Das anonyme Incident Reporting System „PaSIS“ und PaSOS


Melde- und Informationsplattform auch für sicherheitsrelevante Ereignisse im Zusammenhang mit der Verabreichung von Medikamenten

Marcus Rall, Jörg Zieger, Eric Stricker, Silke Reddersen, Patricia Hirsch und Peter Dieckmann, Tübingen

In der Medizin werden Incident Reporting Systeme zunehmend als unverzichtbares Element zur dringend erforderlichen Erhöhung der Patientensicherheit bewertet. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat in ihrer „World Alliance for Patient Safety“ im Jahr 2005 die Dringlichkeit der Einführung von Incident Reporting Systemen betont und einen Entwurf zu Leitlinien für Incident Reporting Systeme veröffentlicht: „WHO Draft Guidelines for Adverse Event Reporting an Learning Systems – from information to action“ [2]. Die Einführung von Incident Reporting Systemen hat sich in anderen Hochsicherheits-Hochrisiko-Industrien (z. B. Luftfahrt, Kernkraft, Ölbohrindustrie) als Meilenstein auf dem Weg zur systematischen Erhöhung der Sicherheit erwiesen. Nun gilt es, diese Erkenntnisse auf die Medizin zu übertragen und für die Erhöhung der Patientensicherheit nutzbar zu machen. Verglichen mit den oben erwähnten Hochsicherheitsindustrien ist die Medizin sehr unsicher und risikobereit.

Im Vergleich zu anderen Diagnosen in der Medizin mit großem Gefährdungspotenzial ist das Wissen um die Entstehung und Ursachen von Fehlern in der Medizin ebenso rudimentär wie die Kenntnis ihrer systematischen Vermeidung. Fehler werden in der Medizin oftmals mit „schuldhaftem Handeln“ gleichgesetzt und lieber verschwiegen und aus Angst vor Konsequenzen nicht offen zur Diskussion gebracht. Fehler werden leider oft nicht als Lernchance begriffen, deren Analyse mit der Ergründung der situativen Umstände wertvolle Erkenntnisse bringen können, die Fehler zukünftig vermeiden helfen.

Viele Laien, aber auch Mediziner unterschätzen die Zahl an Todesfällen und dauerhaften Schädigungen, die von Fehlern in der Medizin ausgehen – nach einer Schätzung des Sachverständigenrates für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2003) kommen in Deutschland jährlich zwischen 30 000 und 80 000 Patienten durch oder im Zusammenhang mit Fehlern in der Medizin zu Tode [3]. Damit zählen „Fehler in der Medizin“ zur zehnthäufigsten Todesursache in Deutschland! Todesfälle bilden aber nur die Spitze des Eisbergs der Fehlerfolgen in der Medizin; schwere und bleibende Schäden sind um ein Vielfaches häufiger. Dazu kommt eine grosse Anzahl von kritischen Ereignissen oder Zwischenfällen, welche durch glückliche Umstände und durch rechtzeitiges Eingreifen in ihren Folgen abgeschwächt werden können. Wichtig ist, zu erkennen, dass Fehler meist Ursache von systematischen und organisatorischen Defiziten sind. Das Problem liegt also im System, nicht in der Person.

Das „Patientensicherheits-Informations-System“ („PaSIS“) (www.pasis.de) ist ein internetbasiertes Incident Reporting System zur anonymen Erfassung sicherheitsrelevanter Ereignisse in der Patientenversorgung [4, 5, 6]. Es wurde vom Tübinger Patienten-Sicherheits- und Simulationszentrum TÜPASS der Universitätsklinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin (www.tupass.de) in Tübingen unter der Leitung von Dr. Marcus Rall im Jahr 2003 unter Berücksichtigung zahlreicher bekannter Incident Reporting Systeme entwickelt und läuft seit Anfang 2005. PaSIS ist grundsätzlich interdisziplinär angelegt und steht auch Teilnehmern anderer Fachgebiete offen. Das System arbeitet nach dem aktuellen Stand der Erkenntnisse über moderne Incident Reporting Systeme und steht angeschlossenen Institutionen innerhalb und außerhalb des Fachgebietes der Anästhesiologie für anonyme Berichte von sicherheitsrelevanten Ereignissen zur Verfügung. So nimmt die Deutsche Rettungsflugwacht (DRF) seit Beginn an PaSIS teil und ist im Begriff, sämtliche Luftrettungszentren in Deutschland an PaSIS anzuschließen.

Das Patienten-Sicherheits-Optimierungssystem PaSOS (www.pasos-ains.de), das bundesweite Incident Reporting System der Fachgesellschaften für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie (Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin, DGAI und Berufsverband Deutscher Anästhesisten, BDA), ist ähnlich wie PaSIS aufgebaut und steht jeder Anästhesieabteilung in Deutschland offen [4, 7, 8].

