Dr. Claus Gassner, Villingen-Schwenningen
Die optimale Blutzuckereinstellung bei Typ-2-Diabetikern ist nach wie vor eine große Herausforderung. Um Langzeitschäden zu verhindern, ist eine dauerhafte Senkung des Blutzuckerspiegels das oberste Therapieprinzip. Während zu Beginn der Erkrankung durch eine Umstellung der Lebensweise häufig noch befriedigende Ergebnisse erzielt werden können, bleibt in fortgeschrittenen Stadien und bei schwereren Krankheitsverläufen nur die Pharmakotherapie. Diese sollte wirksam, einfach in der Anwendung und nebenwirkungsarm sein. GLP-1-Rezeptoragonisten wie Exenatid, Liraglutid, Dulaglutid und Semaglutid haben einen festen Stellenwert in der Diabetes-Therapie. Die Substanzen besitzen ein gutes Sicherheitsprofil bezüglich des Auftretens von Hypoglykämien und bewirken zusätzlich eine Gewichtsreduktion. Nachteilig ist die geringe orale Bioverfügbarkeit, sodass die Applikation nur subkutan erfolgen kann.
Semaglutid: Orale Bioverfügbarkeit durch neuartige Formulierung
Semaglutid ist schon seit einiger Zeit zur Subkutangabe zugelassen. Als orale Formulierung in Kombination mit dem Resorptionsbeschleuniger N-(8-[2-hydroxybenzoyl]amino)caprylat konnte jedoch erreicht werden, dass genügend Semaglutid aus dem Gastrointestinaltrakt resorbiert wird, um eine adäquate Blutzuckersenkung zu erreichen.
Studiendesign und -durchführung
Von 950 gescreenten Patienten wurden 711 in die PIONEER-4-Studie eingeschlossen und im Verhältnis 2 : 2 : 1 in drei Arme aufgeteilt:
- Semaglutid oral (Titration bis 14 mg 1-mal täglich)
- Liraglutid subkutan (1,8 mg 1-mal täglich)
- Placebo
Die Verblindung erfolgte nach dem Double-Dummy-Verfahren. In jeder Behandlungsgruppe kommen zwei Arzneiformen zur Anwendung: eine Tablette per os und eine subkutane Injektion. Nur handelt es sich einmal bei der Tablette um die aktive Substanz, das andere Mal bei der subkutanen Injektion. Damit wird gewährleistet, dass keine Verzerrung dadurch zustande kommt, dass der Patient anhand der Arzneiform erkennen kann, in welchem Studienarm er sich befindet. Die Teilnehmenden der Placebo-Gruppe erhielten nur wirkstofffreie Arzneiformen.
Die drei Gruppen waren bezüglich der demographischen Basischarakteristika ähnlich.
Das durchschnittliche Alter der Probanden lag bei 56 Jahren (Standardabweichung [SD] 10 Jahre), der Basis-HbA1c-Wert betrug im Schnitt 8,0 % (SD 0,7), und der mittlere Body-Mass-Index wird mit 33 kg/m² (SD 6,3) angegeben.
Estimands
Für die Auswertung wurden sogenannte „Estimands“ herangezogen. Dabei handelt es sich um statistische Verfahren, in denen der Umgang mit unvorhergesehenen Ereignissen im Studienverlauf (z. B. vorzeitige Beendigung aufgrund von fehlender Wirkung oder die Verwendung einer Notfallmedikation) und der Analyse der erhaltenen Daten definiert ist. Dies bietet Vorteile im Vergleich zu gängigen Verfahren wie Intention-to-treat-(ITT-) oder Per-Protocol-(PP-)Analysen, die weniger Auswertungsmöglichkeiten bieten. Dennoch müssen auch die verwendeten Estimands vorab im Studienprotokoll festgelegt sein. Abhängig davon, welcher Estimand verwendet wird, können teilweise Unterschiede der statistischen Signifikanz beobachtet werden.
Tab. 1. Studiendesign [nach Pratley 2019 et al.]
