Dr. med. Peter Stiefelhagen, Hachenburg
Schätzungsweise leiden zurzeit 9,3 Millionen Menschen in Deutschland an einem Diabetes mellitus, in etwa 90% der Fälle handelt es sich um einen Typ-2-Diabetes. Experten schätzen, dass diese Zahl in den nächsten Jahren deutlich zunehmen wird, man spricht von einer Diabetes-Epidemie und befürchtet einen „Diabetes-Tsunami“.
Neue Hypothesen
Der Typ-2-Diabetes ist immer eine chronisch progrediente Erkrankung, die eine ständige Anpassung der Therapie erforderlich macht. Die Pathogenese ist sicherlich komplex. Die bisher favorisierte Vorstellung ist die Insulinresistenz-Hypothese. Die Insulinresistenz ist zwar genetisch determiniert, aber Lebensstilfaktoren können die Insulinempfindlichkeit stark beeinflussen. Das verminderte Ansprechen auf Insulin führt zu einer kompensatorischen Hyperinsulinämie und dies wiederum zu einer allmählichen Erschöpfung der Betazellen. Dazu kommt aber noch eine primäre Insulinsekretionsstörung, wobei auch genetische Faktoren eine wichtige Rolle spielen.
In den letzten Jahren wurden einige neue Hypothesen zur Pathogenese des Typ-2-Diabetes entwickelt, für die es durchaus auch wissenschaftliche Belege gibt. Da wird zum einen diskutiert, dass die Hyperinsulinämie am Anfang stehe und der Körper sich mittels einer Insulinresistenz vor dem überschüssigen Insulin schütze. Hier wird also Ursache und Wirkung einfach vertauscht. Für diese Hypothese spricht, dass Personen, die in der Frühphase ihres Lebens einen erhöhten Nüchtern-Insulinspiegel aufweisen, ein deutlich höheres Risiko tragen, im späteren Leben einen Diabetes zu entwickeln [4].
Bei der Entzündungshypothese geht man davon aus, dass bei genetisch prädisponierten Personen durch Übergewicht, ungesunde Ernährung und körperliche Inaktivität das Immunsystem aktiviert wird [2]. Dabei werden Immunmodulatoren freigesetzt, die ihrerseits in Leber-, Muskel- und Fettzellen eine Insulinresistenz induzieren und auch die Insulin-produzierenden Betazellen schädigen. Die Immunaktivierung führt auch zu einer Entzündung der Gefäßwand und konsekutiv zur Ausbildung atherosklerotischer Plaques. Diese Entzündungs-Hypothese erklärt das parallele Auftreten von Typ-2-Diabetes und Arteriosklerose.
Die neuen Inkretin-basierten Therapien greifen in die Regulation des GLP-1-Stoffwechsels ein. Auch die Ergebnisse der bariatrischen Chirurgie sprechen dafür, dass der Dünndarm bei der Pathogenese des Typ-2-Diabetes eine wichtige Rolle spielt; denn die günstigen Auswirkungen des Eingriffs auf den Glucose-Stoffwechsels sind stärker als dass dies durch die Gewichtsabnahme allein erklärt werden könnte. GLP-1 wird in den L-Zellen des Duodenums produziert [3]. Neuere Untersuchungen bei Typ-2-Diabetikern konnten Veränderungen im Phänotyp dieser L-Zellen zeigen. Und auch bei Adipösen konnte man morphologische Veränderungen an der Duodenalschleimhaut nachweisen [6, 7]. Dies ist der Hintergrund für einen neuen experimentellen antidiabetischen Therapieansatz, nämlich die thermische Ablation der Duodenalschleimhaut.
Nach den Ergebnissen epidemiologischer Untersuchungen ist die Diabeteshäufigkeit mit einem niedrigen sozioökonomischen Status und auch chronischen Stressfaktoren assoziiert. Diese Stress-Hypothese wird jetzt durch wissenschaftliche Daten untermauert. So wurden im Rahmen einer prospektiven Studie in einer afrikanischen Region mit einem dramatischen Anstieg der Diabetesrate Veränderungen des Cortisolspiegels im Hinblick auf die Diabetesentwicklung untersucht. Hierbei wurde die Prävalenz zwischen einer ländlichen und einer städtischen Bevölkerungsgruppe verglichen. Die Diabetesprävalenz war in der städtischen Gruppe mit 28,3% signifikant höher als in der ländlichen mit 12,7%. Und dies korrelierte eindeutig mit dem Speichelcortisolspiegel. Die Teilnehmer in der ländlichen Gruppe hatten sich aber auch mehr bewegt und gesünder ernährt [1].
