Bettina Kemkes-Matthes, Gießen

Abb. 1. Argatroban
Herkömmliche Antikoagulanzien wie Heparin und Vitamin-K-Antagonisten wirken indirekt und unspezifisch über Inaktivierung oder Synthesehemmung verschiedener Gerinnungsfaktoren.
Unter der Vorstellung, gezielter wirksame, genauer dosierbare – und damit möglichst auch nebenwirkungsärmere – Antikoagulanzien herzustellen, sind in den letzten Jahren neue gerinnungshemmende Substanzen entwickelt worden, die selektiv einzelne Gerinnungsfaktoren inhibieren – im klinischen Einsatz sind bereits der Faktor-Xa-Inhibitor Fondaparinux sowie die Thrombin-Inhibitoren Argatroban, Bivalirudin, und Hirudin [1, 2]. Die Thrombin-Inhibitoren unterscheiden sich in Herstellung, Verabreichungsweg und Pharmakokinetik (Tab. 1).
Ein Vorteil der Thrombin-Inhibitoren im Vergleich zu Heparin, aber auch zum Faktor-Xa-Inhibitor Fondaparinux, ist, dass sie direkt wirken und damit keinen Kofaktor wie beispielsweise Antithrombin benötigen. Darüber hinaus binden direkte Thrombin-Inhibitoren nicht in dem Ausmaß wie Heparin an andere Plasmaproteine, ihre antikoagulatorische Wirkung ist daher besser kalkulierbar.
Die Herstellung der Thrombin-Inhibitoren erfolgt chemisch-synthetisch – eine Ausnahme ist das gentechnisch hergestellte Hirudin.
Pharmakologie
Pharmakodynamik
Argatroban ist wie die meisten Thrombin-Inhibitoren ein Arginin-Abkömmling (Abb. 1) [3, 4]. Der wichtigste Wirkungsmechanismus von Argatroban ist die selektive, direkte Thrombin-Inhibition durch reversible Bindung an das katalytische Zentrum des Thrombin-Moleküls [5]. Die Aktivität anderer Serin-Proteinasen wird durch Argatroban nicht beeinflusst. Argatroban ist das kleinste Molekül aus der Gruppe der Thrombin-Inhibitoren.
Die niedrige relative Molekülmasse (Molekulargewicht) von Argatroban mag von Vorteil sein, um besser in den Thrombus eindringen und dort effektiv Thrombus-gebundenes Thrombin binden zu können. Untersuchungen von Berry [8] konnten zeigen, dass lediglich ein zweifacher Konzentrationsanstieg von Argatroban notwendig ist, um Fibrin-gebundenes Thrombin in vitro zu neutralisieren. Im Vergleich dazu wird hierzu von Hirudin ein 23facher und von Heparin ein 500facher Anstieg der Konzentration benötigt. Berrys Ergebnisse waren noch dramatischer bei In-vivo-Versuchen. Hierbei war ein 4 000facher Anstieg der Hirudin- bzw. 5 000facher Anstieg der Heparin-Konzentration notwendig, um Gerinnsel-gebundenes Thrombin zu inhibieren.
Interaktionen mit Heparin-induzierten Antikörpern sind nicht bekannt [7].
Ein Antidot gegen die Argatroban-Wirkung steht nicht zur Verfügung.
Pharmakokinetik
Argatroban wird intravenös verabreicht, die übliche Anfangsdosis beträgt 2 µg/kg
pro Minute, die Maximaldosis 10 µg/kg pro Minute. 14 Tage Behandlungsdauer sollten nicht überschritten werden. Zu einer längerer Anwendung gibt es nur begrenzte Erfahrungen.
Die Eliminationshalbwertszeit von Argatroban beträgt nach i. v. Gabe 39 bis 51 Minuten, im Steady State 52 ± 16 Minuten. Ein Steady State wird nach 1 bis 3 Stunden erreicht.
Die Metabolisierung von Argatroban erfolgt in der Leber über Cytochrom-P450-Enzyme, die Ausscheidung über Galle und Fäzes. Alter, Geschlecht und Nierenfunktion beeinflussen die Pharmakokinetik von Argatroban nicht [6].
Patienten mit Niereninsuffizienz, Leberinsuffizienz
Die Metabolisierung und Elimination von Argatroban läuft über Leber, Galle und Fäzes. Bei Patienten mit reduzierter Leberproteinsynthese-Leistung werden im Vergleich zum Leber-Gesunden bei gleicher Dosierung höhere aPTT-Werte gemessen. Die Eliminationshalbwertszeit von Argatroban ist bei Patienten mit Leberfunktionsstörungen verlängert. Die Dosierung von Argatroban muss daher angepasst werden – bereits bei leichter Leberfunktionsstörung wird eine Reduktion der Initialdosis auf 0,5 µg/kg pro Minute empfohlen.
