Dr. Miriam Sonnet, Rheinstetten
Cannabis und Cannabinoide könnten in Zukunft bei nichttumorbedingten Schmerzen (chronic noncancer pain, CNCP) noch häufiger zum Einsatz kommen. Die Datenlage zur Effizienz ist aber nicht eindeutig: in manchen Studien wird über eine gute Wirksamkeit berichtet, in anderen wiederum sind die Effekte nur gering [1–3].
Mit einem neuen Review lieferten die Autoren jetzt eine umfassendere Analyse der Wirksamkeit von Cannabis und Cannabinoiden bei CNCP-Patienten. Eingeschlossen wurden unter anderem Studien, in denen man Patienten mit neuropathischen Schmerzen, CNCP, Arthritis oder Fibromyalgie untersuchte und in denen mindestens eines von drei Outcomes (Schmerzintensität und eine 30%ige bzw. 50%ige Reduktion der Beschwerden) nach der Nutzung von Cannabis und Cannabinoiden adressiert worden war.
104 Studien mit 9958 Teilnehmern
Das Review umfasste insgesamt 91 Publikationen, die 104 Studien beinhalteten. Davon gab es 47 randomisierte kontrollierte (RCT) und 57 Beobachtungsstudien, in denen insgesamt 9958 Teilnehmer untersucht worden waren. In 76 Studien waren Schmerzen die Haupt- und in 28 Publikationen die sekundäre Indikation. Die detaillierteren Outcomes sind in Tabelle 1 dargestellt.
Tab. 1. Untersuchte Outcomes [nach Stockings E et al. 2018]
Outcome* |
Anzahl der Studien |
Schmerzintensität |
100 |
Unerwünsche Ereignisse |
81 |
Rückzug aus der Studie |
71 |
Physische Funktion |
52 |
Emotionale Funktion |
43 |
Vom Patienten angegebene Veränderung |
24 |
* In zwei Studien wurden alle Outcomes adressiert.
Cannabinoide wurden in vier Studien als Erstlinientherapie und in weiteren 87 als Zweitlinientherapie eingesetzt. Bei 13 Untersuchungen war die therapeutische Hierarchie unklar. Das am häufigsten verwendete Cannabinoid war Nabiximols, gefolgt von Cannabis sativa. Weitere Informationen über die Cannabinoide sind online verfügbar in einem Worddokument: http://links.lww.com/PAIN/A592.
Review kann Wirksamkeit nicht bestätigen
Die Ergebnisse des Reviews liefern nur eine eingeschränkte Evidenz für die Wirksamkeit von Cannabinoiden bei CNCP. Zwar war in RCTs (n = 8) die Wahrscheinlichkeit, eine 30 %ige Schmerzreduktion mit einer Cannabinoid-Therapie zu erzielen, höher als mit Placebo (Tab. 2); eine 50 %ige Schmerzreduktion konnte aber mit Cannabinoiden nicht besser erreicht werden (RCTs: n = 5). In zwei Beobachtungsstudien gab es jedoch Hinweise auf eine 50%ige Schmerzreduktion unter Cannabinoidbehandlung.
