Idarucizumab

Ein Gegenmittel von Dabigatran


Hans-Christoph Diener, Essen, Harald Darius, Berlin, Andreas Greinacher, Greifswald, Hanno Riess, Berlin, Christoph Kleinschnitz, Essen, Joachim Röther, Hamburg, Oliver Grottke, Aachen, Christoph Cyrill Eschenfelder, Ingelheim, und Joanne van Ryn, Biberach

Dabigatran ist ein direkter Thrombininhibitor, der zur Schlaganfallprävention bei Vorhofflimmern und zur Prophylaxe und Therapie der tiefen Beinvenenthrombose eingesetzt wird. Idarucizumab ist ein humanisiertes Fab-Fragment (Antigen-bindendes Fragment) eines humanisierten monoklonalen Maus-Antikörpers, der mit hoher Affinität an Dabigatran bindet. Mit Idarucizumab steht ein hochwirksames Gegenmittel für Dabigatran zur Verfügung für klinische Situationen, in denen eine Notfalloperation oder dringender Eingriff unter Dabigatran notwendig ist. Idarucizumab eignet sich auch zur Antagonisierung der Wirkung von Dabigatran bei lebensbedrohlichen oder nicht beherrschbaren Blutungen. In einer Dosis von 5 g wird die Wirkung von Dabigatran bei den meisten Patienten innerhalb kurzer Zeit aufgehoben. Zwischenergebnisse der RE-VERSE-AD-Studie mit 90 Patienten belegen die Wirksamkeit und gute Verträglichkeit von Idarucizumab.
Arzneimitteltherapie 2016;34:309–17.

Therapiestandard für die Prävention und Behandlung tiefer Beinvenenthrombosen und Lungenembolien sowie für die Schlaganfallprävention bei Patienten mit nichtvalvulärem Vorhofflimmern waren bis vor einigen Jahren die Vitamin-K-Antagonisten (VKA). Sie werden nach und nach durch die vier Non-Vitamin-K oralen Antikoagulanzien (NOAK) Apixaban, Dabigatran, Edoxaban und Rivaroxaban ersetzt. Dabigatran ist ein direkter Thrombinhemmer [21]. Apixaban, Edoxaban und Rivaroxaban hemmen selektiv den Gerinnungsfaktor Xa [4]. Als Gruppe sind die NOAK in der Prävention und Behandlung von venösen Thrombosen mindestens genauso wirksam wie VKA und haben ein besseres Sicherheitsprofil [12]. In der Schlaganfallprävention bei Patienten mit nichtvalvulärem Vorhofflimmern sind sie im Ergebnis einer Metaanalyse mindestens genauso wirksam wie VKA (Warfarin) und haben ein besseres Sicherheitsprofil, insbesondere eine signifikante Reduktion des Risikos intrakranieller Blutungen, im Vergleich zu VKA [18]. Dessen ungeachtet kann es auch bei der Behandlung mit NOAK zu schwerwiegenden Blutungskomplikationen kommen [13]. Im Rahmen der Behandlung dieser Blutungskomplikationen gab es bis vor kurzem keine spezifischen Gegenmittel, um die antikoagulatorische Wirkung der NOAK aufzuheben. Ein weiteres schwieriges Therapieproblem waren Patienten mit Polytraumen oder Patienten, bei denen unter effektiver Antikoagulation eine dringende operative Intervention oder eine invasive diagnostische oder therapeutische Prozedur durchgeführt werden musste.

Entwicklung und Wirkungsmechanismus von Idarucizumab

Idarucizumab ist ein humanisiertes Fab-Fragment (Antigen bindendes Fragment) eines humanisierten monoklonalen Maus-Antikörpers (Abb. 1), der mit hoher Affinität an Dabigatran bindet (Abb. 2). Die Affinität ist etwa um das 350-Fache höher als die Bindungsaffinität von Dabigatran zu Thrombin [19]. Damit wird die biologische Wirkung von Dabigatran neutralisiert. Der Komplex aus Idarucizumab und Dabigatran ist durch eine rasche Bildung und eine langsame Auflösung gekennzeichnet, was eine sehr stabile, fast irreversible Bindung zur Folge hat. Diese hohe Affinität für Dabigatran hat zur Folge, dass ungebundenes Dabigatran in erster Linie an Idarucizumab bindet. Das an Thrombin (oder ein anderes Plasmaprotein) gebundene beziehungsweise im extravasalen Kompartiment befindliche Dabigatran bildet mit ungebundenem Dabigatran ein dynamisches Gleichgewicht und wird nach Absättigung des ungebundenen Dabigatran ebenfalls rasch an freies Idarucizumab gebunden. Idarucizumab wirkt sofort und zeigt eine vollständige, anhaltende und vorhersagbare Wirkung. Das humanisierte Fab-Fragment hat eine kurze Halbwertszeit, keine eigenen Effekte auf das Gerinnungssystem und eine geringe Potenz, immunologische Reaktionen hervorzurufen [20].

Abb. 1. Schematische Darstellung des Antiköpers mit Fc- und Fab-Fragment Fab: Fab-Fragment, Fc: kristallisierbares Fragment, mAb: monoklonaler Antikörper [Boehringer Ingelheim]

Abb. 2. Röntgen-krystallographische Struktur der Bindung von Dabigatran an Idarucizumab [Boehringer Ingelheim]

Zwischenfazit

Idarucizumab ist ein humanisiertes Fab-Fragment, das 350-fach stärker an Dabigatran bindet als Dabigatran an Thrombin [19]. Damit wird die biologische Wirkung des NOAK neutralisiert.

Anwendung

Die empfohlene Dosierung von Idarucizumab beträgt 5 g, abgepackt als zwei Fertiglösungen à 50 ml, die jeweils 2,5 g Idarucizumab enthalten. Idarucizumab ist lichtempfindlich, muss bei einer Temperatur zwischen 2 und 8°C im Kühlschrank im Dunkeln aufbewahrt werden und hat eine Haltbarkeit von 24 Monaten. Die Anwendung kann entweder als Kurzinfusion oder über eine 50-ml-Spritze erfolgen. Die 5-g-Dosis von Idarucizumab neutralisiert 99% der Gesamtkonzentration von Dabigatran der in der RE-LY®-Studie behandelten Patienten mit mittelschwerer Niereninsuffizienz. Die Dosis von Idarucizumab muss nicht an Alter, Nierenfunktion oder Körpergewicht angepasst werden [3].

