Medicus rationalis statt Medicus sapiens?


Dr. med. Peter Stiefelhagen, Hachenburg

Paradigmenwechsel! Kaum ein Begriff wird in der heutigen Zeit so strapaziert wie dieser, sei es in der Politik, der Wissenschaft oder der Kultur. Meist wird damit nur ein kleiner Fortschritt oder ein Prozess des Umdenkens wichtigtuerisch umschrieben.

Wenn es aber einen Bereich gibt, wo das Wort „Paradigmenwechsel“ in der Tat voll und ganz gerechtfertigt ist, so ist es die Medizin. Sie befindet sich – wer wollte das bestreiten – in der Tat in einem gewaltigen Umbruch, der auch die Rolle des Arztes, genauer gesagt das ärztliche Selbstverständnis, nicht unberührt lässt.

Versucht man, das „ Neue“ in der Medizin in kurzer plakativer Form zu beschreiben, so könnte man sagen: Komplexe medizinische Sachverhalte, sprich der kranke Mensch, sollen in abstrakte mathematische und damit ökonomisch transparente Konstrukte verwandelt werden. Dafür stehen nämlich die politisch verordneten Begriffe wie: DRG, DMP und Clinical Pathways. Doch was bedeutet dies für das Selbstverständnis des Arztes?

Bisher wurde dem Arzt auch bei Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse ein gewisser Handlungsspielraum zugestanden, den er zum Wohl des einzelnen Patienten im Sinne der ärztlichen Therapiefreiheit gewissenhaft zu nutzen verstand. Jetzt aber geht es nur noch um Standards, Effektivität und Effizienz. Der Arzt wird zum Case-Manager und das diagnostische und therapeutische Vorgehen wird mit dem Begriff Disease-Management-Programm umschrieben, ausgerichtet auf einen virtuellen Durchschnittspatienten. Dieser neue Arzt-Typ soll ein „Medicus rationalis“ sein. Für ihn wird die richtige Software des Computers zum wichtigsten Hilfsmittel seiner täglichen Arbeit, um seiner Funktion als „Nutzenmaximierer“ voll gerecht werden zu können. Damit unterscheidet er sich wesentlich vom Arzt alter Prägung, dem Medicus sapiens, der neben wissenschaftlichen Daten auch Intuition, Empirie und Empathie in seine tägliche Arbeit einfließen lässt.

Damit Sie mich richtig verstehen: Keine Frage, die Evidenz-basierte Medizin ist unverzichtbar und erfordert auch die Erarbeitung von Richtlinien, die nachvollziehbar und nachweisbar in die tägliche Patientenversorgung Eingang finden müssen. Doch mit den jetzt geschaffenen Versorgungsstrukturen wird dem Arzt weitgehend die Fähigkeit abgesprochen, mit Hilfe seines eigenen Verstandes zu einer für den einzelnen Patienten optimalen diagnostischen oder therapeutischen Entscheidung zu kommen. Er wird ein Stück weit entmündigt, ja zum Handlanger und Vollstrecker allgemein verbindlicher Vorgaben degradiert.

Mag sein, dass junge Kollegen, die in dieses neue System „hineingeboren“ werden, sich damit problemlos arrangieren können. Reiferen, um nicht zu sagen älteren Kollegen wird es jedoch zunehmend schwierig, sich mit den Zielen und Inhalten solcher neuer Versorgungsstrukturen zu identifizieren. Ein System, in dem das Sammeln von irrelevanten Diagnosen zum obersten Handlungsprinzip eines Krankenhausarztes wird, birgt zumindest das Risiko für eine Perversion ärztlichen Denkens und Handelns.

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