Dr. Annemarie Musch, Stuttgart
Das multiple Myelom gehört zu den 20 häufigsten Tumorerkrankungen in Deutschland. Jährlich erkranken etwa 3 000 bis 3 500 (vorwiegend ältere) Menschen neu an der lymphoproliferativen Erkrankung des B-Zellsystems, die vor allem das Knochenmark betrifft. Charakteristisch ist die monoklonale, gesteigerte Proliferation entarteter Plasmazellen im Knochenmark, der Myelomzellen. Diese produzieren monoklonale Immunglobuline ohne Antikörperfunktion, die so genannten Para- oder M-Proteine.
Die Erkrankungsursache ist unklar. Durch die gesteigerte Proliferation der Myelomzellen kommt es zur Verdrängung blutbildenden Gewebes aus dem Knochenmark, als Folge können bei den Patienten Anämie, Infektanfälligkeit und verstärkte Blutungsneigung auftreten. Weiterhin kann es zur Zerstörung des umliegenden Knochens durch die Aktivierung von Osteoklasten und zu Durchblutungsstörungen und/oder Nierenschäden unter anderem durch die Freisetzung von Paraproteinen kommen. Symptome können zum Beispiel auch Knochenschmerzen sein. Die Prognose der Erkrankung ist schlecht, unbehandelt liegt das mediane Überleben unter einem Jahr. Prognostisch ungünstig sind neben Begleiterkrankungen der Patienten als wichtigstem prognostischen Unterschied zwischen jüngeren und älteren Patienten beispielsweise genetische Veränderungen (z. B. Chromosom-13-Deletion) und ein erhöhter Creatininwert trotz Therapie. Eine dauerhafte Heilung der Patienten ist nach derzeitigem Wissensstand vermutlich nicht möglich. Als Standardtherapie wird in der Leitlinie zur Behandlung des multiplen Myeloms bei jüngeren Patienten unter 65 Jahren wann immer möglich eine autologe Blutstammzelltransplantation nach Hochdosischemotherapie mit Melphalan empfohlen. Es werden höhere Ansprechraten und ein längeres Überleben gegenüber der Standardchemotherapie mit Melphalan und Prednison erreicht, die mediane Überlebenszeit beträgt vier bis fünf Jahre. Für Patienten über 65 Jahre wird die Gabe von Melphalan und Prednison (MP, „Alexanian-Schema“; oder Bendamustin/Prednison [BP]) empfohlen, alternativ kann eine Kombination von Vincristin, Adriamycin (= Doxorubicin [INN]) und Dexamethason gegeben werden (= VAD-Schema). Die mediane Überlebenszeit beträgt hier zwei bis drei Jahre.
Derzeitige Forschungsansätze gehen entsprechend dieser Zweiteilung der Therapie – also der unterschiedlichen Behandlung von jüngeren und älteren Patienten mit multiplem Myelom – der Fragestellung nach, ob das Therapieergebnis bei jüngeren Patienten durch eine Vor- oder Nachbehandlung verbessert werden kann, und, inwiefern bei älteren Patienten die Kombination mit neuen Wirkstoffen (z. B. Bortezomib) zu einer Optimierung der Behandlungsergebnisse führt.
Der Proteasom-Inhibitor Bortezomib (Velcade®, siehe Kasten) ist seit Anfang 2004 zur Third-Line-Therapie und seit dem Frühjahr 2005 auch zur Second-Line-Therapie des multiplen Myeloms zugelassen. In der APEX-Studie (Assessment of proteasome-inhibition for extending remissions), einer randomisierten Phase-III-Studie, konnte beispielsweise bei Patienten mit rezidiviertem multiplem Myelom, die bereits ein bis drei Vortherapien erhalten hatten und nun Bortezomib erhielten, eine im Vergleich zur Dexamethason-Therapie signifikante Verlängerung der Zeit bis zum Fortschreiten der Erkrankung gezeigt werden (im Median 6,2 vs. 3,5 Monate; p < 0,0001). (Anmerkung: Dexamethason wurde international häufig zur Therapie der rezidivierten Erkrankung eingesetzt.) In einer aktualisierten Analyse zeigte sich nach einer durchschnittlichen Beobachtungszeit von 22 Monaten ein signifikanter Überlebensvorteil für die mit Bortezomib behandelten Patienten (im Median 29,8 Monate vs. 23,7 Monate; p = 0,0272).
Jüngere Patienten (< 65 Jahre)
Zur Therapieoptimierung, d. h. einer Steigerung der Remissionsaussicht und -qualität und des progressionsfreien Überlebens sowie einer Reduktion des Rezidivrisikos, bei jüngeren Patienten wird die zusätzlich zur Hochdosischemotherapie und Stammzelltransplantation durchgeführte Vor- oder Nachbehandlung untersucht.
Beispielsweise konnte bei der Gabe von Bortezomib und Dexamethason vor der Hochdosischemotherapie und Stammzelltransplantation bei zuvor unbehandelten Patienten (n = 48) eine Gesamtansprechrate von 90 % erreicht werden, wobei die Stammzellmobilisation nicht beeinträchtigt wurde. Ein ähnliches Ergebnis wurde auch für die initiale Therapie mit Bortezomib, Doxorubicin und Dexamethason erzielt. In einer der beiden Studien, einer offenen Phase-I/II-Studie mit 20 zuvor unbehandelten Patienten zeigte sich zudem, dass die Toxizität (z. B. Neuropathie) der Therapie durch eine Dosisreduktion von Bortezomib (1,3 mg/m2 auf 1,0 mg/m2) gesenkt werden kann.
