Bernhard Wörmann, Berlin
Seit dem 1. Januar 2011 wird in Deutschland eine frühe Nutzenbewertung neu zugelassener Arzneimittel durchgeführt [4]. Grundlage war das im Jahr 2010 verabschiedete Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG). Ziele des Gesetzes waren wirtschaftliche Einsparungen bei den Ausgaben für Arzneimittel und eine Qualitätsverbesserung der Arzneimitteltherapie. Im internationalen Vergleich wurde diese Nutzenbewertung relativ spät eingeführt. Damit konnte auf den Erfahrungen anderer Länder, z. B. Großbritannien, aufgebaut werden. Die Durchführung wurde dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), dem zentralen Organ der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, übertragen. Das AMNOG-Verfahren zeichnet sich durch einige Besonderheiten aus. Diese sind:
- Beginn des Verfahrens der frühen Nutzenbewertung unmittelbar nach der Markteinführung und Abschluss innerhalb von 12 Monaten
- Überlassung der Preisbildung für das erste Jahr an den pharmazeutischen Unternehmer
- Festlegung des Nutzens eines neuen Arzneimittels als Zusatznutzen gegenüber einer zu Beginn des Verfahrens vom G-BA festgelegten, zweckmäßigen Vergleichstherapie
- Festlegung des Zusatznutzens für definierte Subgruppen innerhalb einer Indikation
- Verhandlung der gültigen Erstattungsbeträge (Rabatte vom Einstiegspreis) ab dem zweiten Jahr zwischen den gesetzlichen Krankenkassen und den pharmazeutischen Unternehmen mit Gültigkeit ab dem zweiten Jahr
- Veröffentlichung der Dossiers, der Berichte, der Stellungnahmen, des Wortprotokolls der Anhörung, der Festlegung und der tragenden Gründe im offenen Portal des G-BA [7]
In den letzten Jahren fanden mehrere gesetzliche Anpassungen statt [1, 8]. Da die AMNOG-Verfahren stringent und strukturiert innerhalb eines Jahres abgeschlossen werden, sind die Ergebnisse der frühen Nutzenbewertung in vielen anderen Ländern und Regionen ein Element der jeweils eigenen Nutzenbewertung und Preisbildung geworden. Für die pharmazeutische Industrie ist Deutschland ein interessanter Markt. Deutschland gehört mit der Schweiz zu den Ländern in Europa, in denen neue Arzneimittel besonders früh nach der Zulassung durch die European Medicines Agency (EMA) im Markt eingeführt werden.
Die Ad-hoc-Kommission der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) erstellt regelmäßige Berichte zur Nutzenbewertung aller Fachgebiete [2, 3]. Im Bereich der Onkologie analysiert die DGHO (Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie) die Methodik [6], einzelne Verfahren [5] und ordnet die Ergebnisse der frühen Nutzenbewertung in einem eigenen Portal in den Stand des Wissens und vor allem in den Kontext von Leitlinien ein [9].
Inhalt dieses Artikels sind die Ergebnisse der frühen Nutzenbewertung in der Onkologie.
Abgeschlossene Verfahren
Bis Ende 2018 wurden vom G-BA insgesamt 348 Verfahren mit einer Festlegung zum Zusatznutzen abgeschlossen. Weitere Verfahren wurden eröffnet, aber aus verwaltungstechnischen Gründen nicht mit einer Bewertung abgeschlossen, beispielsweise aufgrund der Einordnung in eine Festpreisgruppe.
Bis Ende 2018 waren in der Onkologie 132 Verfahren zu neuen Arzneimitteln bzw. zu Arzneimitteln in neuen Indikationen abgeschlossen worden. Damit machen die Onkologika mehr als ein Drittel aller Verfahren der frühen Nutzenbewertung aus.
Abbildung 1 zeigt, dass in den letzten Jahren für sehr viele Tumorentitäten neue Arzneimittel zugelassen worden sind.
Einen besonderen Innovationsschub gab es beim Lungenkarzinom, Melanom und multiplen Myelom. In Abbildung 1 sind auch einzelne Arzneimittel aufgeführt, deren Bewertung vom G-BA bis Ende 2018 noch nicht abgeschlossen war.
Die Zahl von Verfahren der frühen Nutzenbewertung in der Onkologie ist insbesondere seit 2016 stark gestiegen (Abb. 2).
Im Jahr 2017 machten Onkologika mehr als die Hälfte aller Verfahren der frühen Nutzenbewertung beim G-BA aus.

