Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Essen
Für die Schubprophylaxe der schubförmigen multiplen Sklerose steht in der Zwischenzeit eine Vielzahl von therapeutischen Optionen zur Verfügung. Die erste nachgewiesene, wirksame und zugelassene Therapie war die intramuskuläre Gabe von Interferon beta-1a. In der Folgezeit wurden dann nichtselektive Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptormodulatoren wie Fingolimod entwickelt. Diese Substanzen verhindern die Freisetzung von Lymphozyten aus Lymphknoten. Fingolimod reduziert die Schubrate bei schubförmiger MS und die Zahl neuer Entmarkungsherde in der zerebralen Bildgebung [1]. Fingolimod kann allerdings bei der ersten Behandlung zu einer Bradykardie führen, weshalb die Therapie unter ärztlicher Überwachung eingeleitet werden muss. Siponimod ist ein selektiver Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptormodulator, der mit den Subklassen 1 und 5 des Rezeptors interagiert. Diese Substanz ist für die Therapie der sekundär-progredienten multiplen Sklerose zugelassen [2]. Ozanimod ist ein weiterer oral applizierter Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptormodulator, der ebenfalls an den Rezeptor-Subklassen 1 und 5 angreift. Die Wirksamkeit der Substanz bei der schubförmigen multiplen Sklerose wurde jetzt in zwei randomisierten Studien untersucht.
Patienten und Methodik
SUNBEAM
Die SUNBEAM-Studie war eine randomisierte doppelblinde Phase-III-Studie, die an 152 MS-Zentren weltweit durchgeführt wurde (Tab. 1). Eingeschlossen wurden Patienten mit MS im Alter zwischen 18 und 55 Jahren. Die Behinderung gemessen mit dem EDSS (Expanded disability status scale) musste zwischen 0,5 und 5,0 liegen. Die Patienten mussten mindestens einen Schub in den letzten zwei Jahren erlitten haben und innerhalb der letzten 12 Monate einen Gadolinium-aufnehmenden Herd in der zerebralen Bildgebung aufweisen. Sie wurden randomisiert und erhielten über ein Jahr 1-mal täglich 1 mg oder 0,5 mg Ozanimod oder 1-mal wöchentlich 30 µg Interferon beta-1a intramuskulär. Der primäre Endpunkt der Studie war die jährliche Schubrate der multiplen Sklerose.
Tab. 1. Studiendesign der SUNBEAM- und RADIANCE-Studie [ClinicalTrials.gov]
Studie |
SUNBEAM |
RADIANCE |
Erkrankung |
Schubförmige multiple Sklerose |
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Studienziel |
Wirksamkeit und Sicherheit von Ozanimod |
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Studientyp/Design |
Randomisiert, multizentrisch, doppelblind, interventionell, Phase III |
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Patienten |
1346 |
1320 |
Intervention |
Über 12 Monate |
Über 24 Monate |
Primärer Endpunkt |
Jährliche Schubrate (ARR) über 12 bzw. 24 Monate |
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Sponsor |
Celgene |
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Studienregister-Nr. |
NCT 02294058 |
NCT 02047734 |
i .m.: Intramuskulär; INF: Interferon; p. o.: per os
RADIANCE
Die RADIANCE-Studie war eine 24-monatige, multizentrische, doppelblinde Phase-III-Studie, die an 147 MS-Zentren durchgeführt wurde. Die MS-Patienten waren 18 bis 55 Jahre alt, hatten eine schubförmige MS und einen kernspintomographischen Befund, der mit der Diagnose MS vereinbar war. Die Patienten wurden ebenfalls zu oralen täglichen Dosen von 0,5 mg oder 1 mg Ozanimod randomisiert oder der wöchentlichen Gabe von 30 µg Interferon beta-1a. Hier war der primäre Endpunkt die jährliche Schubrate über 24 Monate (Tab. 1).
Ergebnisse
SUNBEAM
In die SUNBEAM-Studie wurden zwischen Dezember 2014 und November 2015 1346 Teilnehmer eingeschlossen. Die Patienten waren im Mittel 36 Jahre alt und zwei Drittel waren Frauen. Die MS bestand im Mittel seit sieben Jahren und die Zahl der MS-Schübe in den vergangenen 12 Monaten lag bei 1,3 Schüben und für die vergangenen 24 Monate bei 1,7 Schüben. Ein Drittel der Patienten hatte bereits eine immunmodulatorische Therapie erhalten. Die Abbruchrate während der Studie betrug insgesamt 6,8 %. Die jährliche Schubrate betrug 0,35 für Interferon beta-1a, 0,18 für die hohe Dosis von Ozanimod und 0,24 für die niedrige Dosis von Ozanimod. Dies entspricht für die hohe Dosis von Ozanimod im Vergleich zu Interferon beta-1b einem Rate-Ratio von 0,52 (95%-Konfidenzintervall [KI] 0,41 – 0,66; p < 0,0001). Für die niedrige Dosis betrug das Rate-Ratio 0,69 (95%-KI 0,55 – 0,86; p = 0,0013). Insgesamt war die Abbruchrate wegen unerwünschter Arzneimittelwirkungen gering: Sie lag zwischen 1,5 % und 3,6 %. Nach der ersten Dosis wurde bei keinem Patienten unter Ozanimod eine signifikante Bradykardie oder ein AV-Block beobachtet. Die Rate schwerwiegender unerwünschter Arzneimittelwirkungen war über die drei Therapiegruppen ähnlich.
