Bertram F. Pontz, München
Den etwa 40 verschiedenen genetisch vererblichen lysosomalen Speichererkrankungen gemeinsam ist je ein defektes lysosomales Enzym, eine spezifische Hydrolase, die einen Schritt im Abbau komplex aufgebauter Moleküle wie der Proteoglykane, der Glykoproteine oder der glykosylierten Lipide in den Lysosomen der Zellen hemmt.
Dies führt zur Akkumulation dadurch nicht mehr abbaufähiger Makromoleküle in den Lysosomen, zur Beeinträchtigung der Zellfunktion, zum Zelluntergang, damit zur Funktionseinschränkung entsprechender Organe, zum Organversagen und schließlich zum Tod des Individuums.
Unter diesen Speichererkrankungen sind die Mucopolysaccharidosen eine relativ homogene Gruppe. Von diesen wiederum ist die Mucopolysaccharidose I (MPS I) die häufigste mit etwa 1 : 50 000 Neugeborenen. Bei diesen Patienten ist die Alpha-Iduronidase defekt, ein Enzym, das die für die Abspaltung der Iduronsäure beim Mucopolysaccharid Chondroitinsulfat erforderlich ist. Der weitere Abbau von Chondroitinsulfat ist dadurch erheblich gestört. Es kommt zur Ablagerung von Chondroitinsulfat in verschiedensten Organen wie Leber, Milz, ZNS, Skelettsystem, Haut, Gelenken und Herz. Entsprechend weisen die Patienten vergrößerte Organe auf (Leber, Milz), das Knochengerüst zeigt typische radiologische Veränderungen im Sinne der Dysostosis multiplex. Die Ablagerung im lymphatischen Gewebe erklärt die erhöhte Infektanfälligkeit, die ZNS-Beteiligung die mentale Retardierung der Patienten. Der genetische Defekt konnte auf dem Chromosom 14p16.3 lokalisiert werden. Die Erkrankung wird autosomal rezessiv vererbt. Die Lebenserwartung ist stark verkürzt. Eine klinisch leichte Variante (M. Scheie) ist ohne ZNS-Beteiligung. Dazwischen gibt es eine breite klinische Heterogenität.
Eine frühe Knochenmarktransplantation ist erfolgreich, ansonsten ist die Behandlung symptomatisch.
Laronidase
Wirkungsmechanismus
In klinischen Studien wurden die Wirkungen des Enzympräparats Laronidase (Aldurazyme®) auf die typischen klinischen Symptome der Mucopolysaccharidose Typ I untersucht. Wegen der hohen relativen Molekülmasse des Präparats (etwa 83 kD, 628 Aminosäurenreste) kann es die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden. Entsprechend gibt es keine Hinweise für eine Beeinflussung der neurologischen Symptomatik. Die biochemische Wirkung zeigt sich in einer raschen Verminderung der Glykosaminoglykan-Ausscheidung im Urin, ferner im Rückgang der Hepatosplenomegalie. Klinisch verbesserten sich Herz- (NYHA-Klassifikation, Echokardiographie) und Lungenfunktion (FVC, Reduktion der Apnoe), die Gehstrecke (6-Minuten-Gehtest), das Längenwachstum sowie die Beweglichkeit der Gelenke. Damit wurde die Lebensqualität der Patienten und damit auch die ihrer Familien bedeutend gesteigert. Zu berücksichtigen ist dabei, dass schon kleine körperliche Fortschritte im Alltag der schwer beeinträchtigten Patienten oft als große Verbesserungen zu werten sind.
Pharmakokinetik
Nach einer Infusionsdauer von vier Stunden und einer Dosis von 100 E/kg Körpergewicht wurden pharmakokinetische Eigenschaften in der 1., 12. und 26. Behandlungswoche ermittelt. Cmax stieg im Lauf der Behandlung. Das Verteilungsvolumen nahm ab. Dies ist möglicherweise im Zusammenhang mit der Bildung von Antikörpern zu sehen oder/und auf eine Verminderung des Lebervolumens zurückzuführen.
Laronidase ist ein Protein, es wird vermutlich über Peptidhydrolyse abgebaut. Es ist daher nicht damit zu rechnen, dass sich die Pharmakokinetik bei Patienten mit einer Leberfunktionsstörung signifikant ändert. Ebenso ist davon auszugehen, dass der renalen Elimination von Laronidase allenfalls eine untergeordnete Rolle zuzumessen ist.
Dosierung, Art und Dauer derAnwendung
Laronidase 100 E/kg Körpergewicht wird verdünnt als Infusion (in 0,9 % Kochsalzlösung) einmal wöchentlich verabreicht. Die Infusionsrate soll anfänglich 2 E/kg/h betragen und kann alle 15 Minuten in Einzelschritten auf eine Maximaldosis von 43 E/kg/h gesteigert werden, wenn der Patient dies verträgt. Die Gesamtdosis sollte in etwa drei bis vier Stunden verabreicht werden.