Abb. 1. Neue Arzneimittel in der Onkologie seit 2011 ALL: Akute lymphatische Leukämie; AML: akute myeloische Leukämie; CLL: chronische lymphatische Leukämie; CML: chronische myeloische Leukämie; GVHD: graft-versus-host disease; MPN: myeloproliferative Neoplasien

Abb. 2. Abgeschlossene Verfahren der frühen Nutzenbewertung in der Onkologie 2012–2018
Festlegungen des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) in der Onkologie
Bis Ende 2018 hatte der G-BA 132 Verfahren in der Onkologie mit einer Festlegung abgeschlossen [7]. In unsere Auswertung sind 139 Verfahren aufgenommen worden. Der Unterschied erklärt sich durch die jeweiligen Kategorisierungen. Wir haben zusätzlich Verfahren zu Arzneimitteln der supportiven Therapie, beispielsweise zur Antiemese (Netupitant, Rolapitant) und zur Prophylaxe bzw. Behandlung infektiöser Komplikationen aufgenommen.
In § 35a des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung (Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz – AMNOG) ist festgelegt, dass die Dossiers der pharmazeutischen Unternehmer „insbesondere … Angaben enthalten müssen zur Anzahl der Patienten und Patientengruppen, für die therapeutisch bedeutsamer Zusatznutzen besteht.“ Diese Vorgabe setzt der G-BA durch die Festlegung von Subgruppen zu Beginn jedes neuen Verfahrens um.
Entsprechend der Systematik der frühen Nutzenbewertung wurden in den 139 Onkologie-Verfahren insgesamt 238 Subgruppen definiert und mit einer Festlegung abgeschlossen. Ergebnisse dieser Verfahren sind in Abbildung 3 dargestellt.

Abb. 3. Vollständig durchgeführte, mit einer Festlegung abgeschlossene Verfahren der frühen Nutzenbewertung 2011–2018 in der Onkologie (238 Subgruppen)
Das häufigste Ergebnis der frühen Nutzenbewertung war Zusatznutzen nicht belegt. Diese Festlegung wurde in 116 von 239 Subgruppenanalysen (48,5 %) getroffen. Die nächsthäufige Kategorisierung war beträchtlicher Zusatznutzen (19,2 %), gefolgt von nicht quantifizierbarer Zusatznutzen. Letzterer wurde vor allem bei Arzneimitteln mit Orphan-Drug-Zulassung zuerkannt. Ein erheblicher Zusatznutzen wurde bisher einmal in der Onkologie zuerkannt, in einer Subgruppe des Verfahrens zu Afatinib bei Patienten mit nichtkleinzelligem Lungenkarzinom und Nachweis einer aktivierenden EGFR-Mutation. Ein geringerer Nutzen, das heißt de facto ein Schaden im Vergleich mit der zweckmäßigen Vergleichstherapie, wurde in vier Verfahren festgestellt. Betroffen waren Subgruppen der Verfahren zu Afatinib bei Patienten mit nichtkleinzelligem Lungenkarzinom und Nachweis einer aktivierenden EGFR-Mutation sowie zu Eribulin bei Patienten mit metastasiertem Mammakarzinom. Zwei dieser Festlegungen wurden in späteren, erneuten Verfahren revidiert.
Vergleich der Onkologie mit anderen Fachgebieten
Ein Anteil von fast 50 % aller Verfahren mit „Zusatznutzen nicht belegt“ erscheint hoch. Wir haben die Ergebnisse der Onkologie mit anderen Verfahren verglichen, ebenfalls aufgeteilt nach den Subgruppen. Die Ergebnisse sind in Abbildung 4 dargestellt.

Abb. 4. Anteil der Festlegungen „Zusatznutzen nicht belegt“ in den Jahren 2012–2018
Bei Darstellung der Anteile von Verfahren mit Festlegung Zusatznutzen nicht belegt in den verschiedenen Fachgebieten zeigen sich fast dramatische Unterschiede. Während der Anteil von Verfahren mit der Festlegung Zusatznutzen nicht belegt bei Arzneimittel für nichtmaligne Erkrankungen in der Pneumologie (Asthma bronchiale, COPD, Mukoviszidose o. a.) bei 45,5 % liegt, ist er in der Infektiologie und in der Neurologie deutlich höher mit 60 bis 65 % sowie in Fächern wie der Diabetologie und der Psychiatrie mit fast 90 %. Ein Hauptunterschied in den Bewertungen liegt in den Endpunkten. Die EMA bewertet Wirksamkeit und Sicherheit und hat aufgrund dieser Kriterien die jeweiligen Arzneimittel zugelassen. Der G-BA bewertet den Zusatznutzen. Die jeweils bewerteten Endpunkte sind nicht identisch. Der G-BA legt einen Schwerpunkt auf die Gesamtüberlebenszeit und auf Lebensqualität. Diese sind in der Onkologie, der Pneumologie und auch in der Infektiologie in Arzneimittelstudien oft kurzfristig gut erfassbar. Bei Fächern wie der Diabetologie und der Psychiatrie braucht die Erfassung des Einflusses eines neuen Arzneimittels auf die Überlebenszeit Jahre, manchmal Jahrzehnte. Das passt nicht zu einer frühen Nutzenbewertung.
