Stefan Fischer, Stuttgart
Bei einem schubförmigen Verlauf der multiplen Sklerose gehen die Symptome nach einem Krankheitsschub wieder zurück. Im Idealfall schreitet die Behinderung unter Behandlung nicht voran. In der Praxis sieht das leider oft anders aus.
Bei der primär progredienten Form kommt es nicht zu einer Rückbildung der Symptome, lediglich die Progression kann verlangsamt werden [1].
Ocrelizumab (Ocrevus®) ist angezeigt zur Behandlung erwachsener Patienten [9]
- mit schubförmiger multipler Sklerose (RMS) mit aktiver Erkrankung, definiert durch klinischen Befund oder Bildgebung.
- mit früher primär progredienter multipler Sklerose (PPMS), charakterisiert anhand der Krankheitsdauer und dem Grad der Behinderung, sowie mit Bildgebungsmerkmalen.
Pharmakologie
Depletion der B-Zellen auch bei multipler Sklerose erfolgreich
Ocrelizumab ist ein humanisierter Antikörper gegen das Antigen CD20, welches auf B-Zellen exprimiert wird. Nach Bindung an die Zelloberfläche depletiert der Wirkstoff B-Zellen (Abb. 1). Es wird angenommen, dass der Wirkungsmechanismus bei multipler Sklerose auf dieser Immunmodulation basiert.

Abb. 1. Ocrelizumab bindet an das Oberflächenantigen CD-20 auf B-Zellen. Anschließend kann die B-Zelle Komplement- oder Antikörper-abhängig sowie durch direkte Apoptose zerstört werden [7] ADCC: antibody-dependent cellular cytotoxicity; CDC: complement-dependent cytotoxicity; CR: Komplement-Rezeptor, MAC: membrane attack complex
Die mediane Zeit bis zur Rekonstitution der B-Zellen auf den Ausgangswert beträgt 72 Wochen. In dieser Zeit ist der Patient auf die übrigen Komponenten seines Immunsystems beschränkt (z.B. angeborene Immunität, T-Zellen) [9].
Pharmakokinetik
Als Antikörper wird Ocrelizumab in Peptide und Aminosäuren abgebaut. Die Ausscheidung erfolgt über den katabolen Stoffwechsel.
Für Personen unter 18 und über 54 Jahren liegen keine bzw. nur begrenzte Daten zur Pharmakokinetik vor; ebenso für mittlere und schwere Leber- oder Niereninsuffizienz. Bei leichter Einschränkung der beiden Organe zeigte sich jedoch keine Veränderung der Pharmakokinetik [9]. Weitere pharmakokinetische Eckdaten sind in Tabelle 1 aufgeführt.
Tab. 1. Pharmakokinetische Parameter von Ocrelizumab [9]
Area under the Curve (AUC) nach der 4. Gabe von 600 mg bei 24-wöchigem Dosisintervall |
3510 µg/ml/Tag |
Mittlere maximale Konzentration (Cmax) bei 600-mg-Infusion |
212 µg/ml |
Zentrales Verteilungsvolumen |
2,78 l |
Terminale Halbwertszeit |
26 Tage |
Wechselwirkungen
Aufgrund des Abbauwegs von Ocrelizumab sind keine Wechselwirkungen mit Arzneistoffen zu erwarten, die über Cytochrom-P450-Enzyme verstoffwechselt werden.
Die Sicherheit einer Impfung während der Behandlung wurde nicht untersucht.
Eine gleichzeitige Behandlung mit einem Immunsuppressivum verstärkt die immunsupprimierende Wirkung von Ocrelizumab [9].
Klinische Ergebnisse
Frühe primär progrediente multiple Sklerose (PPMS)
Die Zulassung von Ocrelizumab in dieser Indikation basiert primär auf der ORATORIO-Studie (Tab. 2) [8]. Bei Studienbeginn lag der mittlere Wert auf der Expanded Disability Status Scale bei 4,7 (EDSS: 0–10, höhere Werte für stärkere Behinderung). Die Patienten waren durchschnittlich 45 Jahre alt und die Diagnose lag im Schnitt 2,9 Jahre zurück.
