Dr. Annemarie Musch, Stuttgart
Weltweit leben laut Schätzungen der WHO über 40 Millionen Menschen mit HIV-Infektion oder AIDS. In Deutschland sind vor allem homosexuelle Männer, Immigranten aus Ländern mit hoher Verbreitung von HIV in der Bevölkerung und Personen mit intravenösem Drogenkonsum betroffen.
Die hoch aktive antiretrovirale Therapie (HAART) verbesserte die Prognose Infizierter deutlich. Allerdings ist eine Viruseradikation nicht möglich. Es wird versucht, mit einer Dauertherapie die Virusvermehrung zu unterdrücken, um klinisch relevanten Immundefekten und der Entstehung des Vollbilds AIDS vorzubeugen. Bei etwa 40 % der HIV-Infizierten kann dieses Therapieziel nicht erreicht werden. Problematisch sind die Nebenwirkungen der eingesetzten Arzneistoffe und das Auftreten von Resistenzen.
Der nichtpeptidische Proteasehemmer Tipranavir (Aptivus®, Abb. 1) stellt eine neue therapeutische Option für HIV-Infizierte dar, die bislang nicht erfolgreich therapiert werden konnten. Der Arzneistoff darf nur in Kombination mit niedrig dosiertem Ritonavir im Rahmen einer antiretroviralen Kombinationsbehandlung eingesetzt werden: Tipranavir wird hauptsächlich über das Cytochrom-P450-Isoenzym 3A4 (CYP3A4) abgebaut und ist ein starker Induktor dieses Enzyms, bei gleichzeitiger Gabe von Ritonavir resultiert insgesamt eine CYP3A4-Hemmung; so werden wirksame Tipranavir-Plasmaspiegel erreicht („boostern“). Aber auch andere CYP-Isoenzyme und P-Glykoprotein können beeinflusst werden.
Tipranavir wird hauptsächlich über die Fäzes ausgeschieden, die Halbwertszeit von geboostertem Tipranavir (500 mg Tipranavir plus 200 mg Ritonavir) liegt bei 6 Stunden.
Entscheidend für die Zulassung des nichtpeptidischen Proteasehemmers Tipranavir waren die Ergebnisse der beiden randomisierten offenen Phase-III-Studien Resist-1 und -2, in die insgesamt 1 483 Patienten eingeschlossen wurden, bei denen die Virusvermehrung trotz mehrerer Therapieversuche mit den drei antiretroviral wirksamen Substanzklassen nucleosidische oder nichtnucleosidische Reverse-Transcriptase-Hemmer (NRTI, NNRTI) und Proteasehemmer nicht unterdrückt werden konnte (HIV-RNS:>1 000 Kopien/ml). Mindestens zwei dieser Therapieversuche mussten Regime mit Proteasehemmern sein. Weiterhin mussten bei den eingeschlossenen Patienten mehr als eine primäre Mutation im Proteasegen, aber nicht mehr als zwei Schlüsselmutationen nachgewiesen sein. Die gepoolten Daten und Ergebnisse beider Studien werden hier vorgestellt.
Vor der Randomisierung wurde basierend auf einer patientenindividuellen Virus-Genotypisierung ein wirksames Basis-Therapieregime für die antiretrovirale Kombinationsbehandlung festgelegt sowie ein geeigneter Proteasehemmer ermittelt, mit dem die Patienten im Fall einer Randomisierung in die Kontroll-Gruppe die für sie jeweils beste Therapiealternative erhielten.
Daraufhin wurden die Patienten randomisiert der zusätzlichen Behandlung mit
- Tipranavir (n = 746, zweimal täglich 500 mg, geboostert mit 200 mg Ritonavir) oder
- Kontroll-Proteasehemmer (n = 737, Amprenavir, Indinavir, Lopinavir, Saqinavir, jeweils geboostert mit Ritonavir)
zugewiesen (Tab. 1).
Nach 24 Wochen wurde eine Zwischenanalyse durchgeführt, wobei die Daten von 1 159 Patienten berücksichtigt wurden. Im Vergleich zur Kontrolle erreichten signifikant mehr Patienten, die mit Tipranavir behandelt wurden, den kombinierten primären Endpunkt, einen Abfall der Virusmenge um mindestens eine Logstufe im Vergleich zum Ausgangswert ohne Anzeichen eines Therapieversagens (Intention to treat: 41,2 % [240/582] vs. 18,9 % [109/577], p < 0,0001).
Sekundärer Endpunkt war unter anderem die Senkung der HIV-RNS-Spiegel unter die Nachweisgrenze (HIV-RNS < 400 Kopien/ml bzw. < 50 Kopien/ml). Dies wurde bei mit Tipranavir behandelten Patienten signifikant häufiger erreicht als bei Patienten, die einen Kontroll-Proteasehemmer erhielten (34,2 % vs. 14,9 % bzw. 23,9 % vs. 9,4 %, jeweils p < 0,0001). Der Anstieg der CD4-Zellzahl war im Tipranavir-Arm gegenüber der Kontrolle signifikant stärker ausgeprägt.