Für Kinder < 5 Jahre und Erwachsene > 65 Jahre kann derzeit kein Dosierungsschema empfohlen werden, da Sicherheit und Wirksamkeit des Präparats bei dieser Patientengruppe nicht ermittelt wurden. Ebenfalls nicht ermittelt wurden Sicherheit und Wirksamkeit bei Patienten mit Nieren- oder Leberinsuffizienz, daher gibt es auch bei diesen Patienten keine Angaben zu einem Dosierungsschema.
Zur Dauer der Behandlung fehlen noch Erfahrungen. Es ist wahrscheinlich, dass die Behandlung lebenslang durchzuführen ist. Über eine mögliche geringere Erhaltungsdosis liegen keine Daten vor.
Gegenanzeigen
Schwere Überempfindlichkeitsreaktionen, wie beispielsweise anaphylaktische Reaktionen gegen das Enzym oder einen der Hilfsstoffe, sind Gegenanzeigen für eine Behandlung.
Nebenwirkungen
Bei etwa 1/3 der Patienten traten infusionsbedingte Reaktionen auf. Die Zahl dieser Reaktionen nahm im Lauf der Zeit ab. Meistens handelte es sich um Hitzegefühl (Flush) und Kopfschmerzen, aber auch Arthropathien, Arthralgien, abdominelle Schmerzen, Rückenschmerzen oder Exantheme wurden beobachtet. Fast alle Patienten in der klinischen Phase-III-Studie entwickelten IgG-Antikörper gegen Laronidase. Es ist daher damit zu rechnen, dass es bei der Mehrzahl der Fälle zu einer Serokonversion kommt. Bei drei der seropositiven Patienten war eine geringfügige, neutralisierende inhibierende In-vitro-Aktivität zu verzeichnen, die jedoch keinen Einfluss auf die klinische Wirksamkeit zu haben schien. Bei zwei Patienten waren nach zwölf Monaten Behandlung keine Antikörper mehr nachzuweisen.
Wechselwirkungen
Interaktionsstudien wurden mit dem Arzneimittel nicht durchgeführt. Aufgrund der beschriebenen hydrolytischen Biotransformation sind Cytochrom-P450-vermittelte Wechselwirkungen unwahrscheinlich.
Laronidase sollte nicht gleichzeitig mit Chloroquin oder Procain angewendet werden, da ein mögliches Risiko einer Interferenz mit der intrazellulären Aufnahme des Enzyms besteht.
Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen
Mit Laronidase behandelte Patienten können die unter den Nebenwirkungen aufgelisteten Reaktionen entwickeln. Diese Reaktionen können schwer sein. Die Patienten müssen daher während der Infusion engmaschig überwacht werden. Es ist damit zu rechnen, dass fast alle Patienten innerhalb von wenigen Monaten Antikörper entwickeln. Infusionsbedingte Reaktionen sind mit einer Verringerung der Infusionsrate und der Vorbehandlung der Patienten mit Antihistaminika und/oder Antipyretika (z. B. Paracetamol oder Ibuprofen) zu behandeln. Im Fall einer einzelnen, schweren infusionsbedingten Reaktion
ist die Infusion abzubrechen, bis die Symptome verschwunden sind. Die Infusion kann dann mit einer verminderten Infusionsrate (1/2 bis 1/4 der empfohlenen Rate) wieder aufgenommen werden. Treten schwere generalisierte Überempfindlichkeitsreaktionen auf, ist Laronidase ebenfalls sofort abzusetzen und eine angemessene medizinische Therapie unter Berücksichtigung des aktuellen medizinischen Standards für eine Notfallbehandlung einzuleiten.
Schwangerschaft, Stillzeit
Hierzu liegen keine Daten vor. Tierexperimentelle Studien lassen nicht auf direkte oder indirekte schädliche Auswirkungen auf die Schwangerschaft, die embryonale/fetale Entwicklung, Geburt und postnatale Entwicklung schließen. Das potenzielle Risiko für den Menschen ist unbekannt.
Wenn es nicht eindeutig erforderlich ist, sollte Laronidase während der Schwangerschaft nicht angewendet werden.
Prof. Dr. Dr. Bertram F. Pontz, Ltd. Oberarzt der Kinderklinik, Leiter der Stoffwechselambulanz mit Schwerpunkt angeborene Bindegewebs- und Skelett- sowie lysosomale Speichererkrankungen, Stoffwechselzentrum und klinische Genetik, Kinderklinik der Technischen Universität, Kölner Platz 1, 80804 München
Arzneimitteltherapie 2004; 22(06)