Tab. 2. Studiendesign von ORATORIO [nach 2] (aus Arzneimitteltherapie 2017;35:122–3)
Erkrankung |
Primär progrediente multiple Sklerose |
Studienziel |
Vergleich von Ocrelizumab gegenüber Placebo |
Studientyp |
Interventionsstudie |
Studienphase |
Phase III |
Studiendesign |
Randomisiert, doppelblind, multizentrisch |
Eingeschlossene Patienten |
732 |
Intervention |
|
Primärer Endpunkt |
Prozentualer Anteil der Patienten mit anhaltender (nach 12 Wochen bestätigter) Behinderungsprogression |
Sekundäre Endpunkte |
|
Sponsor |
F. Hoffmann-La Roche |
Studienregisternummer |
NCT01194570 (ClinicalTrials.gov) |
MRT: Magnetresonanztomographie; SF-36: Short Form (36) Gesundheitsfragebogen
Die Studie wurde beendet, nachdem in 253 Fällen nach mindestens 12 Wochen eine Progression der Behinderung bestätigt wurde. Dieser (primäre) Endpunkt trat bei 32,9% der Patienten im Ocrelizumab-Arm und bei 39,3% unter Placebo auf (Hazard-Ratio 0,76). Bis auf die Veränderung des SF-36 (Short-Form 36) waren auch alle anderen Verbesserungen signifikant.
Schubförmige multiple Sklerose (RMS)
Wirksamkeit und Sicherheit von Ocrelizumab bei schubförmiger multipler Sklerose wurden in den identisch angelegten Studien OPERA I und II untersucht (Tab. 3) [5]. Der Mittlere EDSS lag in der Studienpopulation zu Beginn bei etwa 2,8; das Alter bei 37 Jahren. Die mittlere Krankheitsdauer seit Diagnose betrug circa 4 Jahre. Die Patienten litten unter einer aktiven Erkrankung: Entweder waren sie noch nicht vorbehandelt oder hatten auf eine vorausgehende Behandlung kein ausreichendes Ansprechen gezeigt.
Tab. 3. Studiendesign der identischen Studien OPERA I und OPERA II [nach 1] (aus Arzneimitteltherapie 2017;35:122–3)
Erkrankung |
Remittierende schubförmige multiple Sklerose |
Studienziel |
Vergleich von Ocrelizumab gegenüber Interferon beta-1a |
Studientyp |
Interventionsstudie |
Studienphase |
Phase III |
Studiendesign |
Randomisiert, Placebo-kontrolliert, doppelblind, multizentrisch, international |
Eingeschlossene Patienten |
1656 (OPERA I: 821 Patienten, OPERA II: 835 Patienten) |
Intervention |
|
Primärer Endpunkt |
Jährliche Rezidivquote nach 96 Wochen |
Sekundäre Endpunkte |
|
Sponsor |
F. Hoffmann-La Roche |
Studienregisternummer |
NCT 01247324 (ClinicalTrials.gov) |
EDSS: expanded disability status scale; MRT: Magnetresonanztomographie; SF-36: Short Form (36) Gesundheitsfragebogen
Die jährliche Schubrate (primärer Endpunkt) wurde in OPERA I bzw. II im Vergleich zu Interferon beta-1a um 46% (0,16 vs. 0,29) bzw. 47% (0,16 vs. 0,29) reduziert. Auch das Risiko für eine nach 12 Wochen bestätige Behinderungsprogression während des 96-wöchigen Studienzeitraums wurde um 40% (9,1% vs. 13,6%) gesenkt (gepoolte Analyse). Die weiteren klinischen und Bildgebungs-Endpunkte waren ebenfalls besser unter Ocrelizumab. Die Veränderungen im MSFC (multiple sclerosis functional composite) und SF-36 waren allerdings nur in einer der beiden Studien signifikant.
Infusionsbedingte Nebenwirkungen und Infektionen
Infusionsbedingte Nebenwirkungen waren in klinischen Studien zu Ocrelizumab die häufigsten unerwünschten Ereignisse. Die Gesamtinzidenz bei RMS-Patienten betrug 34% versus 9,9% in der Interferon-Gruppe (mit Placebo-Infusion). Das Auftreten solcher Reaktionen war bei der ersten Infusion am höchsten [2].
Infektionen traten bei 58,5% der RMS-Patienten auf (52,5% unter Interferon beta-1a). Bei PPMS-Patienten konnten unter Ocrelizumab versus Placebo auch mehr lebensbedrohliche (1,6% vs. 0,4%) und tödliche Infektionen (0,6% vs. 0%) festgestellt werden. Es wurde ebenfalls eine Zunahme von Herpesinfektionen beobachtet.
