Gerd Laux, Haag i.OB/München
Das neuartige Antidepressivum Vortioxetin ist seit einem Jahr durch die US-amerikanische FDA und seit Dezember 2013 durch die europäische Behörde EMA unter dem Handelsnamen Brintellix® zugelassen. In den USA wurden bislang etwa 40000 Patienten mit Vortioxetin behandelt, in Deutschland entscheidet der Hersteller in Kürze über die Einführung.
Vortioxetin wird aufgrund seines neuartigen pharmakologischen Profils der Klasse der multimodalen Antidepressiva zugeordnet, da es unterschiedliche pharmakologische Wirkungsmechanismen besitzt, nämlich einen 5-HT3-, 5-HT7- und 5-HT1D-Rezeptorantagonismus, einen 5-HT1B-Rezeptorpartialagonismus, einen 5-HT1A-Rezeptoragonismus und zugleich eine Inhibition des 5-HT-Transporters [1, 8].
Kognitive Defizite bei Depression
Die Entwicklung neuer Antidepressiva ist unbedingt angezeigt, da nach wie vor relativ hohe Non-Response-Raten zu verzeichnen sind und bei etwa einem Drittel der depressiven Patienten eine „Therapieresistenz“ auf Antidepressiva besteht [5]. Des Weiteren wurde versucht, Antidepressiva zu entwickeln, die besondere Wirkeffekte auf bestimmte Depressionssymptome im Sinne von Zielsymptomen entfalten. So kommt Agomelatin bei Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus zum Einsatz und Duloxetin bei Schmerzsymptomatik.
Kognitive Funktionseinbußen gehören zu den Kernsymptomen der Depression, sie führen zu längeren Episodendauern und zählen zu den häufigsten Residualsymptomen der Depression [11]. Im modernen Alltagsleben werden hohe Anforderungen an die kognitive und psychomotorische Leistungsfähigkeit gestellt (z.B. Bedienung von Bank- oder Fahrkarten-Automaten, von PC und Smartphone sowie Internet-Nutzung, Bedienung komplizierter Maschinen, Fahrtauglichkeit) [4]. Die vom Patienten oft mit hoher Betroffenheit realisierten kognitiven Beeinträchtigungen mindern seine Lebensqualität und sein soziales Funktionsniveau in erheblichem Maße und stellen ein Rezidivrisiko dar. Die empirische Datenlage bezüglich kognitiver Dysfunktionen bei Depressionen ist spärlich, die bestmöglichen therapeutischen Interventionen sind im Experimentierstadium [9].
Für Vortioxetin werden besonders günstige Effekte auf kognitive Funktionen postuliert, auf diesbezügliche Studien wird im Folgenden hauptsächlich eingegangen. Übersichten zu den Studien finden sich bei [7] und im Beitrag Koczorek in diesem Heft [3].
Kommentar: Vortioxetin
Die Zulassung basiert auf zehn Kurzzeitstudien über jeweils sechs bis acht Wochen mit 429 bis 766 Teilnehmern sowie einer Langzeitstudie zur Rezidivprävention. Vortioxetin wurde unter anderem gegenüber Plazebo, Agomelatin, Venlafaxin und Duloxetin geprüft. Die Plazebo-Überlegenheit war zumeist deutlich (Responseraten unter Vortioxetin 45–68%, unter Plazebo 23–45%).
In einer Vergleichsstudie war Vortioxetin Agomelatin signifikant überlegen – methodisch ist allerdings zu berücksichtigen, dass in diese Studie SSRI-Non-Responder eingeschlossen wurden, sodass in der Agomelatin-Gruppe Absetzeffekte (auch erkennbar an der höheren Abbruchrate) für das schlechtere Ergebnis von Bedeutung gewesen sein können.
Die Studie versus Duloxetin bei Altersdepressionen zeigt die bekannt längere Wirklatenz bei älteren Depressiven (signifikant erst nach 6 Wochen), die Responseraten lagen für Vortioxetin bei 53%, für Duloxetin bei 63% wobei der Arbeit nicht zu entnehmen ist, ob es sich um eine LOCF- oder um eine Completer-Analyse handelt.
Vortioxetin war deutlich besser verträglich, vor allem zeigten sich deutlichere kognitive Verbesserungen in den neuropsychologischen Testverfahren DSST und RALVT (jeweils p<0,0001) [6]. Die durchgeführte Pfadanalyse ergab direkte Kognitionseffekte (Verarbeitungsgeschwindigkeit, verbales Lernen und Gedächtnis) für Vortioxetin von 83%, für Duloxetin von 26%.
In der Venlafaxin-Vergleichsstudie (225 mg/Tag) zeigten sich für beide Substanzen eine hochsignifikante Verbesserung (Rückgang MADRS-Score 5,9 für Vortioxetin vs. Plazebo; Responserate Vortioxetin 68%, Venlafaxin 72%, Plazebo 45%).
