Dr. Birgit Schindler, Freiburg
Multiple Sklerose ist bei jungen Erwachsenen die häufigste nicht-traumatische neurologische Erkrankung. Dieser chronisch-entzündlichen Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS) liegt vermutlich eine Autoimmunpathogenese zu Grunde.
In den Lymphknoten werden Autoantigene von Oligodendrozyten den T-Lymphozyten präsentiert. Normalerweise werden diese Autoantigen-erkennenden T-Zellen, bevor sie in den Blutkreislauf gelangen, am Ort ihrer Zellreifung, dem Thymus, entfernt. Bei Patienten mit multipler Sklerose dagegen differenzieren diese autoreaktiven T-Zellen in peripheren Lymphknoten durch Kontakt mit Antigen-präsentierenden dendritischen Zellen zu Effektorzellen. Die dadurch aktivierten, autoimmunreaktiven T-Zellen gelangen in den Blutkreislauf, überwinden mit Hilfe von Adhäsionsmolekülen die Blut-Hirn-Schranke und verursachen im Gehirn Entzündungsreaktionen, die die Myelinscheiden und Axone von Oligodendrozyten schädigen.
Seit August 2006 steht der monoklonale Antikörper Natalizumab (Tysabri®) für die Therapie zur Verfügung. Natalizumab verhindert die α4-Integrin-abhängige Adhäsion dieser T-Lymphozyten an Endothelzellen der Blutgefäße und hemmt damit den Übertritt ins Gehirn. Mit Fingolimod (Abb. 1) befindet sich nun ein Wirkstoff in klinischer Prüfung, der ebenfalls die Migration von T-Zellen beeinträchtigt, allerdings an anderer Stelle als Natalizumab.
Bei Fingolimod handelt es sich um ein Derivat des aus dem Pilz Isaria sinclarii stammenden Wirkstoffs Myriocin. Fingolimod wird bei Eintritt in den Blutkreislauf schnell phosphoryliert und ähnelt dann Sphingosin-1-phosphat (S1P), für das fünf verschiedene G-Protein-gekoppelte Rezeptoren bekannt sind (S1P1, S1P2, S1P3, S1P4 und S1P5). Der auf Lymphozyten exprimierte S1P1-Rezeptor reguliert die Migrationswege von T-Lymphozyten. Fingolimod verursacht eine irreversible Internalisierung dieser S1P1-Rezeptoren und verhindert dadurch, dass autoimmunreaktive T-Lymphozyten die Lymphknoten verlassen und ins ZNS wandern können.
In einer doppelblinden, Plazebo-kontrollierten Multicenterstudie wurden 281 Patienten mit schubförmig-remittierender multipler Sklerose zu gleichen Teilen randomisiert wie folgt über 6 Monate behandelt:
- 1,25 mg Fingolimod
- 5 mg Fingolimod
- Plazebo
Primärer Endpunkt war die Gesamtzahl der mit Gadolinium-verstärkter, T1-gewichteter Magnetresonanztomographie (MRT) dargestellten Läsionen pro Patient als Maß für die entzündliche Krankheitsaktivität. Als klinisch relevanter Endpunkt wurde die Schubrate angegeben.
Von den 250 Patienten, die diese sechsmonatige Behandlung abgeschlossen hatten, nahmen 98 % weitere sechs Monate an einer Verlängerung der Studie teil. Dabei erhielten Patienten der Fingolimod-Gruppen weiterhin ihre bisherige Medikation, während Patienten der Plazebo-Gruppe randomisiert eine der beiden Fingolimod-Dosierungen zugeteilt bekamen. Untersucht wurde hier vorwiegend die Veränderung in den genannten Endpunkten nach 12 Monaten Behandlung im Rahmen der Studie im Vergleich zum Zeitpunkt nach sechs Monaten Therapie. Die Verlängerung der Studie beendeten 227 Patienten.
Nach sechs Monaten war bei beiden Fingolimod-Gruppen sowohl die Anzahl der mit MRT gezeigten Läsionen als auch die Schubrate niedriger als in der Plazebo-Gruppe (Tab. 1). Während der Verlängerung der Studie blieb die Anzahl der Läsionen und die Schubrate in den beiden Gruppen, die kontinuierlich Fingolimod erhalten hatten, niedrig, während beide Parameter bei den Patienten, die nun statt Plazebo Fingolimod erhielten, abnahmen (Tab. 2).