Im Gegensatz zur Leberinsuffizienz hat Niereninsuffizienz keinen Einfluss auf die Pharmakokinetik von Argatroban, daher ist bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion keine Dosisreduktion nötig [6].
Monitoring
Nach intravenöser Gabe von Argatroban verändern sich dosisabhängig aPTT (aktivierte partielle Thromboplastinzeit), ACT (activated clotting time), Quick-Wert (Prothrombinzeit), TZ (Thrombinzeit) und ECT (Ecarin clotting time) [9]. Üblicherweise erfolgt das Monitoring über die aPTT. Der aPTT-Zielbereich im Steady State beträgt das 1,5- bis 3fache des Ausgangswerts. Die erste aPTT-Kontrolle sollte 2 Stunden nach Infusionsbeginn erfolgen, um eventuell eine Dosisanpassung veranlassen zu können.
Nach Ende der Infusion normalisiert sich die aPTT innerhalb von 2 bis 4 Stunden.
Bei gleichzeitiger Gabe von oralen Antikoagulanzien und Argatroban kommt es zu einem additiven Effekt auf Quick/INR-Wert. Dies muss bei der Überleitungsphase von Argatroban auf Vitamin-K-Antagonisten bedacht werden, damit Argatroban nicht zu früh abgesetzt wird. Absetzen von Argatroban ist bei Erreichen einer INR von 4,0 zu empfehlen. Quick- bzw. INR-Kontrollen müssen nach Abklingen des Argatroban-Effekts auf Quick/INR erfolgen, um sicherzustellen, dass eine therapeutische Antikoagulation durch Vitamin-K-Antagonisten allein erreicht wird.
Nebenwirkungen
Hauptnebenwirkung von Argatroban – wie von den meisten gerinnungshemmenden Pharmaka – sind Blutungsprobleme. Im Rahmen klinischer Studien traten schwere Blutungen bei 5 %, leichte bei 39 % der Patienten auf. Schwere Blutungen waren bei Patienten mit aPTT-Werten oberhalb des therapeutischen Bereichs etwa 3-mal häufiger als bei Patienten mit aPTT-Werten im therapeutischen Bereich. Neben Blutungsproblemen sind im Rahmen klinischer Studien vielfältige weitere Nebenwirkungen beschrieben worden, die möglicherweise mit der Argatroban-Gabe in Zusammenhang stehen, so beispielsweise Schwindel, Anämie, Nausea, Muskelschwäche oder Hautausschlag.
Klinische Studien, Zulassungen
Im Rahmen der ersten Multicenter-Studie im Jahr 2001 (ARG 911) [10] wurde Argatroban bei 304 Patienten mit HIT Typ II angewendet und die Ergebnisse mit einer historischen Gruppe von 193 HIT-Typ-II-Patienten verglichen, bei denen kein alternatives Antikoagulans gegeben, sondern lediglich die Heparin-Behandlung abgesetzt wurde. In der mit Argatroban behandelten Patientengruppe wurden während des Follow-ups von 37 Tagen signifikant weniger Todesfälle, Amputationen und Rezidivthrombosen beobachtet (kombinierter Endpunkt). Die Nachfolgestudie [11] konnte 2003 diese Ergebnisse bestätigen – der kombinierte Endpunkt Tod, Amputation oder erneute Thrombose war in der mit Argatroban behandelten Patientengruppe mit 28 % gegenüber der historischen Kontrollgruppe mit 38 % signifikant geringer.
Inzwischen ist Argatroban in vielen Ländern unter den Handelsnamen „Novastan“ oder „Argatra“ zugelassen – in Japan bereits seit 1990 zur Therapie der arteriellen Verschlusskrankheit, seit 1996 auch zur Therapie akuter zerebraler Thrombosen sowie zur Behandlung Hämodialyse-pflichtiger Patienten mit Antithrombinmangel.
In Korea besteht ebenfalls seit 1990 eine Zulassung zur Behandlung von Patienten mit arterieller Verschlusskrankheit und zur Behandlung akuter zerebraler Thrombosen.
In den USA wurde Argatroban im Jahr 2000 zur Behandlung der HIT Typ II zugelassen, 2002 wurde die Zulassung für Patienten mit perkutaner Koronarintervention und HIT Typ II erweitert.
In China besteht seit 2002 eine Zulassung zur Behandlung der chronischen arteriellen Verschlusskrankheit.
Zulassungen zur Behandlung der HIT Typ II sind inzwischen auch in Kanada und Europa erfolgt, so in Schweden, den Niederlanden, Österreich, Island, Dänemark und Norwegen. In Deutschland besteht unter dem Handelsnamen Argatra® seit 2005 eine Zulassung zur Behandlung von Erwachsenen mit HIT Typ II, die eine parenterale antithrombotische Therapie benötigen.