Pharmakokinetik

Die Spitzenkonzentration von Idarucizumab wird am Ende der Infusion erreicht (Tab. 1). Bei der Gabe von Idarucizumab wird zunächst das im Plasma verfügbare Dabigatran gebunden. Anschließend wird auch das aus den extravaskulären Kompartimenten ins Plasma wandernde Dabigatran inaktiviert. Die mittlere Halbwertszeit von 4 bis 5 Stunden umfasst die Ausscheidung von 90% des Idarucizumab.

Tab. 1. Pharmakologische und pharmakokinetische Eigenschaften von Idarucizumab [3, 5, 6, 19]

Eigenschaften

Zielmolekül

Dabigatran

Struktur

Humanisiertes Fab-Fragment

Wirkungsmechanismus

Nichtkompetitive Hemmung

Molekulargewicht [Dalton]

47800

KD

2,1 pmol/l

ka

3,4×105/(mol/l × s)

kd (berechnet)

0,7×10–6/s

Applikationsform

Intravenös (Bolus oder Kurzinfusion)

Dosierung

5 g (2×2,5 g à 50-ml-Fertiglösung; unmittelbar hintereinander)

Wirkungseintritt

Sofort

Pharmakokinetik

Anhaltend und vorhersagbar*

Aufhebung des antikoagulatorischen Effekts

Normalisierung der dTT, ECT, aPTT und TT innerhalb von Minuten

Eliminationshalbwertszeit

Biphasisch; initial ca. 45 Minuten; terminal ca. 4,4–8,1 Stunden

Interaktionspotenzial mit
anderen Pharmaka

Nicht bekannt

Monitoring

Kein routinemäßiges Monitoring

Aufbewahrungshinweis

Im Kühlschrank lagern (2°C bis 8°C). Nicht einfrieren

Dauer der Haltbarkeit

2 Jahre

Kosten

2500 Euro (5 g)

Zulassungsstatus§

Idarucizumab ist zugelassen in: Australien, Europa, Israel, Kanada, Süd-Korea, Macao, Neuseeland, Schweiz, USA. Etwa 30 weitere Zulassungsverfahren sind eingeleitet.

aPTT: aktivierte partielle Thromboplastinzeit; dTT: diluted thrombin time; ECT: ecarin clotting time; Fab: fragment antigen-binding; KD: Bindungsaffinität; kd: Dissoziationskonstante; ka: Assoziationskonstante; TT: Thrombinzeit *Exposition bei Patienten mit Niereninsuffizienz ist erhöht (Area under the curve); gilt für ca. 90% der Substanz; Angabe basiert auf Untersuchungen an gesunden Probanden, die eine Idarucizumab-Dosis zwischen 1 g und 4 g als 5-minütige Infusion erhielten. Werte können bei niereninsuffizienten Patienten leicht erhöht sein; §Stand 07/2016

Idarucizumab ist ein Fab-Fragment mit einem Molekulargewicht von 47,8 kDa und wird hauptsächlich über die Nieren eliminiert [5]. Die Elimination ist unabhängig davon, ob Dabigatran an Idarucizumab gebunden ist oder nicht. Idarucizumab wird in die Nieren filtriert und in den Nierentubuli abgebaut. Dabigatran wird dann über den Urin ausgeschieden. Idarucizumab ist bei einer 5-g-Dosis auch im Urin zu finden, da die Nierentubuli gesättigt sind. Dies führt zu einer passageren Proteinurie.

Bei Patienten mit ausgeprägten Nierenfunktionsstörungen ist die Konzentration von Idarucizumab vorübergehend erhöht. Die „Area under the curve“ ist bei Patienten mit leichter Niereninsuffizienz um 40% und bei ausgeprägter Niereninsuffizienz um 50% erhöht [7]. Da unter der Einnahme von Dabigatran Kumulationen und schwere Blutungskomplikationen besonders häufig bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion auftreten, ist dies ein erwünschter Effekt. In Situationen, in denen eine sofortige Antikoagulation nach Beherrschung der Blutung oder Durchführung der Operation oder Intervention notwendig ist, können aufgrund des hochselektiven Wirkprinzips von Idarucizumab andere Antikoagulanzien ohne Wirkungseinschränkung unmittelbar verwendet werden. Die kurze Halbwertszeit von Idarucizumab erlaubt, bereits nach 24 Stunden Dabigatran erneut antikoagulatorisch einzusetzen [8]. Dies ist beispielsweise bei Patienten mit frischen Lungenembolien und Dabigatran-induzierter Blutung ein wichtiger Faktor. Allerdings wird man bei den meisten Patienten, die eine kritische klinische Situation (Blutung oder Intervention) unter der Behandlung mit Dabigatran erlebt haben, erst erneut mit Dabigatran behandeln, wenn die Blutungsquelle ausgeschaltet ist. Alternativ kann im Krankenhaus zunächst für mehrere Tage mit Heparinen behandelt werden, bis der Patient stabilisiert und die zugrunde liegende Situation unter Kontrolle ist und eine orale Therapie fortgeführt werden kann.