RADIANCE
In die RADIANCE-Studie wurden zwischen Dezember 2013 und März 2015 1320 MS-Patienten mit schubförmiger MS eingeschlossen. Das mittlere Alter der eingeschlossenen Patienten betrug 35 Jahre und zwei Drittel waren Frauen. Der Wert auf der EDSS-Skala betrug im Mittel 2,5. Die Zahl der Schübe in den letzten 12 Monaten betrug 1,3 und in den vergangenen 24 Monaten 1,8. 87 % der Patienten schlossen die 24-monatige Behandlung ab. Die jährliche Schubrate betrug 0,17 für die hohe Dosis von Ozanimod, 0,22 für die niedrige Dosis von Ozanimod und 0,28 für Interferon beta-1a. Das Rate-Ratio versus Interferon beta-1a betrug für die hohe Dosis von Ozanimod 0,62 (95%-KI 0,51 – 0,77; p < 0,0001) und für die niedrige Dosis von Ozanimod 0,79 (95%-KI 0,65 – 0,96; p < 0,0167). Unerwünschte Arzneimittelwirkungen waren mit 83 % in der Interferon-beta-1a-Gruppe häufiger als in den beiden Ozanimod-Gruppen (74 % bzw. 75 %). Die Häufigkeit von Infektionen und schwerwiegenden unerwünschten Arzneimittelwirkungen war in allen Studienarmen ähnlich.
Kommentar
Die beiden Studien haben ein übereinstimmendes Ergebnis, nämlich dass über einen Zeitraum von 12 bis 24 Monaten Ozanimod die Schubrate der MS in einem höheren Ausmaß verringert als die wöchentliche intramuskuläre Gabe von Interferon beta-1a. In Subgruppen-Analysen zeigte sich auch, dass die Zahl kontrastmittelaufnehmender Entzündungsherde in der Kernspintomographie am Ende der Studie bei den mit Ozanimod behandelten Patienten ebenfalls geringer war. Die Studien waren von der Patientenzahl und der Beobachtungszeit allerdings nicht ausreichend, um einen Unterschied in der Behinderung durch die MS zu zeigen. Insgesamt war die Zahl der unerwünschten Arzneimittelwirkungen gering. Nur vier Patienten entwickelten eine Bradykardie mit einer Frequenz von unter 45 Schlägen pro Minute. Die spannende Frage wird sein, wie sich Ozanimod in das Feld der immunmodulatorischen Therapien der multiplen Sklerose einordnet. Vergleichsstudien mit Fingolimod oder Siponimod sind sehr unwahrscheinlich.
Eine insgesamt 24-monatige Beobachtungszeit ist zu kurz, um sehr seltene, aber schwerwiegende unerwünschte Arzneimittelwirkungen wie opportunistische Infektionen, eine progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) oder andere seltene Nebenwirkungen zu erfassen. Ozanimod wirkt am Sphingosin-1-Phosphat-Subrezeptortyp 1 und 5. Eine weitere Substanz, Ponesimod, wirkt ausschließlich am Rezeptor-Subtyp 1. Die Studien zu dieser Substanz sind abgeschlossen und werden in Kürze publiziert. Dann wird sich zeigen, ob sich Unterschiede in Wirksamkeit und Nebenwirkungen ergeben.
Quellen
Cohen JA, et al. Safety and efficacy of ozanimod versus interferon beta-1a in relapsing multiple sclerosis (RADIANCE): a multicentre, randomised, 24-month, phase 3 trial. Lancet Neurol 2019;18:1021–33.
Comi G, et al. Safety and efficacy of ozanimod versus interferon beta-1a in relapsing multiple sclerosis (SUNBEAM): a multicentre, randomised, minimum 12-month, phase 3 trial. Lancet Neurol 2019;18:1009–20.
Literatur
1. Kappos L, et al. A placebo-controlled trial of oral fingolimod in relapsing multiple sclerosis. N Engl J Med 2010;362:387–401.
2. Kappos L, et al. Siponimod versus placebo in secondary progressive multiple sclerosis (EXPAND): a double-blind, randomised, phase 3 study. Lancet 2018;391:1263–73.
Arzneimitteltherapie 2020; 38(01):24-38