den GEMINI-Studien 1–3, die Zulassung erteilt [1]. In Deutschland wird Vedolizumab von der Firma Takeda unter dem Namen Entyvio® vertrieben. Der Zulassung zufolge kann Vedolizumab in der Behandlung der mittelschweren und schweren Colitis ulcerosa und dem mittelschweren und schweren Morbus Crohn bei Patienten eingesetzt werden, die auf eine konventionelle Therapie oder eine Therapie mit TNF-Blockern nicht angesprochen, einen Wirkungsverlust erlitten haben oder diese Therapien nicht tolerieren.
Wirkungen
In der GEMINI-1-Studie, die an Patienten mit einer Colitis ulcerosa durchgeführt wurde, waren in der Akuttherapie nach sechs Wochen klinisches Ansprechen, klinische Remission und Mukosaheilung der Plazebo-Therapie überlegen. Auch in der Remissionserhaltung, die nach 52 Wochen beurteilt wurde, war Vedolizumab der Plazebo-Therapie überlegen [2].
Für Morbus Crohn waren in der GEMINI-2-Studie die klinischen Daten für klinische Remission, Ansprechen und Mukosaheilung nach sechs Wochen und für klinische Remission nach 52 Wochen weniger positiv und auch nicht in allen Parametern signifikant [3]. In der GEMINI-3-Studie wurden Patienten mit einem Morbus Crohn nach Versagen einer Therapie mit einem TNF-Blocker mit Vedolizumab behandelt [4]. Hierbei waren Remissionen nach zehn, nicht aber nach sechs Wochen, häufiger, aber auch in dieser Studie waren die Ergebnisse nicht so deutlich wie in der GEMINI-1-Studie, die Patienten mit Colitis ulcerosa untersucht hat. Basierend auf diesen Daten empfiehlt sich Vedolizumab für die Therapie der Colitis ulcerosa, mit Einschränkungen auch für die Therapie des Morbus Crohn (Kasten).
Nebenwirkungen
In allen drei klinischen Studien waren unerwünschte Ereignisse, Infusionsreaktionen, schwere Infektionen und therapiebedingte Studienabbrüche auf Plazebo-Niveau. Das ist erfreulich und zunächst ein bisschen unerwartet. Natalizumab ist ein Integrin-Antikörper, der früher auch in der Indikation Morbus Crohn untersucht wurde und aktuell in bestimmten Fällen in der Indikation multiple Sklerose verwendet wird. Natalizumab wäre prinzipiell auch zur Behandlung chronisch-entzündlicher Darmerkrankungen geeignet. Aufgrund von schweren Nebenwirkungen ist dieser Therapieansatz bei den CED in Europa aber nicht zugelassen. Unter den schweren Nebenwirkungen ist insbesondere die progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML, Kasten) zu benennen. Für den Anti-Integrin-Antikörper Vedolizumab sind in den GEMINI-Studien keine Fälle einer PML beschrieben. Dies erklärt sich vermutlich aus der darmselektiven Wirkung von Vedolizumab, es gilt aber sehr aufmerksam zu bleiben, um ein etwaiges mittel- oder langfristiges PML-Risiko rechtzeitig zu erkennen.
Medizinische Perspektive
Vedolizumab ist eine erfreuliche Erweiterung der Arzneimitteltherapie der CED. Der Bedarf an neuen Therapien ist hoch. Therapieversagen auf konventionelle Therapien, Therapieversagen auf TNF-Blocker, spätes Therapieversagen nach initialem Ansprechen und TNF-Blocker-Unverträglichkeit sind nur einige der möglichen Indikationen, für die neue Arzneimittel dringend erforderlich sind. Ebenso gilt es Arzneimittel mit einem geringeren Risikoprofil, weniger Überwachungsnotwendigkeit und weniger Nebenwirkungen zu finden. Darüber hinaus wäre natürlich auch eine bessere Wirkung wünschenswert. Kein zukünftiges Arzneimittel wird all diese Wünsche erfüllen können, aber schon die Erfüllung einzelner Teilbereiche stellt für diejenigen Patienten, die es betrifft, einen Fortschritt dar. Den klinischen Studien folgend, erscheinen für Vedolizumab einige Punkte als wesentlich. Das Nebenwirkungsspektrum erscheint überschaubar und in keiner der drei Studien wurden unerwünschte Ereignisse, Infusionsreaktionen oder therapiebedingte Studienabbrüche berichtet, die über Plazebo-Niveau hinausgehen. Dies ist sehr erfreulich und verglichen zu den aktuellen konventionellen und biologischen Therapien ein bedeutender Fortschritt. Gerade die Erhöhung der Infektionsrate bei Patienten, die mit immunsuppressiven Therapien behandelt werden, ist eines der Hauptprobleme der aktuell verwendeten konventionellen Immunsuppressiva oder biologischen Behandlungen. Ob allein dieser Vorteil ausreicht, um den Stellenwert von Vedolizumab in der Therapie der CED zu etablieren, bleibt aktuell offen. Da es sich bei den CED-Therapien um Dauertherapien handelt, wird das gute Risiko- und Nebenwirkungsprofil von Vedolizumab aber sicher in Zukunft eine bedeutende Rolle in der Therapieentscheidung spielen.