Pharmakodynamik

Bei Patienten unter Dabigatran und bedrohlichen Blutungsereignissen ist die Idarucizumab-Gabe nicht von der Verfügbarkeit bestimmter Laborwerte abhängig zu machen. Die antikoagulatorische Wirkung von Dabigatran und ihre Antagonisierung durch Idarucizumab kann über funktionelle Gerinnungstests kontrolliert werden. Dafür stehen als Gruppenteste in den meisten Krankenhäusern die aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT), weniger zuverlässig der Quickwert und sensitiv die Thrombinzeit (TT) zur Verfügung [22] (Tab. 1). Die TT reagiert sehr empfindlich auch auf geringe, klinisch eher nicht relevante Konzentrationen von Dabigatran. Die aPTT hingegen kann bei niedrigen Dabigatran-Konzentrationen normal ausfallen. Bei der Beurteilung von Gerinnungstests unter NOAK muss stets der Blutabnahmezeitpunkt in Relation zur Medikamenteneinnahme berücksichtigt werden. Der mit dem Plasmaspiegel parallel gehende Antikoagulationseffekt lässt Maxima ein bis vier Stunden nach und Talwerte vor erneuter Einnahme erwarten. Eine aPTT im Referenzbereich jenseits von vier Stunden nach Einnahme schließt einen höhergradig blutungsgefährdenden Dabigatran-Spiegel weitgehend aus. Die Normalisierung einer initial verlängerten aPTT oder weitgehende Normalisierung der TT nach Idarucizumab zeigt die effektive Neutralisierung von Dabigatran. Beim initialen Vorliegen extrem hoher Dabigatran-Spiegel, wie sie beispielsweise bei Fehleinnahme oder Kumulation aufgrund schwerer Niereninsuffizienz denkbar sind, kann eine Zweitgabe von Idarucizumab bei laboranalytisch nachgewiesener, durch Dabigatran verursachter fortbestehender Antikoagulationswirkung – mit deutlich verlängerter TT und verlängerter aPTT und weitgehendem Ausschluss andere Ursachen, beispielsweise Sepsis oder DIC – in Betracht kommen.

Quantitativ lassen sich Plasmaspiegel von Dabigatran mithilfe des Hemoclot-Tests (verdünnte Thrombin-Zeit, dTT) und der Ecarin Clotting Time (ECT) bestimmen. Beide Tests stehen allerdings in Notaufnahmen in der Regel nicht zur Verfügung.

Unerwünschte immunologische Wirkungen von Idarucizumab

Die Gabe von 5 g eines Antikörperfragments wirft die Frage nach Nebenwirkungen auf. Durch die Entfernung des Fc-Teils des Antikörpers treten keine Fc-Rezeptor-vermittelten Reaktionen auf. Allerdings haben etwa 10 bis 20% der Bevölkerung präformierte Antikörper gegen Fab-Fragmente. Deren klinische Relevanz scheint jedoch auch auf der Basis der Erfahrung mit anderen therapeutischen Fab-Fragmenten gering zu sein. Wie bei jedem anderen proteinbasierten Medikament können prinzipiell anaphylaktische Reaktionen ausgelöst werden. Bislang wurde jedoch noch keine solche Reaktion in den klinischen Studien beobachtet. Antikörper, die sich gegen die Dabigatran-Bindungsstelle von Idarucizumab richten, können die Neutralisation von Dabigatran hemmen. Bislang wurden noch keine hemmenden Antikörper in den klinischen Studien beobachtet. Allerdings sind die Fallzahlen noch zu gering, um hierzu eine endgültige Aussage treffen zu können.

Zwischenfazit

Idarucizumab wird in die Nieren filtriert und in den Nierentubuli abgebaut. Bei Patienten mit Nierenfunktionsstörungen kann es zu einer Erhöhung der AUC kommen.

Aussagen zu Antikörpern, die die Wirkung von Idarucizumab hemmen, können noch nicht getroffen werden.

Studien mit gesunden Probanden

Insgesamt sind über 200 Probanden mit Idarucizumab behandelt worden. Siebenundvierzig Personen im Alter unter 45 Jahren erhielten 2-mal 220 mg Dabigatran über drei Tage [6]. Dies führt in der Regel zu Peak-Plasmakonzentrationen von etwa 160 ng/ml. Am 4. Tag erhielten die Probanden Placebo oder Einzeldosen von 1, 2 oder 4 g Idarucizumab oder aber zweimalig 2,5 g im Abstand von einer Stunde über jeweils fünf Minuten. Für alle gemessenen Gerinnungsparameter (verdünnte Thrombinzeit [dTT], aPTT, ECT, TT) ergab sich eine Normalisierung unmittelbar nach Verabreichung [5]. Ab einer Dosis von 2 g Idarucizumab hielt dieser Effekt bis zu 72 Stunden an. Die Aktivität von Thrombin (endogene Thrombinbildungskapazität) war nicht beeinträchtigt. Bei 3 von 35 gesunden Personen wurden nach der Gabe von Idarucizumab niedrigtitrige Antikörper identifiziert, die nach 30 und 90 Tagen nicht mehr nachweisbar waren.

Die zweite Studie untersuchte die Wirkung von Idarucizumab bei 46 Freiwilligen im Alter zwischen 45 und 80 Jahren [7]. Einige dieser Versuchspersonen hatten auch eine eingeschränkte Nierenfunktion. Auch hier wurde Idarucizumab in Dosierungen von 1 g, 2,5 g oder 5 g oder zwei Dosierungen von 2,5 g im Abstand von einer Stunde gegeben. Wurde 24 Stunden später erneut Dabigatran gegeben, war dieses wieder wirksam [8]. Alle Dosierungen von Idarucizumab wurden gut vertragen und es gab keine Hinweise auf allergische Reaktionen [3].

Die RE-VERSE-AD-Studie

Die RE-VERSE-AD-Studie (Re-versal effects of idarucizumab on active dabigatran. EudraCT: 2013-004813-41) ist eine kurz vor dem Abschluss stehende Phase-III-Studie, die Idarucizumab in zwei Gruppen von ungefähr 500 mit Dabigatran behandelten Patienten untersucht (Abb. 3) [16].

