Schwere Depressionen

Erhöhtes Suizidrisiko bei Venlafaxin-Therapie?


Veröffentlicht am: 28.11.2019

Bettina Martini, Memmingen

Eine retrospektive Kohortenstudie ergab signifikant mehr Suizide und Suizidversuche bei der Therapie mit Venlafaxin im Vergleich zu Citalopram, Fluoxetin oder Dosulepin. Allerdings wurden die schwerer depressiven Patienten mit Venlafaxin behandelt, so dass die Daten schwierig zu beurteilen sind.

Hintergrund

Für die Therapie mit Venlafaxin wird ein erhöhtes Risiko für Suizide im Vergleich zu anderen Antidepressiva diskutiert, das möglicherweise über den Wirkungsmechanismus erklärbar ist.

Venlafaxin (Trevilor®) hemmt wie trizyklische Antidepressiva die Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin, hat aber im Gegensatz zu den trizyklischen Antidepressiva keine Affinität zu adrenergen, cholinergen oder histaminergen Rezeptoren und wird als selektiver Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) bezeichnet. Im Gegensatz zu trizyklischen Antidepressiva (z. B. Amitriptylin, Doxepin) wirkt Venlafaxin daher nicht anticholinerg oder sedierend.

Auch die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI, z. B. Citalopram) unterscheiden sich durch fehlende anticholinerge oder sedierende Eigenschaften von trizyklischen Antidepressiva. Im Gegensatz zu Venlafaxin und trizyklischen Antidepressiva erhöhen diese nur die Serotonin-, nicht aber die Noradrenalin-Spiegel. Noradrenalin wirkt eher aktivierend und enthemmend. Insofern könnte der Wirkungsmechanismus von Venlafaxin eine erhöhte Bereitschaft zum Suizid erklären.

Nachdem sich in einer Beobachtungsstudie eine erhöhte Suizidrate unter Venlafaxin ergeben hatte, wurde in Großbritannien eine große Kohortenstudie durchgeführt.

Studiendesign

In einer retrospektiven Kohortenstudie wurden Daten von 219 088 erwachsenen Patienten in Großbritannien, die zwischen 1995 bis 2005 mit dem SNRI Venlafaxin oder einem SSRI (Citalopram, Fluoxetin oder Dosulepin) wegen Depressionen behandelt wurden, ausgewertet. Verglichen wurde die Häufigkeit von Suiziden und Suizidversuchen während der Therapie und bis 14 Tage nach Beendigung der Therapie.

Ergebnisse

Die Analyse gestaltete sich schwierig, weil die Patienten, die mit Venlafaxin therapiert wurden, sich in ihren Ausgangscharakteristika signifikant von den übrigen unterschieden. Aufgrund verschiedener Faktoren musste man sie bereits zu Behandlungsbeginn als stärker suizidgefährdet einstufen. So gab es in der Venlafaxin-Gruppe bereits vor der Therapie etwa doppelt so viele Suizidversuche, außerdem waren die Depressionen stärker ausgeprägt und ein hoher Anteil galt als schwierig zu therapieren.

Ohne dies zu berücksichtigen, ergaben sich im Vergleich zur Therapie mit verschiedenen SSRI für Venlafaxin signifikant erhöhte Suizidrisiken. Wurden die ermittelten Werte durch bereits bestehende Suizidrisikofaktoren bereinigt, war das Risiko nicht mehr in dem selben Maße erhöht. Für erfolgte Suizidfälle blieb zwar ein Trend für ein erhöhtes Risiko unter Venlafaxin, aber kein signifikanter Unterschied mehr, für Suizidversuche war das Risiko weiterhin signifikant erhöht (Tab. 1).

Diskussion

Die Ergebnisse sind schwierig zu interpretieren. Offensichtlich wurden in dieser Kohorte insbesondere die schwer an Depressionen erkrankten Patienten mit Venlafaxin behandelt. Ob diese Selektion das beobachtete erhöhte Suizidrisiko unter Venlafaxin allein erklären kann, oder ob eine zusätzliche Risikoerhöhung durch den SNRI besteht, kann nicht abschließend beurteilt werden.

Quellen

Rubino A, et al. Risk of suicide during treatment with venlafaxine, citalopram, fluoxetine, and dothiepin: retrospective cohort study. BMJ 2007;334:242–5.

Cipriani A. Venlafaxine for major depression: More evidence that risks outweigh benefits for most patients? BMJ 2007;334:215–6.

Tab. 1. Hazard-Ratio für Suizid und Suizid-Versuche bei Therapie mit Venlafaxin oder SSRI bereinigt und unbereinigt

Hazard-Ratio unbereinigt
(95%-Konfidenzintervall)

Hazard-Ratio bereinigt
(95%-Konfidenzintervall)

Erfolgter Suizid

Venlafaxin vs. Citalopram

2,44 (1,12–5,31)

1,70 (0,76–3,80)

Venlafaxin vs. Fluoxetin

2,85 (1,37–5,94)

1,63 (0,74–3,59)

Venlafaxin vs. Dothiepin

2,54 (1,07–6,02)

1,31 (0,53–3,25)

Suizidversuche

Venlafaxin vs. Citalopram

1,49 (1,34–1,66)

1,20 (1,07–1,34)

Venlafaxin vs. Fluoxetin

1,68 (1,52–1,86)

1,28 (1,15–1,42)

Venlafaxin vs. Dothiepin

2,41 (2,11–2,74)

1,47 (1,29–1,68)

Arzneimitteltherapie 2007; 25(09)