Thalidomid bei multiplem Myelom?


Gerd Luippold, Tübingen

Bei einem 66-jährigen Patienten wird ein multiples Myelom diagnostiziert. Der Patient ist anämisch und weist einzelne Knochenläsionen auf. Der Tumor spricht auf die üblichen Chemotherapieregime und eine hoch dosierte Dexamethason-Monotherapie nicht an. Im Rahmen einer klinischen Studie soll der Patient mit dem Contergan®-Wirkstoff Thalidomid behandelt werden.
Wie ist die Studienlage und das Ansprechen des Tumors auf Thalidomid einzuschätzen?
Ist Thalidomid für die Behandlung des multiplen Myeloms in Deutschland zugelassen?
Welche Sicherheitsvorkehrungen müssen bei der Anwendung getroffen werden?

Das multiple Myelom ist eine Tumorerkrankung, die meist vom Knochenmark ausgeht und in die Gruppe der niedrig-malignen Non-Hodgkin-Lymphome eingeordnet wird. Ein proliferierender Plasmazell-Klon produziert dabei in der Regel monoklonale Immunglobuline (Ig) und Ig-Leichtketten, die in Blut und Urin nachweisbar sind. Die Therapie des multiplen Myeloms ist palliativ. Prognostisch ungünstig scheint eine ausgeprägte Gefäßneubildung im Knochenmark zu sein.

Thalidomid ist der Wirkstoff des Arzneimittels Contergan®, das in den 1960er Jahren als Schlafmittel eingesetzt wurde und auf Grund seiner teratogenen Eigenschaften weltweit bei 6 000 bis 10 000 Kindern zu Fehlbildungen geführt hat. Außer der hypnotisch-sedativen Wirkung besitzt Thalidomid günstige immunmodulatorische und antiangiogenetische Effekte [1, 2]. Die Hemmung der Angiogenese wird von Thalidomid über eine Beeinflussung vaskulärer Wachstumsfaktoren, beispielsweise des „vascular endothelial growth factor (VEGF)“ oder des „basic fibroblast growth factor (bFGF)“ vermittelt [2].

Auf Grund der antiangiogenetischen Eigenschaften wurden mit Thalidomid gute Erfolge, insbesondere bei der Behandlung des multiplen Myeloms, erzielt. Eine erste richtungsweisende Studie wurde in den 1990er Jahren von Singhal und Mitarbeitern durchgeführt [3]. Sie setzten Thalidomid bei 84 Patienten mit therapierefraktärem multiplem Myelom ein. Die initiale Dosis betrug 200 mg pro Tag, alle zwei Wochen wurde die Dosis um 200 mg auf bis zu 800 mg Thalidomid gesteigert. Die Patienten wurden durchschnittlich über 80 Tage behandelt. 27 Patienten zeigten eine Reduktion des Tumors um mindestens 25 %, zwei davon hatten eine komplette Remission. Dies ergab eine Ansprechrate von 32 %. 57 Patienten dagegen sprachen auf die Behandlung nicht an, wobei neun Patienten die Therapie wegen nicht zu beherrschender Unverträglichkeit (z. B. wegen neuropathischer Beschwerden) abbrechen mussten. Die Ergebnisse konnten von verschiedenen Forschergruppen bestätigt werden, so dass beim rezidivierenden oder therapieresistenten multiplen Myelom eine Ansprechrate auf Thalidomid von 25 bis 35 % gefunden wurde [4].

In neueren Studien wurden bei Patienten mit asymptomatischem oder neu diagnostiziertem Myelom in Kombination mit Dexamethason ebenfalls gute Erfolge gezeigt [5, 6].

Zulassungsstatus

Kürzlich wurde Thalidomid in Australien zur Behandlung des multiplen Myeloms zugelassen. In Deutschland ist gegenwärtig kein Fertigarzneimittel mit diesem Wirkstoff im Handel. Das internationale Pharmaunternehmen Pharmion plant, die europäische Zulassung für die First-Line-Therapie von Patienten mit multiplem Myelom im Jahre 2007 bei der europäischen Zulassungsbehörde zu beantragen. Als Grundlage für die Zulassung sollen unter anderem zwei Phase-III-Studien (MM-003 und SPA-Studie) bei Patienten mit zuvor unbehandeltem multiplem Myelom dienen. Hierbei wurde die Kombinationstherapie mit Thalidomid plus Dexamethason mit einer Dexamethason-Monotherapie verglichen. Dabei zeigte sich die Kombination sowohl bezüglich der Zeit bis zum Fortschreiten der Erkrankung (MM-003: 75,7 vs. 27,9 Wochen) als auch bezüglich des progressionsfreien Überlebens (MM-003: 55,7 vs. 24,3 Wochen) der Monotherapie signifikant überlegen [7].