Fahrtauglichkeit
Ein praxisrelevantes Beispiel für die kognitive (und psychomotorische) Leistungsfähigkeit sind Fahrtauglichkeitsuntersuchungen [4]. Von der renommierten Gruppe um Ramaekers, Universität Maastricht, wurde mit dem in der Fahrtauglichkeitstestung etablierten „Standard Highway Driving Test“ eine randomisierte, doppelblinde, Plazebo-kontrollierte Cross-over-Studie mit 21 gesunden, jungen Probanden mit Vortioxetin versus Mirtazapin durchgeführt [10]. Hierbei werden Spurabweichungen im normalen Straßenverkehr über eine Fahrstrecke von 100 km elektronisch gemessen, zusätzlich wurden kognitive Tests wie Tracking, visuelle Reaktionszeit und geteilte Aufmerksamkeit eingesetzt. Die Gabe von 10 mg Vortioxetin bzw. 30 mg Mirtazapin bzw. Plazebo erfolgte über 15 Tage mit Plasmaspiegelkontrolle (TDM). Die Messergebnisse unter Vortioxetin entsprachen denen unter Plazebo, während an Tag zwei unter Mirtazapin signifikante Verschlechterungen zu registrieren waren. Die Autoren empfehlen deshalb hinsichtlich Fahrtauglichkeit nichtsedierende Antidepressiva und halten ihre Vortioxetin-Ergebnisse für auf Patienten übertragbar. Eine aktuelle Übersicht zum Thema Antidepressiva und Fahrtauglichkeit findet sich bei [4].
Sicherheit
Häufigste Nebenwirkung von Vortioxetin ist eine Serotonin-typische Übelkeit [7]. Das Risiko einer sexuellen Dysfunktion ist gering. Die sexuelle Dysfunktion von Patienten nach SSRI-Monotherapie (n=447) besserte sich in einer Vergleichsstudie mit Vortioxetin statistisch signifikant im Vergleich zu 10–20 mg/Tag Escitalopram [2]. Praxisrelevant sind die fehlende Gewichtserhöhung und fehlende Effekte auf EKG, Blutdruck, Herzfrequenz, Leber- und Nierenwerte.
Interessenkonflikterklärung
GL hat Honorare für Kongressteilnahmen, Vorträge, wissenschaftliche Tätigkeit in Advisory/Expert Boards und Drittmittel für Forschung erhalten von den Firmen Janssen-Cilag, Lundbeck, Merz, Otsuka und Servier.
Abkürzungsverzeichnis
DSST |
Digit symbol substitution test |
EMA |
European medicines agency |
FDA |
Food and drug administration |
LOCF |
Last observation carried forward |
MADRS |
Montgomery-Åsberg depression rating scale |
RALVT |
Rey auditory verbal learning test |
TDM |
Therapeutic drug monitoring |
Literatur
1. Bang-Andersen B, Ruhland T, Jorgensen M, et al. Discovery of 1-[2-(2,4-dimethylphenylsulfanyl)phenyl]piperazine (Lu AA21004): a novel multimodal compound for the treatment of major depressive disorder. J Med Chem 2011;54:3206–21.
2. Jacobsen PL, Mahableshwarkar AR, Chen Y, et al. A head-to-head, randomized, comparison study of vortioxetine vs. escitalopram in patients well treated for MDD and experiencing treatment-emergent sexual dysfunction. Poster präsentiert beim American Society of Clinical Psychopharmacology (ASCP) Annual Meeting; Hollywood, Florida, USA; 16–19. Juni, 2014.
3. Koczorek M. Vortioxetin. Multimodales Antidepressivum als neuartige Option in der Therapie der Major Depression. Arzneimitteltherapie 2014;32 (im Druck).
4. Laux G, Brunnauer A. Fahrtauglichkeit unter Antidepressiva – Ein Update unter Berücksichtigung des neuen Antidepressivums Vortioxetin. Psychopharmakotherapie 2015;22:373–6.
5. Laux G, Goemann C. „Unmet needs“ in der Antidepressiva-Therapie. Psychopharmakotherapie 2014;21:7–11.
6. Mahableshwarkar AR, Zajecka J, Jacobson W, et al. Efficacy of vortioxetine on cognitive function in adult patients with major depressive disorder: results of a randomized, double-blind, active-referenced, placebo-controlled trial. Poster präsentiert beim 29th CINP World Congress of Neuropsychopharmacology; Vancouver, Canada; 22–26. Juni, 2014.
7. Messer T, Goemann C. Vortioxetin – ein multimodales Antidepressivum. Psychopharmakotherapie 2014;21:142–9.
8. Mork A, Pehrson A, Brennum LT, et al. Pharmacological effects of Lu AA21004: a novel multimodal compound for the treatment of major depressive disorder. J Pharmacol Exp Ther 2012;340:666–75.
9. Papakostas GI. Cognitive symptoms in patients with major depressive disorder and their implications for clinical practice. J Clin Psychiatry 2014;75:8–14.
10. Theunissen EL, Street D, Hojer AM, et al. A randomized trial on the acute and steady-state effects of a new antidepressant, vortioxetine (Lu AA21004), on actual driving and cognition. Clin Pharmacol Ther 2013;93:493–501.
11. Withall A, Harris LM, Cumming SR. The relationship between cognitive function and clinical and functional outcomes in major depressive disorder. Psychol Med 2009;39:393–402.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Gerd Laux, Institut für Psychologische Medizin (IPM), Oberwallnerweg 7, 83527 Haag i.OB, E-Mail: ipm@ipm-laux.de
Arzneimitteltherapie 2014; 32(12)