In einer offenen, randomisierten Phase-III-Studie der GMMG (= German-speaking myeloma multicenter group; GMMG-HD4/HOVON-65 Studie) wird derzeit die initiale Behandlung mit dieser Dreierkombination im Vergleich zur VAD-Gabe bei Patienten, die sich einer Tandem-Stammzelltransplantation unterziehen, untersucht. Die Patienten erhalten anschließend Bortezomib oder Thalidomid (VAD-Gruppe) als Erhaltungstherapie. Es wird unter anderem untersucht, ob durch die initiale Therapie und die Erhaltungstherapie mit Bortezomib das ereignisfreie Überleben gegenüber der Therapie ohne Bortezomib verlängert werden kann.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Kombination von Bortezomib mit Cyclophosphamid (DSMM XIa-c-Studie).
Ältere Patienten (> 65 Jahre)
Die Therapie von älteren Patienten könnte durch die Kombination verschiedener Wirkstoffe optimiert werden. Es bietet sich auch hier die Kombination mit Bortezomib an – sowohl zur First-Line-Therapie als auch zur Behandlung von Rezidiven –, vor dem Hintergrund, dass die Empfindlichkeit von Myelomzellen gegenüber etablierten Therapieprinzipien möglicherweise gesteigert werden kann.
Viel versprechend ist die Kombination von Bortezomib mit Melphalan und Prednison – sowohl in der First-Line-Therapie als auch bei Patienten, die bereits eine oder mehrere Therapien erhalten haben. In einer Phase-I/II-Studie beispielsweise wurde die Dreierkombination bei 60 nicht vorbehandelten Patienten, bei denen keine Stammzelltransplantation durchgeführt werden konnte, eingesetzt. Im Vergleich zu historischen Kontrollen konnte hierbei eine höhere Ansprechrate (89 vs. 42 %) sowie ein verlängertes progressionsfreies Überleben und Gesamtüberleben der Patienten (nach 16 Monaten 83 vs. 51 % bzw. 90 vs. 62 %) gezeigt werden. Derzeit wird diese Kombination, also Bortezomib plus Melphalan und Prednison, in einer offenen, randomisierten Phase-III-Studie (VISTA: Velcade bortezomib for injection as initial standard therapy in multiple myeloma: assessment with melphalan and prednisone) im Vergleich zur Gabe von Melphalan und Prednison bei nicht vorbehandelten Patienten untersucht.
Quellen
Prof. Dr. med. Hartmut Goldschmidt, Heidelberg, Dr. med. Ralf Angermund, Neuss, Prof. Dr. med. Mohammed Reza Nowrousian, Essen, Dr. med. Martin Kropff, Münster, Prof. Dr. med. Hermann Einsele, Würzburg. Pressekonferenz „Velcade® auf dem Weg zur Leitsubstanz beim multiplen Myelom?“ veranstaltet von Ortho Biotech im Rahmen der Gemeinsamen Jahrestagung der Deutschen, Österreichischen und Schweizerischen Gesellschaften für Hämatologie und Onkologie 2006, Leipzig, 5. November 2006.
Richardson PG, et al. Bortezomib (PS-341): A novel, first-in-class proteasome inhibitor for the treatment of multiple myeloma and other cancers. Cancer Control 2003;10:361–9.
Richardson PG, et al. Bortezomib or high-dose dexamethasone for relapsed multiple myeloma. N Engl J Med 2005;352:2487–98.
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Popat R, et al. Reduced dose PAD combination therapy (PS-341/bortezomib, adriamycin and dexamethasone) for previously untreated patients with multiple myeloma. ASH 2005, 47th annual meeting and exposition;Georgia:Abstract 2554.
http://www.lymphome.de/Gruppen/MMSG/Protokolle/GMMGHD4/
Mateos MV, et al. Bortezomib plus melphalan and prednisone in elderly untreated patients with multiple myeloma: results of a multicenter phase 1/2 study. Blood 2006;108:2165–72.
Proteasom-Inhibition – Wirkungsmechanismus von Bortezomib
Das Proteasom ist ein im Zytoplasma und Kern aller eukaryoter Zellen zu findender Multiproteasekomplex. Hier erfolgt der Abbau von Proteinen, die Zellteilung und Apoptose regulieren. Die Funktion des Proteasoms ist damit für die Regulation des Stoffwechsels dieser Proteine und somit für die Regulation von Zellteilung und Zelltod wichtig. Hieraus wird auch der therapeutische Ansatz zur Hemmung von Proteasomen in der Krebstherapie deutlich: Eine Deregulation der Prozesse kann Krebs auslösen. Eine Hemmung des Proteasoms führt in Myelomzellen über verschiedene intrazelluläre Mechanismen (z. B. Inhibition des nukleären Transkriptionsfaktors NFκB) zur Arretierung des Zellzyklus, damit der Zellteilung und Apoptose (Abb. 1).

Abb. 1. Verschiedene Wirkungen von Bortezomib beim multiplen Myelom [nach Richardson PG, et al. 2003]: a) Hemmung des Zellwachstums von Tumorzellen, b + c) Hemmung der Interaktion von Tumorzellen mit Stromazellen im Knochenmark (Interaktion über Adhäsionsmoleküle und Zytokine, insbesondere Interleukin-6, und als Folge Aktivierung dieser Zellen, die dann wiederum das Wachstum der Tumorzellen fördern und die Apoptose der Tumorzellen hemmen, und Aktivierung von Osteoklasten), d) Einschränkung der Tumor-bedingten Angiogenese im Knochenmark
Arzneimitteltherapie 2007; 25(06)