Sicherheitsvorkehrungen

Auf Grund der bekannten Risiken von Thalidomid, insbesondere wegen seiner teratogenen Wirkung, muss bei der Anwendung gewährleistet sein, dass höchstmögliche Sicherheitsvorkehrungen eingehalten werden. Thalidomid-haltige Arzneimittel können in klinischen Prüfungen oder im Rahmen eines individuellen Heilversuchs, wenn beispielsweise mit anderen Arzneimitteln kein ausreichender Heilerfolg erzielt werden kann, eingesetzt werden. Für diese Fälle wurde vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und den Arzneimittelkommissionen der deutschen Ärzteschaft und der deutschen Apotheker eine Liste von Sicherheitsanforderungen veröffentlicht [8]. Grundsätzlich müssen die Patienten/Patientinnen über die Risiken und das teratogene Potenzial von Thalidomid aufgeklärt werden. Für Patientinnen im gebärfähigen Alter sind ein Schwangerschaftstest vor Einleitung der Thalidomid-Behandlung sowie monatliche Testwiederholungen während der Therapie obligatorisch. Die Firma Pharmion hat ein „Pharmion-Risiko-Minimierungs-Programm“ (Pharmion-RMP) entwickelt, das unter anderem die Aushändigung von schriftlichem Informationsmaterial und die schriftliche Einwilligung der Patienten/Patientinnen regelt. Thalidomid darf nur in einer Menge, die dem Bedarf für eine Behandlungsdauer von maximal 28 Tagen entspricht, verschrieben werden und kann nach § 73 Abs. 3 Arzneimittelgesetz (AMG) importiert werden. Auf der Verschreibung muss der Arzt einen Vermerk anbringen, dass die Sicherheitsanforderungen eingehalten werden.

Literatur

1. Nogueira AC, Neubert R, Felies A, Jacob-Müller U, et al. Thalidomide derivatives and the immune system. 6. Effects of two derivatives with no obvious teratogenic potency on the pattern of integrins and other surface receptors on blood cells of marmosets. Life Sci 1996;58:337–48.

2. D’Amato RJ Thalidomide is an inhibitor of angiogenesis. Proc Natl Acad Sci USA 1994;91:4082–5.

3. Singhal S, Mehta J, Desikan R, Ayers D, et al. Antitumor activity of thalidomide in refractory multiple myeloma. N Engl J Med 1999;341:1565–71.

4. Rajkumar SV, Gertz MA, Kyle RA, Greipp PR, et al. Current therapy for multiple myeloma. Mayo Clin Proc 2002;77:813–22.

5. Rajkumar SV, Hayman S, Gertz MA, Dispenzieri A, et al. Combination therapy with thalidomide plus dexamethasone for newly diagnosed myeloma. J Clin Oncol 2002;20:4319–23.

6. Weber D, Rankin K, Gavino M, Delasalle K, et al. Thalidomide alone or with dexamethasone for previously untreated multiple myeloma. J Clin Oncol 2003;21:16–9.

7. Luippold G. Thalidomid – Renaissance des Contergan-Wirkstoffs. Pharm Ztg 2006;151:18–20.

8. Bekanntmachung zu Thalidomid-haltigen Arzneimitteln. Dtsch Ärztebl 2004;101:B114.


Prof. Dr. med. Gerd Luippold, Institut für Pharmakologie und Toxikologie, Wilhelmstraße 56, 72074 Tübingen, E-Mail: gerd.luippold@uni-tuebingen.de

Thalidomid bei multiplem Myelom?

Ja – der Einsatz von Thalidomid ist bei Patienten mit multiplem Myelom im Rahmen klinischer Studien oder eines individuellen Heilversuchs in Deutschland möglich. Der Arzneistoff darf in einer Menge, die einer Behandlungsdauer von maximal 28 Tagen entspricht, verschrieben und nach § 73 Absatz 3 Arzneimittelgesetz (AMG) importiert werden. Bislang besteht keine Zulassung in Deutschland. Viel versprechende Daten liegen zur Anwendung bei asymptomatischem, bei neu diagnostiziertem, aber auch bei rezidiviertem und therapieresistentem multiplem Myelom vor. Günstig scheint insbesondere die antiangiogenetische Wirkung von Thalidomid zu sein.

Arzneimitteltherapie 2006; 24(08)