Orphan-Drug-Status
Bei der frühen Nutzenbewertung wird die besondere Situation von Patienten mit seltenen Erkrankungen berücksichtigt. Voraussetzung ist die Zuerkennung eines Orphan-Drug-Status durch die EMA auf der Basis der geschätzten Prävalenz der Erkrankung in Europa. Im AMNOG wurde eine Ausnahmeregelung für Arzneimittel im Orphan-Drug-Status verankert. Sie sieht vor, dass für Arzneimittel, die zur Behandlung eines seltenen Leidens zugelassen sind, der medizinische Zusatznutzen als belegt gilt. Für diese Arzneimittel wird keine zweckmäßige Vergleichstherapie festgelegt. Darüber hinaus wird der Bericht nicht vom IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen), sondern vom G-BA erstellt. Die Zahl von Verfahren bei Arzneimitteln mit Orphan-Drug-Status ist in den letzten Jahren in der Onkologie kontinuierlich gestiegen (Abb. 5).

Abb. 5. Anzahl der Verfahren zu Arzneimitteln mit Orphan-Drug-Status in der Onkologie
Allerdings gilt diese Ausnahmeregelung des AMMOG nur, solange eine Umsatzgrenze von 50 Millionen Euro/Jahr nicht überschritten wird. Nach Überschreiten dieser Grenze wird ein erneutes Verfahren der frühen Nutzenbewertung mit Vergleich gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie eingeleitet.
Bis Ende 2018 wurden 34 Verfahren zu neuen Arzneimitteln mit Orphan-Drug-Status in der Onkologie mit insgesamt 64 Subgruppen abgeschlossen. Bei 34 der 64 Subgruppen (53,1 %) erfolgte die Festlegung „nicht quantifizierbarer Zusatznutzen“.
Marktrücknahmen
Der pharmazeutische Unternehmer kann ein Präparat in direktem Zusammenhang mit der frühen Nutzenbewertung (Opt-Out) oder später vom Markt nehmen. Bei einer Marktrücknahme behält die Zulassung ihre Gültigkeit. Beim Import muss der im Ausland gültige Preis bezahlt werden. Tabelle 1 listet die vier onkologischen Arzneimittel auf, die bisher im Zusammenhang mit der Nutzenbewertung vom Markt genommen wurden.
Tab. 1. Marktrücknahmen infolge des AMNOG-Verfahrens
Arzneimittel |
Indikation |
Zusatznutzen |
Marktrücknahme |
Wiedereinführung |
Necitumumab |
Lungenkarzinom, NSCLC, EGFR+ |
Nicht belegt |
X |
|
Osimertinib |
Lungenkarzinom, NSCLC, EGFR T790M+ |
Nicht belegt |
X |
X |
Regorafenib |
Kolorektales Karzinom, GIST |
Nicht belegt |
X |
|
Sipuleucel-T |
Prostatakarzinom |
Nicht quantifizierbar |
X |
EGFR: epidermal growth factor receptor; GIST: gastrointestinale Stromatumoren; NSCLC: nichtkleinzelliges Bronchialkarzinom
Die Marktrücknahme von Osimertinib wurde nach neuen Studiendaten, einem neuen Bewertungsverfahren und erneuten Verhandlungen zwischen pharmazeutischem Unternehmer und Krankenkassen wieder zurückgenommen.
Ist die Nutzenbewertung nützlich oder schädlich?
