Beatrice Hamberger, Berlin
Die spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine seltene Erkrankung, die zu den häufigsten genetisch bedingten Todesursachen bei Säuglingen und Kleinkindern zählt. Bisher gab es keine Therapie, die die fortschreitende Atrophie und Muskelschwäche hätte aufhalten können. Bei der schwersten Form – der infantilen SMA (Typ I) – führt die Erkrankung durch ein zunehmendes respiratorisches Versagen und ein kontinuierliches Fortschreiten der allgemeinen Schwäche meist innerhalb von zwei bis drei Jahren zum Tod. Ursache ist eine Mutation des SMN1-Gens, die zu einem Mangel an funktionsfähigen SMN(Survival of motor neuron)-Proteinen führt. In der Folge sterben nach und nach Motoneuronen im Rückenmark und im unteren Hirnstamm ab. Der Schweregrad der Erkrankung (Typ I bis IV) korreliert dabei weitgehend mit der Menge an verfügbarem SMN-Protein [5, 8, 9].
Mit der Zulassung von Nusinersen (Spinraza®) steht Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit diagnostizierter 5q-assoziierter SMA nun erstmals eine medikamentöse Behandlungsoption zur Verfügung. Das Antisense-Oligonukleotid greift in zelluläre Prozesse am SMN2-Gen ein – einem Reservegen von SMN1 – und kann so die Produktion von vollständigem und funktionsfähigem SMN-Protein erhöhen [6, 7].
Studien belegen Wirksamkeit und Verträglichkeit
In den beiden zulassungsrelevanten Studien ENDEAR [2] und CHERISH [3] (Tab. 1) konnten die Patienten motorische Meilensteine und eine Verbesserung der Muskelfunktion erreichen, die bei einem unbehandelten Krankheitsverlauf bislang nicht beobachtet werden konnten [4]. Zu nennen sind hier unter anderem Fähigkeiten wie selbstständig zu sitzen oder zu stehen. Bei Säuglingen mit der potenziell lebensbedrohlichen SMA I führte Nusinersen zu einer signifikanten Senkung des Sterberisikos beziehungsweise des Risikos einer permanenten Beatmung um 47% (p<0,01). Zudem zeigte Nusinersen ein günstiges Nutzen-Risiko-Profil [2, 3].
Tab. 1. Studiendesign von ENDEAR (A study to assess the efficacy and safety of Nusinersen [ISIS 396443] in infants with spinal muscular atrophy) [2] und CHERISH (A study to assess the efficacy and safety of Nusinersen [ISIS 396443] in participants with later-onset spinal muscular atrophy [SMA]) [3]
ENDEAR |
CHERISH |
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Erkrankung |
Spinale Muskelatrophie (SMA) |
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Studienziel |
Wirksamkeit und Verträglichkeit von Nusinersen bei Patienten mit infantiler spinaler Muskelatrophie (Typ I) |
Wirksamkeit und Verträglichkeit von Nusinersen bei Patienten mit spinaler Muskelatrophie, deren Symptomatik frühestens nach 6 Monaten eingesetzt hatte (Typ II) |
Studientyp |
Interventionsstudie |
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Studienphase |
Phase III |
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Studiendesign |
Multizentrisch, randomisiert, doppelblind, Placebo-kontrolliert, parallel |
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Eingeschlossene Patienten |
122 Säuglinge Randomisierung im Verhältnis 2:1 |
126 Patienten im Alter zwischen 2 und 12 Jahren Randomisierung im Verhältnis 2:1 |
Intervention |
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Primäre Endpunkte |
Unterschied zwischen Baseline und Monat 15 im HINE-Score (Hammersmith infant neurological examination), Zeit bis zum Tod bzw. bis zur Beatmung |
Unterschied zwischen Baseline und Monat 15 im HFMSE-Score (Hammersmith functional motor scale expanded) |
Sekundäre Endpunkte |
Anteil der CHOP-INTEND-Responder (Children’s hospital of Philadelphia infant test of neuromuscular disorders), Anteil der CMAP-Responder (Compound muscle action potential), weitere |
Anzahl neuer motorischer Meilensteine pro Patient, Unterschied zwischen Baseline und Monat 15 im RULM-Test (Revised upper limb module), Fähigkeit alleine zu stehen, Fähigkeit mit Hilfe zu laufen, weitere |
Sponsor |
Biogen |
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Studienregister-Nr. |
NCT02193074 (ClinicalTrials.gov) |
NCT02292537 (ClinicalTrials.gov) |
Die beiden Studien mit Säuglingen (ENDEAR) bzw. Kindern zwischen 2 und 12 Jahren (CHERISH) waren auch die Grundlage für die frühe Nutzenbewertung durch den G-BA. Dieser hatte im Januar einen „erheblichen“ Zusatznutzen für Säuglinge mit früh einsetzender SMA (Typ I) festgestellt. Es ist die höchste Kategorie zum Ausmaß des Zusatznutzens, die der Ausschuss vergibt. Für Kleinkinder, die in der Regel vor dem zweiten Lebensjahr erste Symptome zeigen (Typ II), sah der G-BA einen „beträchtlichen“ Zusatznutzen gegeben. Für die später einsetzenden SMA-Typen III und IV wurde der festgestellte Zusatznutzen von Nusinersen als „nicht quantifizierbar“ bewertet [1].