Fazit
Argatroban ist ein nach intravenöser Gabe schnell wirkendes Antikoagulans, welches unproblematisch zu dosieren und leicht über die aPTT zu überwachen ist [12]. Die kurze Halbwertszeit ist bei schwerkranken Patienten, insbesondere perioperativ, von Vorteil. Positiv ist auch die hohe Potenz, Gerinnsel-gebundenes Thrombin zu inhibieren, sowie die Tatsache, dass bisher keine Antikörperbildung beobachtet wurde.
Darüber hinaus ist zu begrüßen, dass mit Argatroban das erste schnell wirksame Antikoagulans zur Verfügung steht, welches nicht über die Niere metabolisiert und ausgeschieden wird.
Argatroban
In Germany the direct thrombin inhibitor Argatroban (Argatra®) is approved for the treatment of patients with heparin-induced thrombocytopenia needing parenteral antithrombotic treatment. Intravenous application of the drug leads to rapid onset of anticoagulant action. Argatroban is eliminated via liver, bile and faeces. Argatroban does not induce formation of antibodies reducing its pharmacologic action.
Keywords: Argatroban, direct thrombin inhibitor, heparin-induced thrombocytopenia
Literatur
1. Schrör K. Schwerpunkt: Molekulare Ziele der Therapie – Hämostaseologie. Internist 2005;46:873–81.
2. Weitz JI, Bates M. New anticoagulants. J Thromb Haemostas 2005;3:1843–53.
3. Breddin HK. Experimentelle und klinische Befunde mit dem Thrombinhemmer Argatroban. Hämostaseologie 2002;22:137–41.
4. Hursting MJ, Alford KL, Becker JC, Brooks RL, et al. Novastan (brand of argatroban): a small-molecule, direct thrombin inhibitor. Semin Thromb Hemost 1997;23:503–16.
5. Lewis BE, Walenga JM. Clinical use of argatroban. In: Sasahara AA, Loscalzo J. New therapeutic agents in thrombosis and thrombolysis. New York: Marcel Dekker Inc., 2003:185–99.
6. Swan SK, Hursting MJ. The pharmacokinetics and pharmacodynamics of argatroban: effects of age, gender, and hepatic or renal dysfunction. Pharmacotherapy 2000;20:318–29.
7. Harenberg J, Jörg I, Fenyvesi T, Lukas P. Treatment of patients with a history of heparin-induced thrombocytopenia and anti-lepirudin antibodies with argatroban. J Thromb Thrombolysis 2005;19:65–9.
8. Berry CN, Girard D, Lochot S, Lecoffre C. Antithrombotic actions of argatroban in rat models of venous, mixed and arterial thrombosis, and its effects on the tail transection bleeding time. Br J Pharm 1994;113:1209–14.
9. Fenyvesi T, Jörg I, Harenberg J. Monitoring of anticoagulant effects of direct thrombin inhibitors. Semin Thromb Hemost 2002;28:361–8.
10. Lewis BE, Wallis DE, Rerkowitz DS, Matthai WH, et al. for the ARG-911 Study Investigators. Argatroban anticoagulant therapy in patients with heparin-induced thrombocytopenia. Circulation 2001;103:1838–43.
11. Lewis BE, Wallis DE, Leya F, Hurstung MJ, et al. for the Argatroban-915 Investigators. Argatroban anticoagulation in patients with heparin-induced thrombocytopenia. Arch Int Med 2003;163:1849–56.
12. Kemkes-Matthes B, Walenga JM, Harenberg J, Fareed J. Argatroban treatment for patients with intolerance to heparin and hirudin. Clin Appl Thromb Hemost 2005;11:99–103.
Prof. Dr. Bettina Kemkes-Matthes, Schwerpunkt Hämostaseologie, Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort Gießen, Klinikstraße 36, 35385 Gießen, E-Mail: Bettina.Kemkes-Matthes@innere.med.uni-giessen.de
Tab. 1. Direkte Thrombin-Inhibitoren
INN |
Handelsname |
Zulassungsstatus |
Herstellung |
Thrombin-Bindung |
Applikation |
Ausscheidung |
Argatroban |
Argatra® |
Antikoagulation bei HIT Typ II |
Synthese |
Spezifisch, reversibel |
Intravenös |
Biliär/Fäzes |
Bivalirudin |
Angiomax® |
Antikoagulation zur perkutanen Koronarintervention |
Synthese |
Spezifisch, reversibel |
Intravenös |
Renal |
Hirudin |
Refludan® |
Antikoagulation bei Patienten mit HIT Typ II |
Gentechnisch |
Spezifisch, irreversibel |
Intravenös |
Renal |
Arzneimitteltherapie 2006; 24(09)