Abb. 3. Design der RE-VERSE-AD-Studie (Phase III) [Boehringer Ingelheim]

Die Gruppe A umfasst Patienten mit schwerwiegender oder lebensbedrohlicher Blutung, die mit anderen Mitteln nicht gestoppt werden kann. Die Gruppe B umfasst Patienten, die innerhalb von acht Stunden notfallmäßig operiert werden müssen oder sich einer invasiven Prozedur unterziehen müssen, die sofort durchgeführt werden muss. Die Studie ist offen. Eine Placebo-Gruppe war ethisch nicht vertretbar. Im Moment sind fast alle der geplanten 500 Patienten in den 400 Zentren weltweit eingeschlossen. Alle Patienten erhalten 5 g Idarucizumab, in Form von zwei aufeinanderfolgenden intravenösen Gaben von je 2,5 g innerhalb von 15 Minuten. Der primäre Endpunkt der Studie ist die Normalisierung der Koagulationsparameter dTT und ECT. Wo möglich, wird auch der Zeitraum bis zum Stillstand der Blutung gemessen. Bei Patienten, die operiert werden müssen, werden die Chirurgen nach der intraoperativen Blutstillung befragt.

Die Daten der ersten 90 Patienten sind in der Zwischenzeit publiziert [17]. Mehr als 90% der Patienten wurden wegen Vorhofflimmern mit Dabigatran behandelt. Die publizierte Gruppe A umfasste 51 Patienten. Von denen hatten 20 eine gastrointestinale Blutung, 18 eine intrakranielle Blutung und 9 ein Polytrauma. Die Gruppe B umfasste 39 Patienten, davon acht mit Knochenfrakturen und fünf mit einer akuten Cholezystitis. Die Patienten waren im Schnitt 76 Jahre alt. Der mediane Zeitraum zwischen dem akuten Ereignis und der letzten Einnahme von Dabigatran lag zwischen 15 und 16 Stunden. Die später analysierten medianen Plasma-Konzentrationen von Dabigatran betrugen 132 ng/ml in der Gruppe A und 114 ng/ml in der Gruppe B.

Vor der Gabe von Idarucizumab hatten 68 der publizierten 90 Patienten (76%) eine verlängerte dTT und 81 (90%) einen verlängerten ECT-Wert als Zeichen einer effektiven Antikoagulation. Die Gerinnungsparameter für den präspezifizierten primären Endpunkt wurden allerdings erst zu einem späteren Zeitpunkt in einem Zentrallabor gemessen. Idarucizumab war hoch wirksam und normalisierte die Gerinnungswerte bei allen Patienten (mit einer Ausnahme) (Abb. 4 und 5). Unmittelbar nach der Anwendung von Idarucizumab wurden die Plasmakonzentrationen von ungebundenem Dabigatran um mehr als 99% gesenkt, was zu Konzentrationen ohne antikoagulatorische Aktivität führte. Vier Stunden nach der Behandlung lag bei 97% der Patienten (83/86) die Konzentration von ungebundenem Dabigatran nahe an der Untergrenze der Quantifizierbarkeit. In der Gruppe B wurden 36 Patienten operiert, bei 33 Patienten berichtete der Chirurg, dass es keine Besonderheiten mit der intraoperativen oder postoperativen Blutstillung gab. Es gab insgesamt fünf thrombotische Ereignisse, von denen eines nach 48 Stunden auftrat und vier jenseits von 72 Stunden nach der Gabe von Idarucizumab vorkamen. Bei keinem dieser Hochrisiko-Patienten war allerdings zum Zeitpunkt der thrombotischen Komplikation die Antikoagulation wieder aufgenommen worden. Insgesamt verstarben 18 der 90 Patienten. Hier muss berücksichtigt werden, dass es sich um schwerstkranke Patienten mit erheblichen Komplikationen handelte. Die Todesursachen waren alle in der ursprünglichen Erkrankung oder dem Ausmaß der ursprünglichen Blutung bedingt.

Abb. 4. Ergebnisse der RE-VERSE-AD-Studie [17] dTT- und ECT-Gerinnungswerte bei mit Idarucizumab behandelten Patienten in der Gruppe A der Studie RE-VERSE AD

Abb. 5. Ergebnisse der RE-VERSE-AD-Studie [17] dTT- und ECT-Gerinnungswerte bei mit Idarucizumab behandelten Patienten der Gruppe B der Studie RE-VERSE AD

Praktische Anwendung

In den Vereinigten Staaten erfolgte die Zulassung von Idarucizumab im Oktober und in Europa im November 2015. In Deutschland steht Idarucizumab derzeit flächendeckend in Notaufnahmen von Krankenhäusern zur Verfügung. Für den klinischen Alltag ist es extrem wichtig, eine standardisierte Verfahrensanweisung (Standard Operating Procedure, SOP) für jedes Krankenhaus zu erstellen und alle Ärzte und das Personal von Notaufnahmen, die mit Polytraumen, Blutungen oder Notfalloperationen konfrontiert werden, über die Tatsache zu informieren, dass für Dabigatran ein spezifisches Gegenmittel zur Verfügung steht, wo es sich gekühlt befindet und wie es angewendet wird. Ein Beispiel für eine SOP findet sich in Tabelle 2.

Tab. 2. Vorschlag einer SOP für den Einsatz von Idarucizumab [Universitätsklinik für Neurologie Essen] [3, 10]

SOP für den Einsatz von Idarucizumab (Praxbind®) – Kurzversion

Idarucizumab ist ein humanisiertes monoklonales Antikörper-Fragment mit selektiver Affinität zu Dabigatran. Es ist das bislang einzige spezifische Antidot für ein NOAK und besitzt keine eigene antikoagulatorische oder prothrombotische Wirkung.

