Onkologie: Mit dem Wissen wächst der Zweifel


Dr. med. Peter Stiefelhagen, Hachenburg

[Foto: privat]

Die Dynamik des Fortschritts im Bereich der Onkologie ist atemberaubend. Ständig werden neue molekulare Biomarker, Genmutationen oder epigenetische DNA-Veränderungen identifiziert und entsprechend zielgenau wirkende neue antitumoröse Substanzen im Sinne einer maßgeschneiderten „tailored therapy“ entwickelt. Dies führt auch zu einer immer stärkeren Individualisierung der Tumordiagnose, die Diagnose einer Tumorentität wird quasi „pulverisiert“. Große Hoffnungen setzt man auf innovative Substanzen, die über das Immunsystem den Tumor angreifen, die Checkpoint-Inhibitoren. Angefangen hat die Erfolgsgeschichte dieser neuen Therapiestrategie beim malignen Melanom. Jetzt aber werden diese Substanzen auch bei vielen anderen Tumorentitäten wie dem Bronchialkarzinom, dem Nierenzellkarzinom und gastrointestinalen Malignomen geprüft. Und erste Ergebnisse stimmen durchaus optimistisch, dass damit bei vielen Tumoren wieder etwas an Lebenszeit gewonnen werden kann, wie dies in zahlreichen Präsentationen beim letzten European Cancer Congress (ECC) in Wien (25.–29. September 2015) gezeigt werden konnte. Angesichts der Vielzahl an neuen Substanzen stellt sich nun die Frage: Welcher Patient soll zu welchem Zeitpunkt mit welcher Substanz behandelt werden?

Neue Kombination

Eine neue Therapiestrategie, die jetzt im Rahmen klinischer Studien untersucht wird, ist die Kombination aus Bestrahlung und Immuntherapie. Die Wirkung einer Strahlentherapie beruht nämlich nicht nur auf der direkten Schädigung der Tumorzellen, vielmehr werden durch die Strahlung auch vermehrt Entzündungsmediatoren freigesetzt, die dem Immunsystem eine Chance bieten, den Tumor anzugreifen. Dies erklärt, warum gelegentlich eine Bestrahlung auch zu einer Verkleinerung von Metastasen führt, die nicht im Bestrahlungsfeld liegen. Darin liegt die Rationale für die Kombination beider Therapiestrategien, also die Hoffnung, dass beide Verfahren sich in ihrer immunotherapeutischen Effektivität verstärken könnten.

Dynamik der Biomarker

Immer wieder tauchen Fragen auf, die zeigen, dass vieles in der Tumorbiologie bisher nicht oder nur unzureichend verstanden ist. So kann beispielsweise sowohl die gesteigerte Aktivität einer Signaltransduktion als auch die Hemmung desselben Pathways zur Tumorentstehung führen, wobei allerdings unterschiedliche Tumoren daraus resultieren. Dies zeigt, wie komplex die Tumorentstehung ist.

Die Bestimmung prädiktiver Biomarker ist die Grundlage für eine zielgerichtete Therapie. Doch Probleme sind die Dynamik und die qualitativen Veränderungen dieser molekularen Marker: Genmutationen treten im Tumor auf und verschwinden wieder oder verändern sich, sodass eine bestimmte Substanz plötzlich ihre Wirksamkeit verliert. In diesem Fall spricht man von „Resistenz“. Somit lautet die Frage: Wie prädiktiv sind eigentlich die prädiktiven Marker? Diese Frage ist insbesondere dann relevant, wenn ein Rezidiv oder eine Metastasierung auftritt. Hier stellt sich dann die Frage, ob und wie viele Metastasen molekular erneut analysiert werden müssen, um mögliche Ansatzpunkte für eine Therapieoption nicht zu übersehen, also ungenutzt zu lassen, aber auch um dem Patienten eine unwirksame Therapie zu ersparen. Einige Experten sind gar der Meinung, dass ein Rezidiv oder eine Metastase ein ganz „neuer“ Tumor sei, bei dem das Genprofil immer neu anaIysiert werden müsse, bevor eine therapeutische Entscheidung getroffen werden könne.

In diesem Zusammenhang mag es verwirrend, ja sogar paradox erscheinen, dass beispielsweise PD-L1-Inhibitoren auch dann wirken, wenn die Tumorzellen kein PD-L1 exprimieren. Auch dies könnte dafür sprechen, dass die PD-L1-Expression einer gewissen Dynamik unterliegt. Aber auch die Validität solcher Bestimmungen von biologischen Markern wird kritisch hinterfragt.

„Flüssige“ Biopsie

Sicherlich wäre es ein großer Fortschritt, wenn das Genprofil des Tumors nicht mehr am Gewebe, also aus der Biopsie, sondern aus dem Blut bestimmt werden könnte, zumal die Gewinnung von Tumorgewebe vor allem bei Metastasen nicht immer einfach und risikoarm möglich ist. Bei einigen Tumormarkern konnte bereits die Zuverlässigkeit einer solchen „flüssigen“ Biopsie durch den Nachweis von Tumor-DNA im Blut dokumentiert werden. Vorteilhaft ist auch, dass das Ergebnis einer Blutuntersuchung immer schneller vorliegt als das einer bioptischen Untersuchung. Es besteht begründete Hoffnung, dass „fluid biopsies“ in absehbarer Zeit die Gewebeentnahmen ersetzen können.

Enorme Kostensteigerung

Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Und dieser Schatten sind die Kosten einer innovativen Tumortherapie. Diese sind in den letzten Jahren deutlich gestiegen und stellen unser Gesundheitssystem vor eine große Herausforderung. Die zunehmende Differenzierung einer Tumorentität hat zwangsweise zur Folge, dass die für eine bestimmte Substanz infrage kommenden Patientenkollektive immer kleiner werden, was die Behandlung im Einzelfall sicherlich nicht billiger machen dürfte. Eine Antwort auf diese drängende Frage hat bisher niemand oder will sie nicht öffentlich äußern, um nicht in den Verdacht zu geraten, einer Rationierung das Wort zu reden. „We need to recognise, that there is a limit what we can spend on treating cancer“, so Professor Martine Piccart, Brüssel, Präsidentin der European Cancer Organisation (ECCO) und Kongressvorsitzende des ECC. Und wer möchte ihr da wiedersprechen!

So lautete das Fazit des Kongresses: Der Weg in der Onkologie geht weiter in Richtung Individualisierung, also einer präzisen „tailored therapy“ und somit auch in eine immer komplexer erscheinende Welt der Diagnostik und Therapie. Doch mit dem Wissen wächst bekanntlich auch der Zweifel, und diese Erkenntnis bezieht sich auch auf die Finanzierbarkeit.

Arzneimitteltherapie 2016; 34(01)