Tab. 2. Ergebnisse des Reviews für RTCs [nach Stockings E et al. 2018]
Outcome |
Zusammengefasste Odds-Ratios (95%-KI) |
Zusammengefasste Eventrate [%] Cannabinoid versus Placebo |
Number needed to treat |
30%ige Schmerzreduktion |
1,46 (1,16–1,84) |
29,0 % vs. 25,9 % |
24 (15–61) |
50%ige Schmerzreduktion |
1,43 (0,97–2,11) |
18,2 % vs. 14,4 % |
N.A. |
Vom Patienten angegebene Veränderung („starke“ oder „sehr starke“ Veränderung) |
1,62 (1,34–1,96) |
18,9 % vs. 11,8 % |
38 (27–62) |
Zusammengefasste Odds-Ratios (95%-KI) |
Zusammengefasste Eventrate [%] Cannabinoid versus Placebo |
Number needed to treat, um Nachteil zu erzielen (95%-KI) |
|
Nebenwirkungen |
2,33 (1,88–2,89) |
81,2 % vs. 66,2 %) |
6 (5–8) |
KI = Konfidenzintervall; N.A.: nicht verfügbar
In den RCTs konnten die Substanzen die Schmerzintensität stärker lindern als Placebos (standardisierte mittlere Differenz [SMD] 0,14; 95%-Konfidenzintervall [KI] –0,2 bis –0,08). Laut Autoren entspricht dies einer Reduktion auf einer 100 mm visuellen Analogskala (VAS), die 2,9 mm größer ist als bei Placebo (95%-KI –4,61 bis 1,46). In den Beobachtungsstudien mit Kontrollgruppe waren die Effekte der Cannabinoide im Vergleich zu Placebo nicht signifikant. Wurde die Wirksamkeit jedoch vor und nach der Einnahme untersucht und keine Vergleichsgruppe einbezogen, gab es eine signifikante Reduktion der Schmerzintensität.
Hinsichtlich physischer Funktion und Lebensqualität gab es in den RCTs (n = 18 bzw. n = 11) keine Hinweise auf eine Überlegenheit der Cannabinoide. Manche Patienten gaben allerdings an, mit Nabiximols besser schlafen zu können. Auch bei der emotionalen Funktion zeigte die Cannabinoid-Therapie meist keine Vorteile, mit Ausnahme einer Studie: Hier wurde eine Verbesserung der emotionalen Funktion durch Dronabinol im Vergleich zu einem Placebo festgestellt.
Bei Patienten unter Cannabinoid-Behandlung war die Wahrscheinlichkeit des Rückzugs aus der Studie zweimal so hoch wie bei Probanden unter Placebo. Die Wahrscheinlichkeit, aufgrund von Nebenwirkungen auszuscheiden, war 3,47-mal so hoch. Auch das allgemeine Risiko für Nebenwirkungen wie Schwindel, kognitive Störungen oder Verwirrtheit war mit der Einnahme von Cannabinoiden höher (Tab. 2).
Fazit der Studienautoren
Laut den Autoren der Studie ist die Evidenz für eine Wirksamkeit von Cannabinoiden bei CNCP immer noch begrenzt. Die Anzahl der Patienten, die behandelt werden müssen, um einen Benefit zu erzielen, ist relativ hoch. Im Gegensatz dazu treten Nebenwirkungen schnell auf und nur wenige Patienten müssen behandelt werden, um Nachteile durch die Therapie zu erfahren. Langzeiteffizienz und -Sicherheit der Substanzen sind weiterhin unbekannt.
Die Autoren folgern, dass eine Monotherapie mit Cannabinoiden CNCP-Patienten nur wenige Vorteile erbringt. Grund seien unter anderem die komplexen Komorbiditäten, unter denen die Betroffenen leiden. Eine multidisziplinäre Therapie, inklusive physischer- und Psychotherapie, sei wahrscheinlich effektiver als eine alleinige Medikation.
Quelle
Stockings E, Campbell G, Hall WD, Nielsen S, Zagic D, Rahman R et al. Cannabis and cannabinoids for the treatment of people with chronic noncancer pain conditions: a systematic review and meta-analysis of controlled and observational studies. Pain. 2018 Oct;159(10):1932–1954.
Literatur
1. Aviram J, Samuelly-Leichtag G. Efficacy of cannabis-based medicines for pain management: a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. Pain Physician 2017;20:E755–96.
2. Petzke F, et al. Efficacy, tolerability and safety of cannabinoids for chronic neuropathic pain: a systematic review of randomized controlled studies (article in German). Schmerz 2016;30 : 62–88.
3. Whiting PF, et al. Cannabinoids for medical use: a systematic review and metaanalysis. JAMA 2015;313 : 2456–73.
Arzneimitteltherapie 2018; 36(12):444-452