Die Incident Reporting Systeme PaSIS und PaSOS bieten den Teilnehmern die Möglichkeit zur anonymen detaillierten Schilderung eines kritischen Ereignisses, die normalerweise bei einer namentlichen Identifikation der Beteiligten aus (berechtigter) Furcht vor Sanktionen nicht zustande kommen würde. Jedes Ereignis, das der Meldende für sicherheitsrelevant hält (allgemein als „unerwünschte Ereignisse“ bezeichnet), kann auf einem Meldeformular im Internet, bei PaSIS auch in Papierform, berichtet werden. Das Formular enthält dafür im wesentlichen Freitextfelder, damit der Informationsgehalt einer Meldung möglichst vollständig erhalten bleibt. Papierbasierte Meldungen werden auf dem Postweg zu PaSIS geschickt. Alle eingegangenen Fälle werden in PaSIS und PaSOS durch geschulte Experten anonymisiert und aktiv de-identifiziert. Die Anonymität der Fälle hat in diesen Meldesystemen oberste Priorität, damit nicht aus der ungewollten Identifikation des Melders Sanktionen entstehen können, welche die Fallmeldungen zukünftig versiegen lasssen.

Alle Ereignisberichte in PaSIS werden für alle Nutzer des Systems lesbar geschaltet – alle können alle Meldungen lesen – und durch ein interdisziplinäres Analyseteam ausgewertet. Aus den Ergebnissen der Fallanalyse werden daraufhin, wenn möglich, Handlungsempfehlungen gegeben. Für die Wirkung und den Erhalt der Incident Reporting Systeme ist es von essenzieller Bedeutung, dass dem gemeldeten Fallbericht auch Maßnahmen folgen, damit der Melder sieht, dass sich wirklich „etwas tut“ und die Meldung nicht nur unberücksichtigt in einer Datensammlung versickert.

Auf diese Weise bekommt jede Meldung ein fallbezogenes Feedback. Mit abteilungsspezifischen Logins lassen sich PaSIS und PaSOS als lokales Incident Reporting System für teilnehmende Institutionen nutzen. Über dieses „System im System“ hinaus werden die Fälle und getroffenen Maßnahmen andererseits in der gesamten Fachöffentlichkeit lesbar und können von jedem in der eigenen Institution umgesetzt werden – so können alle aus den Erfahrungen der anderen lernen und müssen nicht erst selbst eine kritische Situation erfahren, um Probleme und Schwachstellen innerhalb der medizinischen Versorgung zu erkennen und deren Ursachen positiv zu beeinflussen.

Nicht nur kritische Situationen – von Beinahe-Komplikationen ohne Schaden bis hin zu ernsthaften kritischen Ereignissen – sollen in den Incident Reporting Systemen zur Sprache kommen, sondern auch positive Lösungen, Tipps und Tricks zur Behandlung eines gefährlichen Ereignisses. Auf diese Weise komplettiert sich die Bedeutung für die Verbreitung von Wissen um das Management von medizinischen Akutsituationen: Ein einziger gemeldeter Fall kann so ein gesamtes System positiv beeinflussen und die Patientensicherheit bundesweit erhöhen.

Durch diesen konstruktiven und nicht sanktionsbehafteten Umgang mit Zwischenfällen und der Suche nach Fehlerursachen und Lösungsansätzen lässt sich nachhaltig eine positive und proaktive Sicherheitskultur aufbauen, in der nicht mehr nach „Schuldigen für den Einzelfall“ gesucht wird, sondern in der systematische Verbesserungen und Lösungen zur Vermeidung von kritischen Ereignissen in der Medizin im Vordergrund stehen und verbreitet werden. Auf diese Weise wird das Incident Reporting System auch zu einem wichtigen Lernsystem. Das Wissen über „Fehler“ und ihre Ursachen könnte weiter verbessert werden. Und bei einem Zwischenfall stünde nicht mehr die Frage im Vordergrund „Wer war das?“, sondern „Warum ist das passiert?“ und „Wie können wir einen solchen Fall in Zukunft systematisch verhindern?“.

Die Erkenntnisse über systematische Verbesserungen aus der Auswertung einzelner realer Fälle können die Konzepte der praktischen Aus- und Weiterbildung positiv beeinflussen und stimulieren: So können relevante Fälle zum Beispiel im Simulatortraining anhand realitätsnaher Szenarien erlebt und ihr Management systematisch eingeübt werden.

Gerade auch in der Verbreitung von Zwischenfällen bei der Verabreichung von Arzneimitteln liegt eine besondere Bedeutung von Incident Reporting Systemen. Über internetbasierte Systeme lassen sich beispielsweise Komplikationen in speziellen Rubriken zusammenfassen und gliedern, so dass ein zügiger und umfassender Einblick in Ereignisse im Zusammenhang mit Medikamenten möglich wird. Zusätzlich könnten bestehende Meldesysteme über unerwünschte Wirkungen von Arzneimitteln durch konkrete Fallschilderungen sinnvoll ergänzt werden.

Künftig werden wir in der „Arzneimitteltherapie“ regelmäßig eine Auswahl der in PaSIS und PaSOS eingegangenen Fallberichte veröffentlichen, die insbesondere für diesen interdisziplinären Leserkreis von Interesse sind. Das Ziel dieser Zusammenarbeit mit dem Tübinger Patientensicherheits- und Simulationszentrum TÜPASS ist es, einen weiteren Beitrag zur Erhöhung der Patientensicherheit zu leisten, indem Fachpersonen im Gesundheitswesen anhand konkreter Fallschilderungen kontinuierlich für unerwünschte Wirkungen von Arzneimitteln sensibilisiert und zur konstruktiven Ursachenforschung und dem Erarbeiten systematischer Verbesserungsmöglichkeiten ermuntert und herausgefordert werden.

Literatur

Im Internet unter www.arzneimitteltherapie.de > Inhalt > 2007 > Heft 6

Literatur

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