Der administrative – und damit auch finanzielle – Aufwand der frühen Nutzenbewertung ist hoch. Lohnt sich das? Auf der positiven Seite stehen vor allem die vielen zusätzlichen Informationen über die neuen Arzneimittel durch die umfangreichen Dossiers sowie die von den Krankenkassen und vom G-BA errechnete Kostenersparnis von mehreren Milliarden Euro durch die Rabattverhandlungen. Auf der negativen Seite stehen die Schwächen der Bewertungsmethodik und das Risiko einer Überbewertung der Ergebnisse: die Nutzenbewertung eines Arzneimittels ersetzt keine Leitlinie. Für die pharmazeutische Industrie ist das AMNOG attraktiv, Deutschland gehört zu den Ländern mit der frühesten Markteinführung neuer Arzneimittel in Europa.
Kategorien bei G-BA und IQWiG
Einteilung des Zusatznutzens durch den G-BA (absteigend)
- erheblich
- beträchtlich
- gering
Zusätzliche Kategorien:
- Zusatznutzen nicht belegt.
- nicht quantifizierbarer Zusatznutzen
- geringerer Nutzen
Einteilung der Aussagesicherheit durch den G-BA (absteigend)
- Beleg
- Hinweis
- Anhaltspunkt
Interessenkonflikterklärung
Es bestehen keine Interessenkonflikte.
Literatur
1. 14. Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (14. SGB V-Änderungsgesetz – 14. SGB V-ÄndG), 2014. http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/18/006/1800606.pdf (Zugriff am 30.01.19).
2. Ad-Hoc-Kommission der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften (AWMF): Frühe Nutzenbewertung neuer Arzneimittel in Deutschland, 2011–2016. Analyse und Impulse, 2017. https://www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Service/Publikationen/2017_AWMF_Nutzenbewertung_Arzneimittel_Web_2017-05.pdf (Zugriff am 30.01.19).
3. Ad-Hoc-Kommission der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften (AWMF): Frühe Nutzenbewertung neuer Arzneimittel in Deutschland, 2011–2017. Status und Tendenzen, 2018. https://www.awmf.org/fileadmin/user_upload/Service/Publikationen/AWMF_AMNOG_210×297_36S_f_web_ok.pdf (Zugriff am 30.01.19).
4. Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung (BGBl. I S. 2324). http://www.gesetze-im-internet.de/am-nutzenv/BJNR232400010.html ; http://www.gesetze-im-internet.de/am-nutzenv/__6.html (Zugriff am 30.01.19).
5. https://www.dgho.de/publikationen/stellungnahmen/fruehe-nutzenbewertung .
6. Frühe Nutzenbewertung neuer Arzneimittel in Deutschland – Subgruppen Definition, Analyse und Kriterienkatalog, 2016. https://www.dgho.de/publikationen/schriftenreihen/fruehe-nutzenbewertung/dgho_schriftenreihe_Bd8-2016_final.pdf .
7. https://www.g-ba.de/informationen/nutzenbewertung/filter/b-st-4-od-tg-/ab/30/ (Zugriff am 30.01.19).
8. Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV (GKV-Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz – AMVSG), 2017 http://dipbt.bundestag.de/dip21/brd/2017/0195–17.pdf (Zugriff am 30.01.19).
9. https://www.onkopedia.com/de/drug-assessment/guidelines (Zugriff am 30.01.19).
Prof. Dr. med. Bernhard Wörmann, Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie, Berolinahaus, Alexanderplatz 1, 10178 Berlin (Mitte), E-Mail: woermann@dgho.de und Charité Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow Klinikum, Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie, Augustenburger Platz 1, 13344 Berlin, E-Mail: bernhard.woermann@charite.de
Risk-benefit-assessment of new cancer drugs in Germany
New drugs in oncology trigger more than one third of the procedures for risk-benefit-assessment of new drugs by the Federal Joint Committee (G-BA) in Germany. The whole process of risk-benefit-assessment is efficient. Procedures are regularly finished within one year. The assessment may concern the entire indication or subgroups. Until the end of 2018, 139 procedures with 238 subgroups had been completed. About half of the subgroups got the assessment “no additional benefit” (48.5 %), followed by “considerable additional benefit” (19.2 %), “additional benefit not quantifiable” (17.6 %) and “minor additional benefit” (17.6 %). New drugs in oncology fare better than drugs in other indications. Market withdrawals due to unfavourable assessments are unusual. During the last years the number of procedures for drugs with an orphan-drug-status has significantly increased. The risk-benefit-assessment of new drugs is now well established. The whole process increases the transparency of available data. The specific German way of assessment of subgroups complicates the procedure.
Key words: Risk-benefit-assessment, new drugs, oncology
Arzneimitteltherapie 2019; 37(03):55-59