Game change


Krebstherapie im Wandel

Dr. med. Peter Stiefelhagen, Hachenburg

Die Jahrestagung der American Society of Clinical Onkology (ASCO) bietet alljährlich einen umfassenden Überblick über die neuen Strategien und Perspektiven in der Onkologie. Die beiden Säulen, von denen der rasante Fortschritt im Wesentlichen getragen wird, sind die Genetik und die Immunologie. Sie begründen den Paradigmenwechsel, der sich bei der Therapie vieler onkologischer Erkrankungen zurzeit vollzieht.

Ohne Genetik geht in der Onkologie nichts mehr – so könnte man plakativ den Stellenwert der modernen molekularen Diagnostik beschreiben. Unter anderem geht es darum, Risikoträger für ein erhöhtes Malignomrisiko mittels Gendiagnostik zu identifizieren. Bekanntes Beispiel ist der Nachweis von BRCA-Mutationen beim Mammakarzinom. Ein solcher beeinflusst nicht nur Therapieentscheidungen, sondern ist auch relevant für Vorsorgestrategien und Familienuntersuchungen.

Targeted therapy auf dem Vormarsch

Im Hinblick auf den Einsatz neuer zielgerichteter Therapiestrategien sollte das Genprofil des Tumors heute zur Standarddiagnostik bei vielen Tumoren (v.a. beim kolorektalen und Lungenkarzinom sowie beim malignen Melanom) gehören; denn der Nachweis von Treibermutationen hat wesentlichen Einfluss auf Therapieentscheidungen im Sinne einer personalisierten Behandlung und ist relevant für die prognostische Einschätzung. Bei fehlendem Ansprechen oder Progression gilt es, Resistenzmechanismen zu analysieren, und auch dabei ist die molekulare Diagnostik unverzichtbar.

Eine noch breitere Anwendung der molekularen Diagnostik ist durch die Einführung der Liquid Biopsy zu erwarten. Mit diesem Verfahren können nicht nur zirkulierende Stamm- und Tumorzellen aus dem Blut detektiert werden, sondern auch zellfreie Tumornukleinsäuren wie cfDNA, mikroRNA und mRNA. Nur so gelingt es, die Heterogenität des genetischen Tumorprofils zu erfassen; denn nicht alle Bereiche eines Tumors haben das gleiche Genprofil und bei Metastasen kann es wiederum anders sein als beim Primärtumor. Somit bietet die Liquid Biopsy einen umfassenderen Einblick in das genetische Tumorprofil als die Biopsie, die nicht immer möglich und auch nicht unbedingt repräsentativ für alle Tumorbereiche ist.

Tumorkontrolle mithilfe des Immunsystems

Nicht weniger spannend und Erfolg versprechend ist die Immuntherapie. Dazu gehören einmal Antikörper, die natürliche Killerzellen aktivieren und/oder Tumorzellen markieren, sodass diese durch die Antikörper-vermittelte Zytotoxizität zerstört werden. Zur Verfügung stehen auch bispezifische Antikörper, die auf der einen Seite an T-Zellen andocken und diese aktivieren. Auf der anderen Seite heften sie sich an Tumorzellen, wodurch T-Zellen und Tumorzellen in einen direkten räumlichen Kontakt gebracht werden. Ein anderes Wirkprinzip sind die Checkpoint-Inhibitoren, die bei den T-Zellen die „Bremsen“ lösen, die der Tumor ihnen angelegt hat. Nach dem malignen Melanom hat dieses Therapiekonzept mittlerweile auch in die Therapie des Lungen- bzw. Nierenzellkarzinoms und des Morbus Hodgkin Einzug gehalten. Weitere Tumoren folgen.

Es ist naheliegend, beim Einsatz eines solchen PD-1- bzw. PD-L1-Inhibitors (PD1: Programmed cell death protein 1) den Nachweis einer PD-L1/2-Expression auf den Tumorzellen zu fordern. Doch das Ansprechen auf diese Substanzen ist ein sehr komplexer Vorgang, der nicht nur von der PD-L1-Expression bestimmt wird, sondern auch vom Genprofil des Tumors und sogar von der Zusammensetzung des Mikrobioms. Mit anderen Worten: Es gibt auch Tumoren mit fehlender PD-L1-Expression, die auf einen PD-1/PD-L1-Inhibitor gut ansprechen, sodass sich PD-L1 nicht unbedingt als Biomarker zur Stratifizierung eignet. Eine gute Wirksamkeit ist dann zu erwarten, wenn unabhängig vom Tumortyp eine Mikrosatelliten-Instabilität bzw. eine Störung der DNA-Reparatur (mismatch repair deficiency) vorliegt. Je höher diese Mutationslast, umso besser sprechen Tumoren auf eine solche Immuntherapie an. Und so schließt sich der Kreis zur Genetik.

Immer komplexer

Unbestritten hat die therapeutische Vielfalt bei vielen Tumoren stark zugenommen und die Dynamik ist ungebrochen. Damit wird die Therapie zwangsläufig immer komplexer. Für den behandelnden Arzt ist es eine besondere Herausforderung, aus dem, was medizinisch möglich ist, das für den einzelnen Patienten Sinnvolle herauszufiltern. Dabei muss im Einzelfall unter Einbeziehung des Patienten entschieden werden, ob eine Zweit- oder sogar Drittlinientherapie wirklich von Nutzen ist.

Arzneimitteltherapie 2017; 35(10)