Indikationen für die Gabe von Idarucizumab

  • Lebensbedrohliche oder nicht beherrschbare Blutung unter Antikoagulation mit Dabigatran (Pradaxa®)
  • Notfalloperationen oder dringende Eingriffe unter Dabigatran
  • Diagnostischer Eingriff mit hohem Blutungsrisiko (z.B. Liquorpunktion)
  • Antagonisierung von Dabigatran vor systemischer Thrombolyse mit rt-PA
  • Keine Indikation bei leichten Blutungen oder elektiven Eingriffen
  • Keine Indikation bei Intoxikation mit Dabigatran ohne Blutung

Dosierung und Verabreichung

  • Gebrauchsfertige Lösung zu 2,5 g in 50 ml Trägerlösung
  • Empfohlene Dosis: 5 g (2 Fl. à 2,5 g/50 ml als Kurzinfusion oder i.v. Bolusgabe)
  • Kann unmittelbar nach Entnahme aus dem Kühlschrank infundiert werden
  • Zur Einmalanwendung bestimmt; Verwendung max. 1 Stunde nach Anbruch der Flasche
  • Vor und nach der Infusion ist die Infusionsleitung mit NaCl 0,9% zu spülen
  • Der Infusion dürfen keine anderen Medikamente zugesetzt werden
  • Auch bei eingeschränkter Nierenfunktion anwendbar
  • Keine Gewichtsadaptation notwendig
  • Cave bei hereditärer Fructoseintoleranz (Sorbitanteil)

Wirkung und Therapiehinweise

  • Selektive Bindung von Dabigatran, renale Elimination des Bindungskomplexes
  • Keine Antagonisierung einer (dualen) Thrombozytenfunktionshemmung
  • Keine Wirkung auf Vitamin-K-Antagonisten oder Faktor-Xa-Hemmer
  • Keine Interaktionen mit Gerinnungsfaktorenkonzentraten
  • Sofern notwendig, ist die Kombination mit PPSB, aktiviertem PPSB (FEIBA) oder rekomb. Faktor VIIa möglich

Labordiagnostik

  • Blutabnahme zur Bestimmung von aktivierter partieller Thromboplastinzeit (aPTT) und Thrombinzeit (TT) bei unklarer Anamnese (bewusstloser Patient, Aphasie, Demenz) und vor Idarucizumab-Gabe
  • [Unter Umständen Bestimmung des Dabigatran-Spiegels (z.B. mittels Hämoclot®)]
  • Kein Abwarten von Laborbefunden bei lebens- oder organbedrohenden Blutungen bei mit Dabigatran behandelten Patienten, sondern sofortige Gabe von Idarucizumab
  • Kontrolle initial verlängerter Gerinnungszeit (aPTT, TT) nach Idarucizumab-Erfolgskontrolle

Lagerung

  • Je 5 g gelagert im Kühlschrank (2–8°C) in der Notaufnahme (Tel. ????) und in der Apotheke
  • Lagerung der ungeöffneten Durchstechflasche bei Raumtemperatur bis zu 48 Stunden (Lichtschutz durch Originalverpackung) bzw. 6 Stunden nach Öffnen und Lichtexposition

Nach der Gabe von Idarucizumab zu beachten

  • Bei hohen Dabigatran-Spiegeln eventuell Umverteilung von Dabigatran aus dem Gewebe und Wiederauftreten von Blutungssymptomen, vor allem bei eingeschränkter Nierenfunktion
  • Bei Fortbestehen bzw. Wiederauftreten einer Blutung nach Gabe von Idarucizumab und Nachweis einer Dabigatran-Restwirkung (verlängerte TT) wiederholte Gabe des Antidots (bis 2-mal 2,5 g)
  • Thromboseprophylaxe entsprechend den nationalen bzw. internationalen Empfehlungen (frühestens 6 Stunden nach Blutungstopp)
  • Wiederbeginn der Therapie mit Dabigatran oder einem anderen Antikoagulans ist individuell nach Thrombose- bzw. Embolie-/Ischämierisiko und stattgehabter Blutungsmanifestation festzulegen; Dabigatran prinzipiell 24 Stunden nach Idarucizumab-Gabe möglich
  • Merke: Kein Bridging mit niedermolekularem Heparin!

Der indikationsgerechte Einsatz von Idarucizumab bei lebensbedrohlichen oder nicht beherrschbaren Blutungen sowie Notfalloperationen oder dringenden Eingriffen unter Dabigatran setzt keine vorangehende Verfügbarkeit von Gerinnungswerten voraus. Allerdings ist die Veranlassung einer sachgerechten Gerinnungsanalytik im Rahmen der initialen Notfalldiagnostik und zur Überprüfung des Antagonisierungserfolgs zu empfehlen.

Anwendung in der Inneren Medizin

In der Inneren Medizin sind neben der Anwendung von Idarucizumab zur sofortigen Antagonisierung der Dabigatran-Wirkungen bei akuten gastrointestinalen Blutungen – insbesondere bei Ulcus ventriculi et duodeni, Divertikulitis oder Neoplasmen im Magen oder Kolon – vor allem Anwendungen in der kardiovaskulären Medizin vorstellbar. Dies betrifft zum einen die dringende Durchführung von Herzkatheteruntersuchungen bei Patienten mit akutem Myokardinfarkt oder die notfallmäßige Durchführung von kardiochirurgischen Eingriffen. Dabei ist neben der notfallmäßigen koronaren Bypass-Operation auch die Durchführung von Aorten-Operationen bei akuter Dissektion der Aorta ascendens und die notfallmäßige Klappen-Operation bei dekompensierten Patienten mit Endokarditis vorstellbar.

In der Zwischenzeit werden aufgrund der negativen Ergebnisse der Bridging-Strategien im Zusammenhang mit Implantationen von Schrittmachern oder ICDs (implantable cardioverter-defibrillator) viele dieser Operationen unter fortgesetzter Antikoagulation durchgeführt. Dabei ist in Fällen mit ausgedehnter Hämotombildung im Bereich der OP-Felder oder der Entwicklung von Perikardergüssen nach intraatrialer beziehungsweise intraventrikulärer Sondenpositionierung die Verfügbarkeit eines sofort wirksamen Antidots für Dabigatran ein wichtiger Sicherheitsaspekt.

Ähnliches gilt für die Ausbildung von Perikardergüssen bei einer unter voller Antikoagulation mit zusätzlicher Heparin-Gabe durchgeführten Ablationstherapie von atrialen oder ventrikulären Herzrhythmusstörungen. Dabei kann der Einsatz von Idarucizumab bei Dabigatran-antikoagulierten Patienten den Verlauf der klinischen Komplikationen wesentlich zum Wohle der Patienten beeinflussen.