Eine Verminderung der neutrophilen Granulozyten war unter Ocrelizumab häufiger als unter Placebo, aber seltener als unter Interferon beta-1a.
Es kam nur in wenigen Fällen zur Bildung von Antikörpern gegen Ocrelizumab.
In der Praxis [2]
- Die Initialdosis (600 mg) wird auf zwei Infusionen aufgeteilt (je 300 mg) und im Abstand von zwei Wochen gegeben. Die Folgedosen werden alle 6 Monate verabreicht. Sollten lebensbedrohliche infusionsbedingte Reaktionen auftreten, muss die Behandlung endgültig beendet werden. Bei weniger schweren Reaktionen muss die Infusion nur unterbrochen beziehungsweise verlangsamt werden. Nach angemessener Behandlung kann die Therapie fortgesetzt werden. Alle Patienten müssen vor der Infusion mit Methylprednisolon und einem Antihistaminikum behandelt werden.
- Bei Patienten mit Leber- oder Nierenfunktionsstörung ist voraussichtlich keine Anpassung der Dosis notwendig.
- Es muss auf Anzeichen einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML) geachtet werden. In den Zulassungsstudien traten allerdings keine Fälle auf.
- Bei allen Patienten ist vor Beginn der Behandlung eine Hepatitis-B-Virus-Serologie durchzuführen.
- Das (Wieder-)Auftreten einer malignen Erkrankung sollte bei Risikopatienten überwacht werden. In klinischen Studien wurde eine erhöhte Anzahl maligner Erkrankungen beobachtet.
- Patienten in schwer immunsupprimiertem Zustand dürfen erst behandelt werden, wenn die Immunsuppression behoben ist.
- Eine Impfung mit attenuierten Lebendimpfstoffen oder Lebendimpfstoffen wird während einer Behandlung mit Ocrelizumab und bis zur B-Zell-Repletion nicht empfohlen. Für Patienten, die eine Impfung benötigen, sollte die Immunisierung mindestens sechs Wochen vor der ersten Ocrelizumab-Dosis abgeschlossen sein.
- Ocrelizumab soll während einer Schwangerschaft nicht angewendet werden. Aufgrund möglicher B-Zell-Depletion bei Säuglingen von Müttern, die während der Schwangerschaft mit Ocrelizumab behandelt wurden, müssen entsprechende Säuglinge überwacht werden.
Fazit
Die Wirksamkeit von Ocrelizumab gegenüber Interferon beta-1a wurde in den Zulassungsstudien bei schubförmiger multipler Sklerose belegt. Das lange Dosierungsintervall ist ein Vorteil gegenüber Interferon, das bei vielen Patienten wegen der grippeartigen Nebenwirkungen unbeliebt ist. Allerdings kann es unter Ocrelizumab zu schwerwiegenden Nebenwirkungen kommen, deren Häufigkeit noch nicht sicher abgeschätzt werden kann. Der Vergleich mit anderen MS-Medikamenten steht noch aus. Das trifft aber auch auf die übrigen Alternativen von Interferon zu.
In der Indikation „primär progrediente MS“ ist Ocrelizumab die erste zugelassene Option.
Die Jahrestherapiekosten mit Ocrevus® (4×300 mg) belaufen sich auf circa 33000 Euro. Das liegt in einem ähnlichen Bereich wie eine Behandlung mit Lemtrada® (Alemtuzumab; ca. 32000 Euro für 3×12 mg). Eine Behandlung mit Interferon beta 1a ist (in Abhängigkeit vom jeweiligen Präparat) günstiger.
Kommentar: Warum wurde eigentlich nicht Rituximab zugelassen?
Rituximab wird bereits seit einiger Zeit off Label bei multipler Sklerose verordnet – auch bei der primär progredienten Form. Zur Wirksamkeit existieren nicht nur Erfahrungen aus der Praxis, sondern auch im Studienumfeld [3, 4, 6]. Trotzdem wurde keine Zulassungserweiterung angestrebt, sondern die Neuzulassung für Ocrelizumab.
Der direkte Vergleich der beiden Antikörper aus klinischer Sicht wird nach Zulassung von Ocrelizumab wahrscheinlich nie mehr im Studienumfeld untersucht werden, es lassen sich aber theoretische Überlegungen anstellen:
- Der Wirkungsmechanismus ist identisch.