Dass chronischer Stress bei der Entstehung des Typ-2-Diabetes beteiligt ist, dafür sprechen auch die Ergebnisse einer Studie bei 140 Typ-2-Diabetikern, die sich einem standardisierten Stresstest unterzogen. Im Vergleich mit Gesunden zeigten Typ-2-Diabetiker eine verzögerte Erholung des systolischen und diastolischen Blutdrucks, der Pulsfrequenz und des Serum-Cholesterols nach dem Stresstest. Und auch hier waren die Serumcortisolspiegel bei den Diabetikern höher [5].
Neue Präventionsstrategien
Der beste Weg, die Diabeteswelle aufzuhalten, ist sie zu verhindern! Diesem Statement von Professor Erhard Siegel, dem Vorsitzenden der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), wird man kaum widersprechen können. Die Frage ist, aber wie? Die klassische Antwort der Gesundheitspolitik ist der Appell an die Vernunft des einzelnen, also eine Verhaltensprävention. Doch alle diese gut gemeinten Ratschläge haben sich in der alltäglichen Praxis als weitgehend wirkungslos erwiesen. Kurzum, der Aufruf zur individuellen Verhaltensänderung ist gescheitert, weil unser tägliches Umfeld einer Verhaltensänderung diametral entgegensteht. Deshalb bedarf es neuer Wege, wie sie auch von der DDG gefordert werden. Dazu gehören der Ausbau des Schulsports ebenso wie Qualitätsstandards beim Schulessen, ein Verbot von an Kinder gerichteter Werbung für Süßigkeiten und eventuell auch eine Zucker- beziehungsweise Fettsteuer. Die damit erzielten Mehreinnahmen sollten für Maßnahmen zur Gesundheitsförderung eingesetzt werden. Kurzum, die Prävention muss, wenn sie gelingen soll, zu einer gesamtgesellschaftlichen Herausforderung werden.
Neue Behandlungsstrategien
Bezüglich der Therapie des Typ-2-Diabetes hat in den letzten Jahren ein gewisses Umdenken stattgefunden; denn es hat sich gezeigt, dass eine zu strenge Blutzuckereinstellung mit einem HbA1c-Wert unter 7% gerade für Patienten mit langer Diabetes-Anamnese und bereits manifest gewordenen Folgeschäden die Prognose sogar verschlechtern kann, wobei nicht nur, aber auch Hypoglykämien entscheidend sein dürften. Doch bei einem neu diagnostizierten Typ-2-Diabetes sollte weiterhin eine optimale Stoffwechseleinstellung angestrebt werden, da dies auch längerfristig im Sinne eines metabolischen Gedächtnisses vorteilhaft ist. Somit sollte eine moderne Diabetes-Therapie weniger standardisiert als individualisiert sein. Krankheitsdauer, Alter des Patienten, Begleit- und Folgeerkrankungen, Wirkungsmechanismen der eingesetzten Medikamente und Therapierisiken sind zu berücksichtigen. Sicherheit vor Wirksamkeit, dieser Grundsatz ist gerade auch im Hinblick auf die prognostische Bedeutung schwerer Hypoglykämien stets zu beachten.
Die Einführung neuer Substanzgruppen (Dipeptidylpeptidase-4-Inhibitoren, GLP-1-Analoga, SGLT-2-Inhibitoren, langwirksame Insulinanaloga), deren Einsatz mit einem sehr geringen Hypoglykämie-Risiko assoziiert ist, hat die Therapie des Typ-2-Diabetes zweifelsfrei sicherer gemacht, auch wenn dies bei den Diskussionen über einen möglichen Zusatznutzen nicht immer in ausreichendem Maß berücksichtigt wurde.

[Foto: privat]
Quellen
Professor Stephan Martin, Düsseldorf, Vortrag im Rahmen des Diabetes update, 20.3.2015 in Düsseldorf
Professor Erhard Siegel, Heidelberg, Vortrag im Rahmen des Diabetes Mediendialogs, 13.3.2015 in Hohenkammer
Literatur
1. Kann PH, et al. J Clin Endocrinol Metab 2015;100:E482-6.
2. Kolb H, et al. Diabetologia 2005;48:1038–50.
3. Mingrone G, et al. Nat Rev Endocrinol 2014;10:73–4.
4. Sabin MA, et al. Pediatrics 2015;135:e144–51.
5. Steptoe A, et al. Proc Acad Natl Sci U S A 2014;111:15693–8.
6. Theodorakis MJ, et al. Am J Physiol Endocrinol Metab 2006;290:E550–9.
7. Verdam FJ, et al. J Clin Endocrinol Metab 2011;96:E379–83.
Arzneimitteltherapie 2015; 33(05)