Anwendung in der Chirurgie und auf der Intensivstation

Zur Abschätzung des Blutungsrisikos und der Planung einer elektiven Operation sind, neben einer dauerhaften antikoagulatorischen Medikation, verschiedene Faktoren zu beachten, die das Blutungsrisiko beeinflussen können (u.a. Art und Lokalisation des operativen Eingriffs, Begleiterkrankungen und Komedikation). Somit können beispielsweise Operationen mit niedrigem Blutungsrisiko (z.B. Katarakt-Operationen, einfache Zahnextraktionen und andere kleinere Eingriffe in der Dentalchirurgie) ohne Unterbrechung der antikoagulatorischen Medikation mit Dabigatran umgesetzt werden. Operative Eingriffe mit mittlerem Blutungsrisiko (z.B. Endoskopien mit Biopsien) erfordern das rechtzeitige Absetzen von Dabigatran unter Beachtung der Nierenfunktion und Komedikation. Ist ein hohes Blutungsrisiko zu erwarten (z.B. abdominelle Chirurgie, spinale oder epidurale Anästhesie), müssen die Zeitintervalle zum Pausieren von Dabigatran, entsprechend internationalen Empfehlungen, vergrößert werden. Über die Anwendung rückenmarksnaher Regionalanästhesieverfahren bei bereits präoperativ erfolgter therapeutischer Gabe existieren für Dabigatran nur begrenzt Erfahrungen, sodass die Indikation zurückhaltend, und nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Analyse, erfolgen sollte.

Grundsätzlich müssen zur Abschätzung des Blutungsrisikos spezifische Faktoren, die mit der Einnahme von Dabigatran verbunden sind (verordnete/eingenommene Dosis, Zeitpunkt der Einnahme, Nierenfunktion) berücksichtigt werden. Beim Vorliegen einer normalen Nierenfunktion (CrCl >80 ml/min) sind bei entsprechend kurzer Halbwertszeit von Dabigatran keine relevanten plasmatischen Konzentrationen bei einer Pausierung von 24 Stunden zu erwarten. Elektive Operationen ohne erhöhtes Blutungsrisiko können entsprechend zeitnah umgesetzt werden [10].

Im Rahmen von dringlichen Eingriffen sollte interdisziplinär diskutiert werden, ob eine Intervention beziehungsweise ein operativer Eingriff gegebenenfalls um einige Stunden verschoben werden kann. Die Indikation für die Anwendung von Idarucizumab kann im Rahmen einer relevanten Blutung oder einer sofortigen Operation gestellt werden. Die Entscheidung zur Anwendung von Idarucizumab ergibt sich primär aus der klinischen Situation und sollte nicht von laborchemischen Tests abhängig gemacht werden.

Dabei sollte die klinische Anwendung von Idarucizumab in ein gerinnungstherapeutisches, patientenbezogenes Gesamtkonzept integriert werden. Dies bedeutet auch, dass eine vorliegenden Koagulopathie entsprechend zielgerichtet mit Hämostatika, gegebenenfalls einer antifibrinolytischen Therapie bzw. bei klinischer Notwendigkeit mit allogenen Blutprodukten behandelt werden muss. Die Therapie mit Hämostatika bzw. Frischplasma beim blutenden Patienten dient dabei primär der Wiederherstellung der Hämostase und nicht der Beeinflussung der antikoagulatorischen Wirkung von Dabigatran.

Die Notwendigkeit einer strukturierten Vorgehensweise bei blutenden Patienten wurde auch in der Helsinki-Deklaration zur Patientensicherheit der Europäischen Gesellschaft für Anästhesiologie hervorgehoben. Dabei wird auch die Einführung klinikspezifischer Protokolle zur Behandlung von lebensbedrohlichen Blutungen gefordert, die eine zielgerichtete und Algorithmen-basierte Therapie berücksichtigt. In diesem Zusammenhang kann die Anwendung eines viskoelastischen Verfahrens als Point-of-Care-taugliche (POCT) Methode (z.B. Thromboelastometrie) zur zeitnahen Abschätzung der Gerinnungssituation des blutenden Patienten hilfreich sein. Gegenwärtig erlauben diese Verfahren jedoch kein spezifisches Monitoring von Dabigatran oder der Faktor-Xa-Inhibitoren. Die klinische Anwendung von Idarucizumab bei einer elektiven Operation ist definitiv keine rechtfertigende Indikation und ist abzulehnen.

Im Rahmen dringlicher Interventionen, wie der Anlage zentralvenöser Zugänge, kann die Gabe von Idarucizumab in Erwägung gezogen werden. Dazu zählt beispielsweise die Anlage großlumiger Kanülen im Rahmen der Anlage einer extrakorporalen Membranoxygenierung (ECMO). Die Punktion zentralvenöser Gefäße ist ein Routineverfahren. Die Komplikationsrate kann durch die sonographisch gestützte Anlage zentralvenöser Zugänge reduziert werden.

Anwendung in der Neurologie

Intrazerebrale Blutungen unter einer oralen Antikoagulation sind eine gefürchtete Komplikation. Bei vorheriger Behandlung mit VKA liegt die Mortalitätsrate trotz Therapie mit Prothrombin-Komplex-Konzentraten bei 42% bis 67% [14]. Zunächst wurde angenommen, dass die Mortalität unter Dabigatran höher sei, jedoch lag die Mortalitätsrate in der Zulassungsstudie bei 53%, unabhängig davon, ob die Patienten zuvor Vitamin-K-Antagonisten oder Dabigatran erhielten [9]. Die Blutungsrate hingegen war bei Dabigatran deutlich und signifikant geringer (0,36%/Jahr bei Warfarin und 0,08 bis 0,09% bei Dabigatran), ebenso die Rate tödlicher intrazerebraler Blutungen.

