Evidence b(i)ased Medicine


Jürgen Schölmerich, Regensburg

Zahlreiche Arbeiten zeigen, dass in der Medizin wie bei allen menschlichen Aktivitäten Fehler gemacht werden. Das Ausmaß ist dabei abhängig von den handelnden Personen. Dies kann beispielsweise anhand der weiten Variation der Ergebnisse der operativen Therapie des Kolonkarzinoms in verschiedenen Kliniken, aber auch durch verschiedene Chirurgen in der gleichen Klinik eindrucksvoll dargestellt werden. Medizinisches Handeln basiert auf wissenschaftlicher Erkenntnis und persönlicher Erfahrung und Übung im Sinne eines Kunsthandwerks. Wissenschaft ist dabei eine notwendige, aber nicht hinreichende Basis für die tägliche Arbeit, Erfahrung ist notwendig, aber nur begrenzt verlässlich. Neben unvermeidbaren Fehlern infolge limitierter Möglichkeiten und Fehlern infolge menschlichen Versagens sind die anderen Fehler, wie mangelhafte Kenntnis vorhandener Möglichkeiten und fehlende Erfahrung bezüglich der Anwendung gesicherter Konzepte in Einzelfällen, vermeidbar. Um dies zu erreichen, wurde das Konzept der evidenzbasierten Medizin (EBM) entwickelt, dessen Erwähnung in der medizinischen und der freien Presse fast exponentiell zunimmt.

Evidenzbasierte Medizin ist nach D. L. Sackett als der gewissenhafte und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der Versorgung individueller Patienten definiert. Somit ist ganz offensichtlich die Leistungsfähigkeit dieses Konzepts abhängig von der Verfügbarkeit von Evidenz. Für Proponenten dieses Konzepts ist das „kontrollierte Auftreten intendierter Effekte diagnostischer, präventiver, kurativer, rehabilitativer, prognostischer oder qualitätssichernder Maßnahmen das einzig akzeptable Kriterium“. Diese Interpretation geht allerdings weit über die oben genannte initiale Definition von D. L. Sackett hinaus. Zudem ist ein entscheidendes Problem die Graduierung der Evidenz durch Experten, deren Einordnung als solche nicht „evidenzbasiert“ ist.

Kontrollierte, randomisierte Studien zur Wirkung von Medikamenten oder medizintechnischen Therapiemaßnahmen werden heutzutage praktisch nur von der durchaus legitimerweise (hauptsächlich) am ökonomischen Ergebnis interessierten pharmazeutischen oder medizintechnischen Industrie initiiert und durchgeführt. Alle Maßnahmen, deren breite Anwendung nicht ökonomisch interessant erscheint, werden daher nach aller Erwartung nicht mit hohen Evidenzgraden ausgestattet sein können. Dies gilt selbstverständlich auch für bereits seit langer Zeit angewandte erfolgreiche Therapiekonzepte, die allerdings in früheren Jahren nicht nach den heutigen rigiden Konzepten validiert wurden, aber von allen Beteiligten als unstrittig angesehen werden. Diese Ansätze, beispielsweise die Gabe von Schmerzmitteln bei Schmerzen, die Gabe von Laxanzien bei älteren bettlägerigen Patienten, die im Krankenhaus eine Obstipation entwickeln, und vieles andere mehr können sich auch in Zukunft nicht auf Evidenz im Sinne der evidenzbasierten Medizin stützen.

Dies ist von Bedeutung, da die Konsequenzen der evidenzbasierten Medizin vielfältig sind. Ganz unabhängig von juristischen und ökonomischen Implikationen ergibt sich eine Vielzahl von sogenannten Leitlinien, die interessanterweise häufig verschiedene Lösungen für das gleiche Problem je nach Zusammensetzung der entsprechenden Konsensuskonferenz ergeben. Diese Leitlinien nehmen allerdings für sich in Anspruch, auf der „besten verfügbaren Evidenz“ zu basieren. Dies verdeutlicht erneut das Problem der Definition der Qualität der Evidenz. Ein interessantes Beispiel ist eine Konsensusleitlinie der National Institutes of Health, die Patienten mit länger andauernden schweren Kopfschmerzen eine Computertomographie (CT) empfahl. Eine Untersuchung in Allgemeinpraxen zeigte, dass die Kriterien für die Definition bei 46 % der Patienten mit Kopfschmerzen erfüllt waren, allerdings nur 3 % eine CT erhalten hatten. Interessanterweise war das klinische Ergebnis bei denjenigen mit und ohne Einsatz dieses diagnostischen Verfahrens nicht unterschiedlich.

Es ist ganz evident, dass die „beste verfügbare Evidenz“ nicht notwendigerweise in die beste Anwendung am individuellen Patienten überführt werden kann. Evidenzbasierte Medizin ist aus den verschiedenen genannten Gründen derzeit ganz offensichtlich nicht in der Lage, eine suffiziente Basis für den täglichen Umgang mit Patienten bereit zu stellen. Die existierende Evidenz ist zu beschränkt in ihrem Fokus, um die allgemeinen Algorithmen, die notwendig sind, um ein Spektrum von Krankheitsphänotypen innerhalb einer Krankheit zu behandeln, abzudecken. Die Algorithmen werden durch die klinischen Studien, die im Wesentlichen zur Zulassung von einzelnen Substanzen führen sollen, nicht analysiert, somit fehlen tatsächlich zuverlässige Empfehlungen.

Solange nicht Therapiekonzepte anstatt einzelner Substanzen oder Produkte auch bezüglich ihrer längerfristigen Wirkung breit getestet werden, wird evidenzbasierte Medizin in ihrer Bedeutung begrenzt bleiben, da sie einem Bias zugunsten einzelner, ökonomisch interessanter Ansätze unterliegt. Zudem muss gewiss geklärt werden, wie die Evidenz der Gewichtung der Evidenz von Studien und Daten gesichert wird. Die Lektüre von mehreren Metaanalysen zum gleichen Thema macht deutlich, dass auch hier die Evidenzbasierung durchaus noch optimierungsbedürftig ist.

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