In einer weiteren Analyse nach 48 Wochen konnte gezeigt werden, dass die Wirksamkeit der Therapie mit Tipranavir anhielt: Wiederum erreichten signifikant mehr Patienten, die mit Tipranavir behandelt wurden, den primären Endpunkt als Patienten, die einen Kontroll-Proteasehemmer erhielten (33,6 % vs. 15,3 %, p < 0,0001). Auch der Anteil der Patienten, bei denen eine Reduktion der Virusmenge unter die Nachweisgrenze beobachtet wurde, war bei mit Tipranavir behandelten Patienten im Vergleich zur Kontrolle signifikant größer (Abb. 2).
In einer Subanalyse zeigte sich, dass das Therapieergebnis durch die Gabe des Fusionsinhibitors Enfuvirtid (Fuzeon®), den ein Teil der Patienten im Rahmen der antiretroviralen Kombinationstherapie erhielt, noch weiter verbessert werden konnte (Abb. 2).
Gastrointestinale Nebenwirkungen wurden bei der Therapie mit Tipranavir am häufigsten berichtet. Dringend zu beachten ist eine mögliche Hepatotoxizität bei der Therapie, insbesondere bei koinfizierten Patienten (Hepatitis B oder C) und bei bereits bestehenden Lebererkrankungen. Bei diesen Patienten wurden häufiger Leberwerterhöhungen (Anstieg der ALT-/AST-Spiegel, Grad 3/4) beobachtet. Allerdings scheint diese Lebertoxizität keinen fulminanten Verlauf zu nehmen und teilweise auch reversibel zu sein, so dass im Einzelfall abgewogen werden muss, ob ein Therapieabbruch erforderlich ist.
Daher sollte zu Therapiebeginn generell eine Überwachung der Leberwerte bei den Patienten erfolgen.
Weiterhin kann es zu deutlichen Veränderungen der Lipidwerte (insbesondere erhöhte Triglycerid-Werte) kommen.
Fazit
Mit diesem neuen Arzneistoff kann nun auch Patienten, die mit den bislang zur Verfügung stehenden Substanzen nicht mehr zufrieden stellend therapiert werden konnten, wieder eine wirksame antiretrovirale Dreifach-Kombinationstherapie ermöglicht werden – mit dem Ziel, eine langfristige Unterdrückung der Virusvermehrung zu erreichen. Wichtig ist aber, dass die Therapie mit dem neuen Arzneistoff zu einem Zeitpunkt begonnen werden muss, zu dem auch noch wirksame Verbindungen für die notwendige Kombinationstherapie zur Verfügung stehen. Eine Kombination aktiver antiretroviraler Substanzen ist nach wie vor die wirksamste Therapiestrategie gegen HIV.
Quellen
Prof. Dr. med. Reinhold E. Schmidt, Hannover, Prof. Dr. med. Jürgen Rockstroh, Bonn, Franz Merl, Ingelheim. Pressekonferenz „Verlässlichkeit und Perspektive in der antiretroviralen Therapie (ART)“ im Rahmen eines Satellitensymposiums der Firma Boehringer Ingelheim, 11. Münchener AIDS-Tage 2006, München, 3. Februar 2006.
Robert Koch Institut. Zum Welt-AIDS-Tag 2005: Stand und Entwicklung der HIV-Epidemie in Deutschland. Epi Bull 2005;47.
Robert Koch Institut. Ratgeber Infektionskrankheiten – Merkblätter für Ärzte: HIV/AIDS. Epi Bull 2006;4.

Abb. 1. Tipranavir
Tab. 1. Charakteristika der Patienten in den Resist-Studien 1 und 2 (Ausgangssituation)
Tipranavir |
Kontroll-Proteasehemmer |
|
Medianes Alter [Jahre] |
43 |
42 |
Männer |
84,3 % |
88,3 % |
HIV-RNS > 100 000 Kopien/ml [n] |
280 (37,6 %) |
289 (39,2 %) |
Mittlere CD4-Zellzahl [Zellen/mm3] |
196 (1–1 893) |
195 (1–1 184) |
CD4-Zellzahl < 50 Zellen/mm3 [n] |
152 (20,4 %) |
174 (23,6 %) |
Koinfektion mit Hepatitis-B- oder -C-Viren [n] |
76 (10,2 %) |
113 (15,3 %) |

Abb. 2. Wirksamkeit der 48-wöchigen antiretroviralen Kombinationstherapie mit Tipranavir bei mehrfach vortherapierten HIV-Infizierten: Senkung der HIV-RNS-Spiegel unter die Nachweisgrenze, < 400 Kopien/ml (Resist-Studien 1 und 2, gepoolte Daten, Intention-to-treat-Analyse)
Links: Alle Patienten; Rechts: Subanalyse von Patienten, die im Rahmen der antiretroviralen Kombinationstherapie den Fusionsinhibitor Enfuvirtid erhielten
Arzneimitteltherapie 2006; 24(06)