Allgemein verschlechtert sich der Zustand bei einem erheblichen Anteil der Patienten mit intrazerebraler Blutung erst im weiteren klinischen Verlauf. Dies ist überwiegend auf das Größenwachstum des Hämatoms zurückzuführen. Von den Patienten mit intrazerebraler Blutung, die eine computertomographische Bildgebung innerhalb der ersten drei Stunden nach Symptombeginn erhalten, zeigen 28% bis 38% eine Blutungszunahme von mehr als einem Drittel. Daher empfiehlt die 2015 aktualisierte AHA/ASA-Leitlinie für das Management spontaner intrazerebraler Blutungen, diese Patienten möglichst frühzeitig zu identifizieren [11]. Patienten mit besonders hohem Risiko der Hämatomexpansion können mittels CT-Angiographie anhand eines Kontrastes innerhalb des Hämatoms (das sogenannte „spot sign“) erkannt werden.

Bisher stand für die Antagonisierung von Dabigatran bei diesen Patienten genau wie für die VKA die unspezifische Gabe von PPSB (Prothrombinkonzentrat) zur Verfügung. PPSB enthält die Vitamin-K-abhängigen Gerinnungsfaktoren Faktor II (Prothrombin), Faktor VII, Faktor X, Faktor IX sowie die antithrombotisch wirkenden Faktoren Protein C und Protein S. Durch die sofortige Aufhebung der gerinnungshemmenden Wirkung von Dabigatran durch Idarucizumab ist zu erwarten, dass bei frühzeitiger Gabe zumindest bei einem Teil der Patienten mit intrazerebraler Blutung die Größenzunahme der Blutung verhindert werden kann. Evidenz hierfür ist allerdings ausstehend.

Subdurales Hämatom

Subdurale Hämatome machen etwa ein Drittel aller intrakraniellen Blutungen unter oraler Antikoagulation aus und haben eine Mortalität von rund 20%. Im Vergleich zu einer oralen Antikoagulation mit Vitamin-K-Antagonisten ist das Risiko eines Subduralhämatoms zwar nur halb so groß, jedoch sollte auch hier eine schnelle Normalisierung der Gerinnung angestrebt werden [2].

Bei akuten subduralen Hämatomen mit raumfordernder Wirkung wird zudem üblicherweise eine rasche operative Entlastung durchgeführt. Je nach Dringlichkeit kann auf individueller Basis erwogen werden, bei Dabigatran-Patienten zur Aufhebung der Antikoagulation Idarucizumab zu verabreichen. Etwa 15 Minuten nach der Gabe von Idarucizumab kann mit der Bohrloch-Trepanation begonnen werden.

Bei chronisch-subduralen Hämatomen ohne Raumforderungswirkung ist in der Regel keine sofortige Operation notwendig. In diesen Fällen kann meist abgewartet werden, bis die Wirkung von Dabigatran in Abhängigkeit der Nierenfunktion abgeklungen ist.

Thrombolyse bei Patienten mit akutem ischämischem Schlaganfall, die mit Dabigatran behandelt werden

Wirksame Plasmaspiegel von Dabigatran stellen eine Kontraindikation für die systemische Thrombolyse mit rt-PA dar. Theoretisch kann bei Patienten mit ischämischem Insult und einer Indikation für die Thrombolyse Idarucizumab gegeben und kurz danach mit der Bolusgabe von rt-PA begonnen werden. Parallel dazu wird dann die Thrombinzeit oder die Dabigatran Konzentration mittels Haemoclot®-Test bestimmt. Ist diese normal, beziehungsweise die Dabigatran-Plasmakonzentration unter 50 ng/ml, wird die einstündige Infusion von rt-PA fortgesetzt. Ist die Thrombinzeit verlängert, wird die Gabe von rt-PA abgebrochen. Allerdings liegen hierzu bisher nur vereinzelte Fallberichte vor [1]. Vor einer generellen Empfehlung muss die Indikation streng gestellt und der Patient über den individuellen Heilversuch aufgeklärt werden. Bei einem proximalen Gefäßverschluss sollte alternativ die Thrombektomie ohne vorausgehende Thrombolyse erwogen werden.

Thrombektomie

Eine Antikoagulation, sei es mit Vitamin-K-Antagonisten oder NOAKs, stellt keine Kontraindikation für eine Thrombektomie mit Stent-Retrievern dar. Intrazerebrale Blutungskomplikationen im Rahmen der Thrombektomie sind zwar selten (0,9 bis 4,9%), können jedoch lebensbedrohlich sein, sodass in diesen Fällen die Antagonisierung mit Idarucizumab erfolgen sollte [15]. Idarucizumab kann auch eingesetzt werden, wenn es zu einem großen Hämatom im Bereich der Punktionsstelle in der Leiste kommt.

Dringende Liquordiagnostik

Besteht bei einem Patienten, der mit Dabigatran antikoaguliert wird, der Verdacht auf eine akute Meningitis mit Kopfschmerzen, hohem Fieber und Nackensteifigkeit sowie entsprechenden Laborparametern, kann die Wirkung von Dabigatran mit Idarucizumab antagonisiert werden und zehn Minuten später eine Liquorpunktion erfolgen.

Zwischenfazit

Für den klinischen Alltag ist es extrem wichtig, eine standardisierte Verfahrensanweisung für jedes Krankenhaus zum Einsatz von Idarucizumab zu erstellen. Zu den Anwendungsgebieten gehören unter anderen gastrointestinale Blutungen sowie im Bereich der Neurologie und Neurochirurgie intrazerebrale Blutungen, subdurale Hämatome und die Thrombektomie mit Stent-Retrievern. Auch eine dringende Liquordiagnostik unter Dabigatran kann den Einsatz von Idarucizumab rechtfertigen.

Die Entscheidung zur Anwendung von Idarucizumab in der Chirurgie ergibt sich primär aus der klinischen Situation und sollte nicht von laborchemischen Tests abhängig gemacht werden. Die klinische Anwendung von Idarucizumab bei einer elektiven Operation ist definitiv keine rechtfertigende Indikation.