Erkrankung |
Typ-2-Diabetes |
Studienziel |
Orales Semaglutid im Vergleich mit subkutanem Liraglutid und Placebo bezüglich Wirksamkeit und Sicherheit |
Studienname |
PIONEER-4 |
Studientyp |
Phase-IIIa-Studie |
Studienzeitraum |
August 2016 bis Februar 2017 |
Studiendesign |
Multizentrisch, randomisiert, doppelblind, double-dummy, Placebo-kontrolliert, dreiarmig |
Einschlusskriterien (Auswahl) |
|
Ausschlusskriterien (Auswahl) |
|
Intervention |
|
Primärer Endpunkt |
Veränderungen des HbA1c-Werts im Vergleich zum Ausgangswert in Woche 26 |
Finanzierung |
Novo Nordisk |
Studienregisternummer |
NCT 02863419 (ClinicalTrials.gov), EudraCT2015–005 210–30 |
Die Eckdaten der Studie sind in Tabelle 1 zusammengefasst.
Studienergebnisse
Bezüglich des primären Endpunkts (Änderung des HbA1c-Werts zum Ausgangswert) war orales Semaglutid dem subkutanen Liraglutid nicht unterlegen und beide Therapien wirksamer als Placebo. Beide Substanzen senkten den HbA1c um etwa 1 Prozentpunkte, während unter Placebo nur eine Senkung um 0,2 Prozentpunkte beobachtet werden konnte. Statistisch signifikant überlegen war orales Semaglutid dann, wenn nach dem „Trial product estimand“ ausgewertet wurde.
Unabhängig von der Art der statistischen Auswertung führte orales Semaglutid zu einer stärkeren Gewichtsreduktion im Vergleich zu Liraglutid. In Woche 52 waren es 4,3 kg unter Semaglutid im Vergleich zu 3,0 kg unter Liraglutid (Treatment policy estimand). Unter Placebo nahmen die Patienten 1 kg ab.
Die Studienergebnisse, die nach dem „Treatment policy estimand“ und „Trial product estimand“ erhalten wurden, sind in den Tabellen 2 und 3 zusammengefasst.
Tab. 2. Studienergebnisse: Treatment policy estimand [nach Pratley et al. 2019]
Woche |
Semaglutid oral 14 mg 1-mal/Tag |
Liraglutid 1,8 mg 1-mal/Tag |
Placebo |
|
Durchschnittliche Veränderung des HbA1c im Vergleich zum Ausgangswert |
26 |
–1,2 % |
–1,1 % |
–0,2 % |
p = 0,0645 |
||||
52 |
–1,2 % |
–0,9 % |
–0,2 % |
|
p = 0,0002* |
||||
Gewichtsverlust |
26 |
4,4 kg |
3,1 kg |
0,5 kg |
p = 0,0003* |
||||
52 |
4,3 kg |
3,0 kg |
1,0 kg |
|
p = 0,0019* |
||||
Anteil an Patienten mit einem HbA1c < 7 % |
26 |
67,6 % |
61,8 % |
14,2 % |
p = 0,1530 |
||||
52 |
60,7 % |
55,0 % |
15,0 % |
|
p = 0,1193 |
Treatment policy estimand: Der Behandlungseffekt wird bei allen randomisierten Patienten ausgewertet, unabhängig davon, ob die Studienmedikation abgebrochen wurde oder Notfallmedikation eingenommen wurde. Spiegelt den Intention-to-treat-Ansatz wider. *signifikante Unterschiede (p-Werte beziehen sich auf die Überlegenheit von Semaglutid vs. Liraglutid)
Tab. 3. Studienergebnisse: Trial product estimand [nach Pratley et al. 2019]
Woche |
Semaglutid oral 14 mg 1-mal/Tag |
Liraglutid 1,8 mg 1-mal/Tag |
Placebo |
|
Durchschnittliche Veränderung des HbA1c im Vergleich zum Ausgangswert |
26 |
–1,3 % |
–1,1 % |
–0,1 % |
p = 0,0056* |
||||
52 |
–1,2 % |
–0,9 % |
+0,2 % |
|
p = 0,0012* |
||||
Gewichtsverlust |
26 |
4,7 kg |
3,2 kg |
0,7 kg |
p < 0,0001* |
||||
52 |
5,0 kg |
3,1 kg |
1,2 kg |
|
p < 0,0001* |
||||
Anteil an Patienten mit einem HbA1c < 7 % |
26 |
72,3 % |
65,3 % |
16,1 % |
p = 0,0627 |
– |
|||
52 |
68,6 % |
62,6 % |
18,3 % |
|
p = 0,1084 |
– |
Trial product estimand: Der Behandlungseffekt wird bei allen randomisierten Patienten ausgewertet, die weder die Studienmedikation abgebrochen noch die Notfallmedikation erhalten haben. *signifikante Unterschiede (p-Werte beziehen sich auf die Überlegenheit von Semaglutid vs. Liraglutid)
Nebenwirkungen berichteten 80 % der Patienten mit oralem Semaglutid, 74 % in der Liraglutid-Gruppe und 67 % in der Placebo-Gruppe. Der höhere Nebenwirkungsanteil in der Semaglutid-Gruppe beruht auf vermehrten gastrointestinalen Beschwerden, die aber generell als leicht eingestuft wurden.
