Leben um jeden Preis?


Dr. med. Peter Stiefelhagen

Viele Menschen beschäftigt die Frage, ob ein Leben um jeden Preis, wie viel Medizin am Lebensende sinnvoll ist. Angesichts der gewaltigen Fortschritte der modernen Medizin fürchten sie ein Scheinleben, wie es der deutsche Schriftsteller Hermann Kester (1900–1996) einmal beschrieben hat: „ Die Fortschritte der Medizin sind ungeheuer. Man ist sich seines Todes nicht mehr sicher.“

Sehr interessant sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse der ETHICATT-Studie [Intens Care Med 2007;33:104–10], in der die persönlichen Vorstellungen von Ärzten, Pflegepersonal, Patienten nach Intensivtherapie und Angehörigen von überlebenden und verstorbenen Intensivpatienten aus sechs Ländern analysiert wurden. Überraschenderweise spielte die Lebensqualität für Ärzte und Pflegepersonal in der Selbsteinschätzung eine sehr viel größere Rolle als die Lebenszeit im Vergleich zu Patienten und Angehörigen. Während für 88 % der Ärzte und 87 % des Pflegepersonals die Lebensqualität wichtiger war als der Wert des Lebens selbst, war dies bei Patienten nur in 51 % und bei Angehörigen nur in 63 % der Fall. Doch wenn Ärzte und Pflegepersonal ihre Einschätzung in Bezug auf den Patienten vornahmen, wurde der Wert des Lebens für den Patienten mit 69 % bzw. 65 % deutlich höher bewertet als bei der Selbsteinschätzung. Ähnlich sind die Ergebnisse zu einer aktiven Lebensverlängerung mit allen zur Verfügung stehenden Maßnahmen: Nur 6 % der Ärzte und 9 % des Pflegepersonals, aber 40 % der Patienten und 32 % der Angehörigen wünschten eine maximale Behandlung. Auch lehnten Ärzte und Pflegepersonal im Falle einer terminalen Erkrankung eine Aufnahme auf die Intensivstation oder eine Reanimation oder Beatmungstherapie deutlich häufiger ab als Patienten und Angehörige. Während nur etwa 20 % der Ärzte und des Pflegepersonals eine intensivmedizinische Behandlung bei einer terminalen Erkrankung wünschten, war dies bei Patienten in 62 % und bei Angehörigen in 55 % der Fall. Insgesamt korrelierte bei allen Befragten der Wunsch nach lebensverlängernden Maßnahmen mit der Überlebensprognose, 96 % wünschten eine Intensivtherapie, wenn sich daraus eine gute Lebensqualität für mindestens 12 Monate ergeben würde. Wenn eine Intensivtherapie jedoch nur für einen Monat die Lebensqualität verbessert, befürworteten nur noch 49 % eine solche Behandlung.

Die erheblichen Unterschiede in der Bewertung von Maßnahmen am Lebensende bei Ärzten und Pflegekräften auf der einen und Patienten und Angehörigen auf der anderen Seite sind schon überraschend. Bei der Interpretation der Daten ist allerdings auch zu bedenken, dass Ärzte und Pflegepersonal jünger und gesund waren, im Unterschied zu den befragten Postintensiv-Patienten. Vereinfachend könnte man schlussfolgern: Personen mit Insider-Kenntnissen schätzen die Möglichkeiten der modernen Intensivmedizin sehr viel kritischer ein als Laien. Dies wirft eine Reihe von Fragen auf: Sind die hohen Erwartungen an die moderne Intensivmedizin das Ergebnis unrealistischer Darstellungen in entsprechenden Medien? Werden die Möglichkeiten der Medizin als Folge entsprechender medialer Beeinflussung von Laien überschätzt? Werden die Grenzen der modernen Intensivmedizin auch von uns Ärzten zu wenig kommuniziert? Auch muss es nachdenklich stimmen, dass Patienten, die von der intensivmedizinischen Behandlung prognostisch profitieren, also überlebt haben (dies bedeutet natürlich eine positive Selektion), die intensivmedizinische Behandlung sehr viel positiver bewerten als die Agierenden. Müssen wir uns also von unseren persönlichen Einschätzungen und Bewertungen distanzieren, wenn es darum geht, die Wertvorstellungen des Patienten und seinen vermeintlichen Willen bezüglich einer intensivmedizinischen Behandlung zu eruieren?

Doch zeigt die Erhebung auch, dass die Angst vor dem eigenen Tod oder dem Verlust eines Angehörigen häufig dazu führt, an einem Leben „um jeden Preis“ festzuhalten, unabhängig von den damit einhergehenden Qualen. Gerade daraus ergibt sich für uns Ärzte die Verantwortung, schwerstkranke oder sterbende Patienten und Angehörige über die Prognose und die Grenzen einer intensivmedizinischen Behandlung objektiv zu informieren, und zwar im Sinne eines gut gemeinten milden Paternalismus.

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