Zukünftige Perspektiven und fehlende Daten

Leider wurde in der RE-VERSE-AD-Studie nicht systematisch bei Patienten mit intrazerebralen Blutungen eine Kontroll-Bildgebung durchgeführt, um zu überprüfen, ob es nach der Gabe von Idarucizumab genauso häufig zu einer Größenzunahme einer parenchymatösen Hirnblutung kommt, wie sie bei der Gabe von Vitamin-K-Antagonisten zu beobachten ist. Desgleichen gibt es zwar jetzt schon anekdotische Berichte über die Antagonisierung von Dabigatran bei Patienten, die systemisch lysiert werden. Hier müssen aber zunächst prospektiv die Fälle mit ihren potenziellen Blutungskomplikationen erfasst werden.

Interessenkonflikterklärung

Hans-Christoph Diener hat Honorare für Teilnahme an klinischen Studien, Mitarbeit in Advisory Boards und Vorträge erhalten von: Abbott, Allergan, AstraZeneca, Bayer Vital, Bristol-Myers Squibb, Boehringer Ingelheim, CoAxia, Corimmun, Covidien, Daiichi-Sankyo, D-Pharm, Fresenius, GlaxoSmithKline, Janssen Cilag, Lilly, Lundbeck, Medtronic, MSD, MindFrame, Neurobiological Technologies, Novartis, NovoNordisk, Paion, Parke-Davis, Pfizer, Sanofi-Aventis, Schering, Servier, Solvay, St-Jude, Syngis, Tacrelis, Thrombogenics, Wyeth und Yamanouchi. Forschungsprojekte der Universitätsklinik für Neurologie in Essen wurden unterstützt von: AstraZeneca, GSK, Boehringer Ingelheim, Novartis, Janssen-Cilag und Sanofi-Aventis. Die Universitätsklinik für Neurologie hat Forschungsmittel von den folgenden Institutionen erhalten: DFG, BMBF, EU, Bertelsmann-Stiftung und Heinz-Nixdorf-Stiftung. HC Diener besitzt keine Aktien oder Anteile von Pharmafirmen oder Medizintechnikfirmen. HC Diener war beteiligt an der Erstellung von Leitlinien der DGN, der DSG, der ESC und EHRA.

Harald Darius hat Honorare für Vorträge und Beratertätigkeiten sowie Forschungsunterstützung erhalten von: Amgen, Bayer, Boehringer Ingelheim, Bristol-Myers Squibb, Daiichi Sankyo, Novartis und Pfizer.

Andreas Greinacher hat Honorare für Advisory Boards von BMS, Instrumentation Laboratory, für Vorträge von Aspen, Boehringer Ingelheim, Macopharma, BMS, Chromatec und Forschungsunterstützung von Biomarin/Prosena, Chromatec, Macopharma, Boehringer Ingelheim, Rovi, Janssen Research & Development und Biokit erhalten.

Oliver Grottke erhielt Studienförderung von Boehringer Ingelheim, Biotest, CSL Behring, Novo Nordisk und Nycomed sowie Honorare für Referate von CSL Behring, Boehringer Ingelheim, Bayer, Baxalta, Pfizer, Portola, Octapharma und Sanofi.

Christoph Kleinschnitz: Vortragshonorare, Honorare für Beratertätigkeit und Forschungsunterstützung von: Bayer Vital, BMS, Biotronik, Boehringer lngelheim, Biogen, Daiichi-Sankyo, Eisai, Ever Pharma, Genzyme, Merck Serono, Novartis, Pfizer, Sanofi-Aventis, Rache, Siemens, Stago, Teva.

Hanno Riess: Honorare für Advisory Boards und Symposiumsvorträge von Aspen, Bayer, Boehringer Ingelheim, Bristol-Myers Squibb, Celgene, Novartis, Pfizer, Roche, Sanofi, Shire.

Joachim Röther: Honorare für Advisory Boards und Symposiumsvorträge von Bayer, Boehringer Ingelheim, Bristol-Myers Squibb, Pfizer, Sanofi, AstraZeneca, Medtronic.

Christoph Cyrill Eschenfelder und Joanne van Ryn sind Mitarbeiter von Boehringer Ingelheim.

Literatur

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Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Seniorprofessur für Klinische Neurowissenschaften, Universitätsklinik für Neurologie, Hufelandstraße 55, 45147 Essen, E-Mail: hans.diener@uk-essen.de

Prof. Dr. Harald Darius, Chefarzt der Klinik für Kardiologie, Angiologie Nephrologie & konservative Intensivmedizin, Vivantes Klinikum Neukölln, Berlin

Prof. Dr. Andreas Greinacher, Leiter der Abteilung Transfusionsmedizin am Institut für Immunologie und Transfusionsmedizin der Universitätsmedizin Greifswald

Prof. Dr. Hanno Riess, Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin

Prof. Dr. Christoph Kleinschnitz, Direktor der Universitätsklinik für Neurologie, Universitätsklinikum Essen

Prof. Dr. Joachim Röther, Chefarzt der Neurologischen Abteilung, Asklepios Klinik Altona, Hamburg

Priv.-Doz. Dr. Dr. Oliver Grottke, MPH, Universitätsklinikum Aachen, Klinik für Anästhesiologie, Experimentelle Hämostaseologie, Aachen

Dr. Christoph Cyrill Eschenfelder, Boehringer Ingelheim Pharma GmbH & Co. KG Corporate MED Europe, Ingelheim

Dr. Joanne van Ryn, Boehringer Ingelheim Pharma GmbH & Co. KG, Cardiovascular Medicine, Biberach Germany

Idarucizumab, a reversal agent for dabigatran

Dabigatran is a direct thrombin inhibitor for the prevention of stroke in patients with atrial fibrillation and the prevention and treatment of deep vein thrombosis. Idarucizumab is a humanized Fab fragment of a humanized monoclonal antibody with a high affinity for dabigatran. Idarucizumab is used in dabigatran treated patients with life-threatening or uncontrolled bleeding or in need of urgent surgery or intervention. As shown in an interim analysis of the ongoing RE-VERSE AD study idarucizumab is effective and well tolerated and normalizes abnormal coagulation parameters within a short time interval.

Key words: Anticoagulation, bleeding complications, dabigatran, idarucizumab, reversal agent, vitamin-K antagonists

Arzneimitteltherapie 2016; 34(09)