Die Medizin muss das Sterben zulassen


Dr. Peter Stiefelhagen, Hachenburg

Es liegt in der Natur der Dinge, dass dem Internisten auch die medizinische Betreuung in der letzten Lebensphase obliegt. Es gibt wohl kein Fachgebiet, in dem der behandelnde Arzt deshalb auch tagtäglich so unmittelbar mit dem Sterben konfrontiert wird. Es war daher naheliegend, dass dem Thema „Palliativmedizin“ im Rahmen des diesjährigen Internistenkongresses (29.4.–2.5.2017 in Mannheim) sehr viel Raum eingeräumt wurde.

Eine der wichtigen Fragen in diesem Zusammenhang lautet: Wann beginnt das Sterben? Diese Frage ist nicht immer einfach zu beantworten. Doch welche konkreten Anzeichen sprechen für einen wahrscheinlichen Todeseintritt? In der S3-Leitlinie Palliativmedizin wird die Sterbensphase als die letzten drei bis sieben Tage des Lebens definiert.

Alle sollten beteiligt werden

Die Einschätzung, ob es sich um die Sterbephase handelt, sollte durch ein multidisziplinäres Team erfolgen. Auch sollte die Einschätzung – wenn möglich und angemessen – mit dem Patienten und in jedem Fall mit den Angehörigen besprochen werden. Patienten, Angehörige und Betreuende müssen Gelegenheit bekommen, über ihre Wünsche, Gefühle, Ängste, Glauben und Werte sprechen zu können. Für die fünf wichtigsten Symptome, die sich in der Sterbephase entwickeln können – nämlich Delir, Rasselatmung, Mundtrockenheit, Angst bzw. Unruhe und Atemnot – sollte eine Bedarfsmedikation verschrieben und die Schmerztherapie fortgeführt werden. Immer sollte man sich auch die Frage stellen, ob diagnostische Maßnahmen und die sich daraus ergebenden therapeutischen Konsequenzen indiziert, angemessen sowie zumutbar sind und auch dem Willen des Patienten entsprechen. „Der medizinische Lärm sollte reduziert werden“, so Thomas Montag vom Zentrum für Palliativmedizin an der Uniklinik Köln.

Zur Einschätzung der Sterbephase eines Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung können, wenn akut reversible Ursachen ausgeschlossen sind, folgende Kriterien herangezogen werden:

  • Veränderungen der Atmung, der Emotionen und/oder des Bewusstseins
  • zunehmende Schwäche und ein reduzierter Allgemeinzustand
  • Hautveränderungen
  • Verwirrtheit
  • Verlust des Interesses an Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr.

„Auf solche Kriterien sollte man achten, aber entscheidend ist doch die intuitive Einschätzung der an der Behandlung Beteiligten“, so Montag. Man solle sich in solchen Situationen die Frage stellen: Wäre es eine Überraschung, wenn der Patient versterben würde. Die Diskussion im multiprofessionellen Team sollte die Selbsteinschätzung des Patienten, der Angehörigen und der Behandelnden beziehungsweise Betreuenden berücksichtigen.

Verzicht auf künstliche Flüssigkeitszufuhr

Die Frage, ob und wie lange bei Sterbenden die künstliche Zufuhr von Flüssigkeit erfolgen soll oder sogar muss, kann unterschiedlich beantwortet werden. „Der Arzt hat bei Palliativpatienten in jedem Fall für eine Basisbetreuung zu sorgen“, erläuterte Dr. Klaus Maria Perrar vom Zentrum für Palliativmedizin der Uniklinik Köln. Dazu gehöre auch das Stillen von Hunger und Durst. Doch das Sterben dürfe durch Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer begonnenen medizinischen Behandlung ermöglicht werden, wenn dies dem Willen des Patienten entspricht. „Dies gilt auch für die künstliche Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr, zumal diese für Sterbende eine schwere Belastung darstellen können“, so Perrar. Sterbende verspürten keinen Durst, quälend sei jedoch die Mundtrockenheit.

Der Verzicht auf eine assistierte Ernährung und Hydration in der Sterbephase hat für den Betroffenen sogar wesentliche Vorteile: Weniger pulmonale Sekretion, Stau, Husten und Luftnot, weniger Urinausscheidung, weniger Magen-Darm-Inhalt und dadurch weniger Erbrechen, Übelkeit, abdominelle Schmerzen, Völlegefühl, Durchfall, weniger Lagerungswechsel, weniger periphere Ödeme, weniger Schmerzen und Unwohlsein durch Zugänge und Schläuche, weniger Fixierung, um eine Manipulation an Schläuchen zu verhindern.

„Das Sterben eines Menschen bleibt als wichtige Erinnerung zurück bei denen, die weiterleben“, so Montag. Was immer in den letzten Stunden geschehe, könne viele Wunden heilen, aber auch in unerträglicher Erinnerung verbleiben.

Arzneimitteltherapie 2017; 35(06)