- Die Verträglichkeit/Wirksamkeit von Ocrelizumab könnte besser sein als die von Rituximab, da es sich um einen humanisierten Antikörper handelt. Allerdings existieren mehr Langzeitdaten zu Rituximab.
Unabhängig von dieser Diskussion ist es gut, dass nun eine zugelassene Option existiert, insbesondere für die primär progrediente MS. Das schafft Sicherheit für die Therapie der Patienten und entbindet die Ärzte von der Verantwortung, die mit einer Off-Label-Verschreibung verbunden ist.
Natürlich wäre die Zulassungserweiterung von Rituximab für das Gesundheitssystem günstiger gewesen. Allerdings kann man einer Aktiengesellschaft kaum vorwerfen, dass sie Geld verdient, indem sie mit Ocrelizumab ein neues Medikament auf den Markt bringt. Die Zulassungserweiterung von Rituximab ist dagegen weniger Profit-versprechend, insbesondere da es schon Biosimilars gibt. Es muss ein Weg gefunden werden, auf dem die gesamte Gesellschaft und nicht nur ein Pharma-Unternehmen finanziell von Erkenntnissen aus der Off-Label-Verschreibung profitieren kann. Schließlich wurden diese Erfahrungen oft auf Kosten der Ärzte gewonnen, die für diese Verschreibungen Verantwortung tragen mussten. Im konkreten Fall hätte man eine erleichterte Zulassungserweiterung für Rituximab ermöglichen können und so eine günstigere Option als Ocrelizumab erhalten. Natürlich müssen dafür die rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden, ohne dabei die Sicherheit der Patienten zu gefährden.
Interessenkonflikterklärung
sf ist Mitarbeiter der Mediengruppe Deutscher Apotheker Verlag. Es bestehen keine Interessenkonflikte.
Key words: Ocrelizumab, multiple sclerosis, primary progressive, relapsing
Es steht in der AMT
Siehe auch: Ocrelizumab. Mitteilung zur Nutzenbewertung des IQWiG. Notizen in dieser Ausgabe der Arzneimitteltherapie auf S. 227.
Literatur
1. Dietel M, Suttorp N, Zeitz M (Hrsg.).Harrison Innere Medizin. Berlin: ABW Wissenschaftsverlag, 2009:3231–2.
2. European Medicines Agengy (EMA). Ocrevus: EPAR – Product Information. www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/EPAR_-_Product_Information/human/004043/WC500241124.pdf (Zugriff am 09.03.2018).
3. Granqvist M, et al. Comparative effectiveness of rituximab and other initial treatment choices for multiple sclerosis. JAMA Neurol 2018;75:320–7.
4. Hauser SL, et al. B-Cell Depletion with rituximab in relapsing–remitting multiple sclerosis. N Engl J Med 2008;358:676–88.
5. Hauser SL, et al. Ocrelizumab versus interferon beta-1a in relapsing multiple sclerosis. N Engl J Med 2017;376:221–34.
6. Hawker K, et al. Rituximab in patients with primary progressive multiple sclerosis: results of a randomized double-blind placebo-controlled multicenter trial. Ann Neurol 2009;66:460–71.
7. Jaglowski SM et al. The clinical application of monoclonal antibodies in chronic lymphocytic leukemia. Blood 2010;116:3705–14.
8. Montalban X, et al. Ocrelizumab versus placebo in primary progressive multiple sclerosis. N Engl J Med 2017;376:209–20.
9. Roche. Fachinformation Ocrevus (Stand: Februar 2018).
Dr. Stefan Fischer, Birkenwaldstraße 44, 70191 Stuttgart, E-Mail: sfischer@dav-medien.de
Ocrelizumab: treatment of relapsing-remitting and primary progressive multiple sclerosis
Ocrelizumab is an anti-CD20 antibody. In January 2018 the European Commission issued marketing authorization. Ocrelizumab is indicated for the treatment of patients with relapsing forms of multiple sclerosis (RMS) and for patients with primary progressive disease (PPMS). There are three phase III studies showing clinical efficacy and safety. Two studies compare ocrelizumab to interferon beta-1a (RMS) and another one to placebo (PPMS).
Arzneimitteltherapie 2018; 36(06):207-210