Kardiovaskuläres Outcome: Ergebnisse der PIONEER-6-Studie
Mit einer weiteren Studie [2] aus der „Pioneer-Familie“ untersuchten Forscher das kardiovaskuläre Sicherheitsprofil von oralem Semaglutid. In die randomisierte, Placebo-kontrollierte Doppelblindstudie waren 3183 Patienten ≥ 50 bzw. ≥ 60 Jahre mit hohem kardiovaskulären Risiko und/oder chronischer Nierenerkrankung eingeschlossen und im Schnitt über 15,9 Monate beobachtet worden.
Als primärer Endpunkt galt das Auftreten eines schwerwiegenden kardiovaskulären Ereignisses (Tod mit kardiovaskulärer Ursache, nichttödlicher Myokardinfarkt, nichttödlicher Schlaganfall). Die Prüfung war als Nichtunterlegenheits-Studie konzipiert.
Die Patienten erhielten nach einer schrittweisen Dosiseskalation einmal täglich 14 mg orales Semaglutid oder Placebo.
Schwerwiegende kardiovaskuläre Ereignisse traten bei 61 von 1591 Patienten in der Semaglutid-Gruppe (3,8 %) und bei 76 von 1592 Patienten in der Placebo-Gruppe (4,8 %) auf (Hazard-Ratio 0,79 %; 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,57–1,11; p < 0,001). Die Nichtunterlegenheit von oralem Semaglutid in Bezug auf das kardiovaskuläre Sicherheitsprofil ist damit gezeigt.
Am häufigsten führten gastrointestinale Nebenwirkungen zum Therapieabbruch. Diese wurden unter oralem Semaglutid eher beobachtet als unter Placebo.
Fazit der Studienautoren
Die Wirksamkeit und das Sicherheitsprofil von oralem Semaglutid ähneln denen von subkutan verabreichtem Liraglutid. Das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse wird durch die Einnahme von oralem Semaglutid nicht über Placebo-Niveau erhöht. Mit der neuen oralen Formulierung von Semaglutid könnten Patienten mit Typ-2-Diabetes zukünftig früher vom Einsatz eines GLP-1-Rezeptoragonisten profitieren, da die orale Therapie aufgrund der einfacheren Handhabung einer subkutanen Injektion vorzuziehen ist.
Weitere PIONEER-Studien
PIONEER-1 (n = 703)
Patienten, die durch Lebensstiländerungen und Diät nicht ausreichend versorgt sind.
Im Vergleich zu Placebo verbesserte sich unter oralem Semaglutid (1-mal/Tag) der HbA1c (3 mg, 7 mg, 14 mg) und das Körpergewicht (14 mg).
Das Sicherheitsprofil entsprach dem Klassenprofil der GLP-1-Agonisten.
Diabetes Care 2019;42:1724–32
PIONEER-5 (n = 721)
Patienten mit moderater Einschränkung der Nierenfunktion.
Im Vergleich zu Placebo war orales Semaglutid (1-mal/Tag 14 mg) bei diesen Patienten wirksamer.
Das Sicherheitsprofil entsprach dem Klassenprofil der GLP-1-Agonisten.
Lancet Diabetes Endocrinol 2019;7:515–27.
PIONEER-7 (n = 504)
Vergleich einer flexiblen Dosisanpassung unter Semaglutid mit Sitagliptin 100 mg.
Bessere glykämische Kontrolle und höherer Gewichtsverlust unter Semaglutid.
Das Sicherheitsprofil entsprach dem Klassenprofil der GLP-1-Agonisten.
Lancet Diabetes Endocrinol 2019;7:528–39.
Quelle
Pratley R, et al. Oral semaglutide versus subcutaneous liraglutide and placebo in type 2 diabetes (PIONEER 4): a randomised, double-blind, phase 3a trial. Lancet 2019;394:39–50.
Literatur
1. Husain M, et al. Oral semaglutide and cardiovascular outcomes in patients with type 2 diabetes. N Engl J Med 2019; doi: 10.1056/NEJMoa1901118. [Epub ahead of print].
Arzneimitteltherapie 2019; 37(11):414-426