Die klinischen Ergebnisse von Vedolizumab sind in der akuten Behandlung der Colitis ulcerosa den Ergebnissen anderer biologischer Therapieansätze vergleichbar, in der Behandlung des Morbus Crohn weniger überzeugend. Es ist aber auch nicht zu erwarten, dass jeder Therapieansatz bei Morbus Crohn und Colitis ulcerosa in gleichem Maße wirksam ist, da es sich um unterschiedliche Erkrankungen und Pathophysiologien handelt. Vermutlich werden auch weitere zukünftige Therapieansätze nicht bei allen CED gleich wirksam sein. Vedolizumab wird hier nur einen Schritt in die zukünftige, individuellere Therapie der CED darstellen. Für den Remissionserhalt gilt es, den klinischen Alltag abzuwarten. Die Studiendaten für den Remissionserhalt sind ein wenig enttäuschend, insbesondere wenn man bedenkt, dass die Studiendaten zum Remissionserhalt nur an denjenigen Patienten erhoben wurden, die in der sechswöchigen Induktionstherapie angesprochen haben. Das war aber nur knapp die Hälfte der eingeschlossenen Patienten. Zusätzlich war in der Remissionstherapie eine Komedikation mit Glucocorticoiden zulässig, sodass hier einige Fragen unbeantwortet bleiben.
Es ist unwahrscheinlich, dass Vedolizumab in den nächsten 12 Monaten außerhalb von CED-Zentren verwendet wird. Zunächst gilt es, Erfahrungen mit diesem neuen Arzneimittel zu sammeln, zu erfassen, ob sich die Ergebnisse aus den klinischen Studien im klinischen Alltag reproduzieren lassen, und den Stellenwert von Vedolizumab im Behandlungsalgorithmus der CED zu etablieren. Vermutlich wird Vedolizumab bei denjenigen Patienten eingesetzt, bei denen Anti-TNF-Strategien versagt haben. Den Ergebnissen der klinischen Studien folgend bietet es sich auch an, Vedolizumab zunächst bei Patienten mit Colitis ulcerosa einzusetzen. Prinzipiell ist aber auch ein Einsatz bei Morbus Crohn zulässig. Aufgrund des Mangels an Alternativen, bei Patienten mit einem Anti-TNF-Therapieversagen, wird sich Vedolizumab in dieser Indikation auch etablieren, sofern sich im klinischen Alltag die Ergebnisse aus den klinischen Studien reproduzieren lassen. Es ist unwahrscheinlich, dass Vedolizumab vor TNF-Blockern von Anfang an als Primärmedikation eingesetzt wird, da hier die klinische Wirksamkeit eher schwächer als bei anderen biologischen Therapien erscheint. Es wäre aber ausgesprochen interessant, eine klinische Studie zu sehen, die eine Therapie mit Vedolizumab mit einer Anti-TNF-Therapie vergleicht. Aufgrund der darmselektiven Wirkung sind aber einzelne Indikationen denkbar, bei denen Vedolizumab in der Primärtherapie zum Einsatz kommen könnte. Zum Beispiel erscheint die Therapie mit Vedolizumab als eine mögliche Alternative bei Patienten mit einer latenten Tuberkulose, bei denen die Gefahr besteht, dass TNF-Blocker die ruhende Tuberkulose reaktivieren.
Politische Perspektive
Parallel zum Sammeln der ersten klinischen Erfahrungen wird der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) das nach dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) erforderliche Nutzenbewertungsverfahren durchführen. Anfang 2015 werden wir erst wissen, ob Vedolizumab ein Zusatznutzen zuerkannt wird und ob wir dieses Arzneimittel, falls es aus Sicht des verordnenden Arztes Erfolg versprechend ist, weiterhin verschreiben können. In etwa zeitgleich werden dann auch die ersten, vermutlich deutlich preiswerteren, TNF-Blocker-Biosimilars zur Behandlung der CED zur Verfügung stehen. Obwohl bei den Biosimilars noch einige Fragen offen sind, werden sie sicherlich das Preisgefüge in der CED Therapie deutlich beeinflussen. Insofern wird es spannend werden, zu beobachten, wie sich dann das Verordnungsverhalten in spezialisierten Zentren und in der ambulanten Medizin verändern wird. Vedolizumab ist sicher nicht der große Durchbruch in der Therapie der CED, diese Messlatte erscheint auch zu hoch. Aufgrund der Vorteile, die Vedolizumab mit sich bringt, wird dieses neue Arzneimittel aber sicher einen Platz in den Algorithmen zur CED-Therapie finden.
Interessenkonflikterklärung
MS gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
Literatur
1. European Medicines Agency (press release). EMA recommends approval of a locally targeted treatment for ulcerative colitis and Crohn’s disease. 21 March 2014; EMA/169535/2014.
2. Feagan BG, Rutgeerts P, Sands BE, et al.. Vedolizumab as induction and maintenance therapy for ulcerative colitis. N Engl J Med 2013;369:699–710.
3. Sandborn WJ, Feagan BG, Rutgeerts P, et al. Vedolizumab as induction and maintenance therapy for Crohn’s disease. N Engl J Med 2013;369:711–21.
4. Sands BE, Feagan BG, Rutgeerts P, et al. Effects of vedolizumab induction therapy for patients with Crohn’s disease in whom tumor necrosis factor antagonist treatment failed. Gastroenterology 2014;147:618–627.
Prof. Dr. Martin Storr, Medizinische Klinik II der Ludwig-Maximilians-Universität München, Klinikum Großhadern, Marchioninistraße 15, 81377 München, E-Mail: gidoc@gmx.com
Arzneimitteltherapie 2014; 32(11)