Kinder so früh wie möglich behandeln
Die klinischen Erfahrungen legen nahe, dass Nusinersen so früh wie möglich nach der Diagnose gegeben werden sollte, da dann die Chance am größten ist, Motoneuronen zu retten und die Progressionsrate abzuschwächen. Inwieweit Jugendliche und Erwachsene von Nusinersen profitieren, ist aufgrund unzureichender Studiendaten derzeit unklar. Auch stellt sich die Frage, wie klinische Effekte bei chronischen Verläufen beurteilt werden können. Da bereits verhältnismäßig kleine Veränderungen – zum Beispiel einen Finger bewegen zu können – individuell eine große Bedeutung haben können, gilt es in Zukunft, zusätzliche Outcome-Parameter zu definieren.
Nusinersen wird intrathekal im Bereich der Lendenwirbel per Lumbalpunktion direkt in den Liquorraum injiziert. Die Therapie beginnt mit vier Aufsättigungsdosen in den ersten zwei Monaten an den Tagen 0, 14, 28 und 63, anschließend wird alle vier Monate eine Erhaltungsdosis (12 mg/5 ml) verabreicht. Dadurch erhalten Patienten im ersten Jahr insgesamt sechs Applikationen sowie ab dem zweiten Jahr drei Applikationen als Erhaltungsdosis [7].
Die Lumbalpunktion ist eine Herausforderung, die nur von spezialisierten Ärzten – am besten in interdisziplinären Teams – durchgeführt werden sollte. Wird eine Behandlung von Jugendlichen und Erwachsenen in Betracht gezogen, sollte eine ausführliche Aufklärung über die fehlende klinische Evidenz erfolgen. Bei Verschlechterung oder Komplikationen muss die Therapie unter Umständen abgebrochen werden.
Quelle
Prof. Dr. Thomas Meyer, Berlin, Dr. Claudia Wurster, Ulm, Symposium „Neue Perspektiven in der Therapie der Spinalen Muskelatrophie (SMA)“, veranstaltet von Biogen im Rahmen der 62. Wissenschaftlichen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung (DGKN), Berlin, 15. März 2018.
Literatur
1. Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL): Anlage XII-Beschlüsse über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach § 35a SGB V – Nusinersen. Beschlussdatum: 21.12.2017, Inkrafttreten: 21.12.2017.
2. ClinicalTrials.gov; NCT02193074.
3. ClinicalTrials.gov; NCT02292537.
4. Committee for Orphan Medicinal Products (COMP). Public designation. 24. April 2012; EMA/COMP/136041/2012.
5. Darras B, et al. Spinal muscular atrophies. In: Vivo BTD (Hrsg.). Neuromuscular Disorders of Infancy, Childhood, and Adolescence. 2. Auflage. San Diego: Academic Press, 2015: 117–45.
6. European Medicines Agency (EMA). First medicine for spinal muscular atrophy. 21. April 2017; EMA/250453/2017.
7. Fachinformation Spinraza®, Stand: November 2017.
8. Farrar MA, Kiernan MC. Neurotherapeutics 2015;12:290–302.
9. Lunn MR, Wang CH. Lancet 2008;371:2120–33.
Arzneimitteltherapie 2018; 36(06):213-223