Häufige, dosisabhängige Nebenwirkungen bei der Gabe von Fingolimod waren eine vorübergehende Verringerung der Herzfrequenz in den ersten Stunden nach der ersten Dosis, ein erhöhter Blutdruck und die Obstruktion der Luftwege. Diese unerwünschten Wirkungen sind zwar S1P-vermittelt, möglicherweise aber nicht S1P1-vermittelt und wären in diesem Fall durch einen selektiven S1P1-Wirkstoff vermeidbar. Allerdings bestünde auch bei Wirkstoffen, die selektiv S1P1-antagonistisch wirken würden, aufgrund der immunsuppressiven Wirkung die Gefahr einer erhöhten Infektanfälligkeit. In der vorliegenden Studie waren Infektionen der oberen Luftwege, insbesondere Nasopharyngitis, bei Patienten, die 5 mg Fingolimod erhalten hatten, häufiger als bei den Patienten, die 1,25 mg Fingolimod oder Plazebo erhalten hatten. Eine Langzeit-Anwendung könnte zudem die Gefahr opportunistischer Infektionen des ZNS bergen, da bedingt durch den Wirkungsmechanismus eine Immunüberwachung des ZNS fehlt. Während einer dreijährigen Kombinationstherapie mit Natalizumab und Interferon beta-1a erkrankten drei Patienten schwer an einer durch das JC-Virus, ein humanes Polyoma-Virus, verursachten multifokalen Leukoenzephalopathie. Diese zwar seltene, aber akut lebensbedrohliche Nebenwirkung könnte möglicherweise auch bei Therapie mit Fingolimod auftreten. Daneben trat bei der Therapie mit Fingolimod häufiger als bei Gabe von Plazebo eine klinisch asymptomatische Erhöhung des Leberenzyms Alanin-Aminotransferase auf.
Im Moment wird Fingolimod in einer Phase-III-Studie in dieser Indikation untersucht. Nach Beendigung dieser Studie wird sich zeigen, ob es mit dem oral verfügbaren Fingolimod bald neben Natalizumab einen weiteren T-Lymphozyten-beeinflussenden Wirkstoff als Therapieoption bei schubförmig-remittierender multipler Sklerose geben wird.
Quellen
Kappos L, et al. Oral fingolimod (FTY720) for relapsing multiple sclerosis. N Engl J Med 2006;355:1124–40.
Massberg S, von Andrian UH. Fingolimod and sphingosine-1-phosphate – modifiers of lymphocyte migration. N Engl J Med 2006;355:1088–91.

Abb. 1. Fingolimod (FTY720), ein von Novartis entwickelter Sphingosin-1-phosphat-Rezeptor-Modulator
Tab. 1. Ergebnisse nach sechsmonatiger Behandlung mit Fingolimod in einer Phase-II-Studie mit Patienten mit schubförmig-remittierender multipler Sklerose (Auswahl) [nach Kappos L, et al. 2006]
Plazebo |
Fingolimod 1,25 mg |
p-Wert vs. |
Fingolimod 5 mg |
p-Wert vs. |
|
Läsionen pro Patient* (Mittelwert ± SD) |
2,21 ± 4,3 |
1,29 ± 5,8 |
< 0,001 |
0,27 ± 0,7 |
< 0,001 |
Patienten ohne Läsionen [n] |
38 (47 %) |
64 (77 %) |
63 (82 %) |
||
Relative Verringerung der Schubrate vs. Plazebo |
55 % (18–75) |
53 % (14–74) |
|||
Schubfreie Patienten [%] |
66 |
86 |
0,003 |
86 |
0,004 |
SD = Standardabweichung
* mit Gadolinium-verstärkter, T1-gewichteter Magnetresonanztomographie dargestellte Läsionen als Maß für die entzündliche Krankheitsaktivität
Tab. 2. Ergebnisse nach 12-monatiger Behandlung mit Fingolimod in der Verlängerung einer Phase-II-Studie mit Patienten mit schubförmig-remittierender multipler Sklerose (Auswahl): Patienten, die zunächst sechs Monate Plazebo erhalten hatten, wurden für die folgenden sechs Wochen randomisiert mit Fingolimod weiterbehandelt; Patienten der beiden Fingolimod-Gruppen setzten die Therapie fort [nach Kappos L, et al. 2006]
Plazebo–Fingolimod 1,25 mg (n = 28) |
Plazebo–Fingolimod 5 mg (n = 32) |
Fingolimod 1,25 mg (n = 62) |
Fingolimod 5 mg (n = 65) |
|
Läsionen pro Patient* [n] (Mittelwert ± SD) |
2,9 ± 5,2 |
1,6 ± 2,6 |
1,2 ± 6,2 |
0,3 ± 0,6 |
Läsionen pro Patient* [n] (Mittelwert±SD) |
0,2 ± 0,6 |
0,4 ± 0,7 |
1,0 ± 6,4 |
0,2 ± 0,5 |
p-Wert (6 vs. 12 Monate) |
< 0,001 |
0,004 |
0,34 |
0,24 |
Patienten ohne neue Läsionen [n] |
24 (86 %) |
22 (69 %) |
53 (85 %) |
57 (88 %) |
Auf ein Jahr bezogene Schubrate, Monate 0–6 |
0,70 |
0,69 |
0,36 |
0,32 |
SD = Standardabweichung
* mit Gadolinium-verstärkter, T1-gewichteter Magnetresonanztomographie dargestellte Läsionen als Maß für die entzündliche Krankheitsaktivität
Arzneimitteltherapie 2007; 25(04)